Entscheidungsstichwort (Thema)
Deutsche Gerichtsbarkeit bei Sitz der Beklagten in einem anderen EU-Mitgliedsstaat. Wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB. Schuldhafte Verletzung vertraglicher Nebenpflichten (§ 241 Abs. 2 BGB). Ausstrecken des Mittelfingers als unangemessenes Verhalten. Erforderlichkeit einer Abmahnung vor Ausspruch einer fristlosen Kündigung. Anforderungen an die Bestimmtheit einer Kündigungserklärung
Leitsatz (amtlich)
1. Die fotografisch festgehaltene Geste eines Flugzeugkapitäns, der am Ende des letzten regulären Flugeinsatzes an der von seinem Arbeitgeber geschlossenen Station nach Landung und Räumung des Flugzeugs mit seiner Crew gemeinsam den ausgestreckten Mittelfinger in Richtung Kamera hält, kann einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung begründen, wenn diese Geste nachweislich gegen den Arbeitgeber gerichtet und damit beleidigend gemeint ist.
2. Ist die Geste hingegen unwiderlegt als ein symbolisches Ausstrecken des Mittelfingers in Richtung "Corona" als dem Grund für die Schließung der Flugzeugbasis und damit den Verlust der Arbeitsplätze gemeint, begründet das damit lediglich noch vorliegende unangemessene Verhalten keine außerordentliche Kündigung. Das gilt erst recht dann, wenn sich in der Firmenzentrale bekanntermaßen ein großes Wand-Bild mit einer beide Mittelfinger ausstreckenden Seniorin als Kunstobjekt befindet und mithin der Arbeitgeber selbst gegenüber derlei Gesten ein entspanntes Verhältnis pflegt.
3. Die Verletzung der Maskenpflicht bei einer solchen, spontanen und kurzzeitigen sowie nicht generell gegen COVID-Hygienevorschriften gerichteten Aktion rechtfertigt ohne vorangegangene einschlägige Abmahnung keinerlei Kündigung.
4. Zur Auslegung und Bestimmtheit einer Kündigungserklärung, in welcher die Arbeitgeberin "unter Beachtung der für Ihr Arbeitsverhältnis geltenden Kündigungsfrist ordentlich und fristgerecht zum nächstmöglichen Zeitpunkt" kündigt, im nächsten Satz aber eingeleitet mit der Wendung "nach unserer Berechnung" einen späteren als den nach der anwendbaren Kündigungsfrist sich ergebenden Kündigungstermin nennt.
Leitsatz (redaktionell)
1. Hat die Beklagte ihren Sitz in einem anderen EU-Mitgliedsstaat und handelt es sich um eine zivilrechtliche Streitigkeit, folgt die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte aus Art. 20 Abs. 1, Art. 21 Abs. 1 Buchst. b) und Art. 66 Abs. 1 EUGVVO.
2. Bei einer fristlosen Kündigung ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände "an sich", d.h. typischerweise, als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der Umstände des Falles jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist oder nicht.
3. Nach § 241 Abs. 2 BGB ist jede Partei des Arbeitsvertrags zur Rücksichtnahme auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen ihres Vertragspartners verpflichtet. Diese Regelung dient dem Schutz und der Förderung des Vertragszwecks. Der Arbeitnehmer hat seine Arbeitspflichten so zu erfüllen und die im Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis stehenden Interessen des Arbeitgebers so zu wahren, wie dies von ihm unter Berücksichtigung seiner Stellung und Tätigkeit im Betrieb und seiner eigenen Interessen erwartet werden kann. Eine in diesem Sinne erhebliche Pflichtverletzung stellen u.a. grobe Beleidigungen des Arbeitgebers oder seiner Vertreter und Repräsentanten oder von Arbeitskollegen dar.
4. Lassen sich der Kündigungserklärung nach gehöriger Auslegung mehrere Termine für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses entnehmen, ohne dass für den Kläger als Erklärungsempfänger erkennbar war, welcher Termin gelten sollte, stellt dies einen Mangel in der Bestimmtheit dar und führt damit zur Unwirksamkeit der Kündigung.
Normenkette
BGB § 626 Abs. 1; KSchG § 4; ROM-I-VO Art. 3 Abs. 1, Art. 8 Abs. 1; EuGVVO Art. 1 Abs. 1 S. 1, Art. 20, 21 Abs. 1 Buchst. b), Art. 66 Abs. 1; BGB § 241 Abs. 2, § 622 Abs. 1, 2 Nr. 1
Verfahrensgang
ArbG Düsseldorf (Entscheidung vom 11.03.2021; Aktenzeichen 10 Ca 5972/20) |
ArbG Düsseldorf (Entscheidung vom 15.03.2021; Aktenzeichen 6 Ca 5965/20) |
Tenor
I.
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf vom 11.03.2021 - 10 Ca 5972/20 - teilweise abgeändert und festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen dem Kläger und der Beklagten zu 1) nicht durch die ordentliche Kündigung der Beklagten zu 1) vom 10.09.2020 aufgelöst worden ist.
II.
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf vom 15.03.2021 - 6 Ca 5965/20 - abgeändert und festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen dem Kläger und der Beklagten zu 2) nicht durch die ordentliche Kündigung der Beklagten zu 2) vom 10.09.2020 aufgelöst worden ist.
III.
Die Anschlussberufungen beider Beklagten werden zurückgewiesen.
IV.
Die Beklagten tragen die Kosten des Berufungsverfahrens zu je 1/2.
Die Kosten des Rechtsstreits in erster Instanz zu dem Aktenzeichen 10 Ca 5972/20 des Arbeit...