[Ohne Titel]
RA Prof. Dr. Peter Bilsdorfer
Im Jahr 2020 haben die Finanzgerichte insgesamt 2003 Fälle durch Gerichtsbescheid (§ 90a FGO) erledigt (https://www.destatis.de/DE/Themen/Staat/Justiz-Rechtspflege/Publikationen/Downloads-Gerichte/finanzgerichte-2100250207004.pdf?__blob=publicationFile. Tz. 2), davon etliche im Sinne der Kläger. Gerade auch die Möglichkeit, in einer solchen – ohne mündliche Verhandlung ergehenden – Entscheidung sogar die Revision zuzulassen (§ 90a Abs. 2 Satz 2 FGO), hat die Attraktivität dieser Entscheidungsmodalität wachsen lassen. Hierzu trägt gewiss auch bei, dass der Gerichtsbescheid so lange als Urteil gilt, wie kein Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt wird (§ 90a Abs. 2 FGO).
Der letztgenannte Punkt wirft die Frage auf, ob dies auch kostenrechtlich so zu sehen ist.
I. Alte und neue Rechtslage
1. Fiktive Terminsgebühr
Terminsgebühr bei Verfahren vor dem FG: Nach der Vorbemerkung 3.2.1 Nr. 1 zu Teil 3 Abschnitt 2 Unterabschnitt 1, Nr. 3202 RVG-VV entsteht in Verfahren vor dem Finanzgericht eine Terminsgebühr i.H.v. 1,2 Gebühren.
Terminsgebühr bei Verfahren ohne mündliche Verhandlung im Einverständnis mit den Parteien oder Beteiligten: Darüber hinaus bestimmt Abs. 1 der Anmerkung zu Nr. 3202 RVG-VV, dass die Terminsgebühr in entsprechender Anwendung der Abs. 1 Nr. 1 der Anmerkung zu Nr. 3104 RVG-VV zur Entstehung gelangt. Hiernach entsteht eine Terminsgebühr auch in einem Verfahren, für das eine mündliche Verhandlung vorgeschrieben ist, wenn im Einverständnis mit den Parteien oder Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden oder in einem solchen Verfahren mit oder ohne Mitwirkung des Gerichts ein Vertrag i.S.d. Nr. 1000 geschlossen wird oder eine Erledigung der Rechtssache i.S.d. Nr. 1002 eingetreten ist (die Regelungen insgesamt sind äußerst unübersichtlich).
Terminsgebühr bei Verfahren ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid: Ebenso ist eine Terminsgebühr in den Fällen vorgesehen, in denen das Gericht nach § 79a Abs. 2 FGO, § 90a FGO oder § 94a FGO ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheidet (Abs. 2 der Anmerkung zu Nr. 3202 RVG-VV).
Fiktive Terminsgebühr: Hierin liegt jeweils eine andere Bestimmung i.S.d. Abs. 3 S. 1 a.E. der Vorbemerkung 3 zu Teil 3 RVG-VV, die zur Entstehung der Terminsgebühr unabhängig von den dort genannten Voraussetzungen führt (dazu FG Münster v. 30.3.2022 – 15 Ko 158/22, EFG 2022, 871; s. auch Weitze-Scholl, DStR 2022, 1632). Man spricht hier von einer "fiktiven Terminsgebühr" (VG Bremen v. 30.6.2022 – 3 E 807/22, JurBüro 2022, 415).
2. Streit um die fiktive Terminsgebühr nach Gerichtsbescheid
a) Unterschiedliche Auffassungen innerhalb der Kammern des VG Bremen
Trotz der aus der Sicht des Verfassers klaren und eindeutigen Formulierung ist an dieser Stelle ein heftiger Streit entbrannt. So "duellieren" sich beim Verwaltungsgericht Bremen Richter unterschiedlicher Kammern in dieser Frage.
b) Ansicht der 1. Kammer
Ein Richter der 1. Kammer vertritt die Auffassung, es entstehe keine fiktive Terminsgebühr nach Gerichtsbescheid, durch den die vertretene Partei voll obsiegt hat (VG Bremen v. 25.3.2022 – 1 E 192/22, juris).
c) Ansicht der 3. Kammer
Nur wenige Wochen später meldete sich ein Richter der 3. Kammer mit der genau gegenteiligen Auffassung – und den besseren Argumenten zu Wort (VG Bremen v. 30.6.2022 – 3 E 807/22, JurBüro 2022, 415).
Die Formulierung von Ziff. 3104 RVG-VV setze nämlich nur voraus, dass "eine mündliche Verhandlung beantragt werden kann", folglich der Antrag auf mündliche Verhandlung statthaft sein muss. Auf die Zulässigkeit des Antrags im Übrigen stellt die Formulierung hingegen nicht ausdrücklich ab. Auch Vorgaben dazu, welcher Beteiligte den Antrag auf mündliche Verhandlung stellen kann, sind dem Wortlaut der Vorschrift nicht zu entnehmen (VG Bremen v. 30.6.2022 – 3 E 807/22, JurBüro 2022, 415). Die fiktive Terminsgebühr diene ausweislich der Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 17/11471, 275) dazu, mündliche Verhandlungen, die andernfalls womöglich ausschließlich im Gebühreninteresse erfolgen würden, zu vermeiden und so die Gerichte zu entlasten ("Steuerungswirkung"). Die Entstehung der fiktiven Terminsgebühr solle daher auf die Fälle beschränkt werden, in denen der Anwalt oder die Anwältin durch sein bzw. ihr Verhalten eine mündliche Verhandlung erzwingen kann.
Eine mündliche Verhandlung könne aber auch durch die Partei erzwungen werden, die im Gerichtsbescheid vollständig obsiegt hat. Auch ein mangels Rechtsschutzbedürfnis unzulässiger Antrag auf mündliche Verhandlung könne nicht analog §§ 125 Abs. 2, 144 Abs. 1 VwGO durch Beschluss verworfen werden, sondern mache eine mündliche Verhandlung erforderlich (dazu VG Stuttgart v. 28.10.2021 – A – 5 K 2984/21, juris). Insoweit sei auch bei einem unzulässigen Antrag auf mündliche Verhandlung die "Steuerungswirkung" der fiktiven Terminsgebühr erforderlich, um zu verhindern, dass eine mündliche Verhandlung nur beantragt wird, um höhere Anwaltsgebühren zu erhalten. Dem steht auch § 155 Abs. 4 VwGO nicht entgegen. Danach können Kosten, die durch Versch...