Rn. 471
Stand: EL 176 – ET: 10/2024
Nach § 32 Abs 4 S 1 Nr 3 EStG werden Kinder nach der Vollendung des 18. Lebensjahres zeitlich unbegrenzt berücksichtigt, wenn sie wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande sind, sich selbst zu unterhalten; weitere Voraussetzung ist, dass die Behinderung vor der Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist, BFH v 02.06.2005, III R 86/03, BStBl II 2005, 756; BFH v 28.05.2013, XI R 44/11, BFH/NV 2013, 1409; Dürr, BFH-PR 2005, 439; BMF v 22.11.2010, BStBl I 2010, 1346; R 32.9 S 3 EStR 2012.
Das Datum eines erst nach Vollendung des 25. Lebensjahrs ausgestellten Schwerbehindertenausweises ist kein zwingender Beleg dafür, dass die Behinderung erst ab diesem Zeitpunkt vorgelegen hat, FG Saarland v 23.10.2013, 2 K 1154/13, EFG 2014, 659; der Nachweis; dass die Behinderung früher eingetreten ist, kann aus sämtlichen Erkenntnisquellen (zB Arztbrief, Bericht einer Klinik, ärztliches Gutachten) gewonnen werden, BFH v 19.01.2017, III R 44/14, BFH/NV 2017, 735). Eine drohende Behinderung erfüllt nicht die Voraussetzungen des § 32 Abs 4 S 1 Nr 3 EStG, BFH v 27.11.2019, III R 44/17, BStBl II 2020, 558.
Liegt bei einem Kind ein Gendefekt vor, muss dieser somit vor Erreichen der Altersgrenze des § 32 Abs 4 S 1 Nr 3 Hs 2 EStG zu einer mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauernden Funktionsstörung und/oder zu einer darauf beruhenden Teilhabebeeinträchtigung geführt haben. Die Unfähigkeit, sich selbst zu unterhalten, kann hingegen erst nach dem 25. Lebensjahr eingetreten sein, BFH v 09.06.2011, III R 61/08, BStBl II 2012, 141; R 32.9 S 3 EStR 2012.
Im Zusammenhang mit der Verkürzung der Bezugsdauer von 27 auf 25 Jahre ist die Übergangsregelung in § 52 Abs 40 S 8 EStG aF geschaffen worden. Danach gilt die bisherige Altersgrenze von 27 Jahren für diejenigen Kinder weiter, bei denen die Behinderung vor dem 01.01.2007 eingetreten ist. Ist die Behinderung nach dem 31.12.2006 eingetreten, gilt die Altersgrenze von 25 Jahren. Nach der Übergangsregelung des § 52 Abs 40 S 5 EStG aF sind auch Kinder, die vor dem 01.01.2007 in der Zeit ab ihrem 25. Geburtstag und vor ihrem 27. Geburtstag eine Behinderung erlitten haben, deretwegen sie außerstande sind, sich selbst zu unterhalten, bei Vorliegen der materiell-rechtlichen Voraussetzungen zu berücksichtigen; die Regelung ist verfassungsgemäß, BFH v 17.06.2010, III R 35/09, BStBl II 2011, 176 (Verfassungsbeschwerde 2 BvR 2875/10 nicht zur Entscheidung angenommen).
Rn. 472
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Die Altersgrenze von 25 (früher 27 Jahren) verlängert sich nicht nach Maßgabe des § 32 Abs 5 EStG, so auch nicht durch einen abgeleisteten Wehrdienst, BFH v 02.06.2005, III R 86/03, BStBl II 2005, 756; H 32.9 EStH 2022 "Altersgrenze".
Rn. 473
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Ob eine "Behinderung" iSd § 32 Abs 4 S 1 Nr 3 EStG vorliegt, beurteilt sich nach der in § 2 Abs 1 S 1 SGB IX enthaltene Legaldefinition. Maßgebend ist dabei die Fassung des § 2 Abs 1 S 1 SGB IX, die in dem jeweiligen Zeitraum gilt, für den ein Kinderfreibetrag geltend gemacht wird, BFH v 27.11.2019, III R 44/17, BStBl II 2000, 558.
Nach § 2 Abs 1 S 1 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung ist ein Mensch dann ein Mensch mit Behinderung, wenn er körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen hat, die ihn in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach § 2 Abs 1 S 1 SGB IX liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht, § 2 Abs 1 S 2 SGB IX.
Rn. 473a
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Der Behinderungsbegriff des § 2 Abs 1 SGB IX idF bis 31.12.2017 setzte eine für das Lebensalter untypische gesundheitliche Situation voraus, die mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauert und kausal zu einer Teilhabebeeinträchtigung führt, BFH v 21.10.2015, XI R 17/14, BFH/NV 2016, 190; BFH v 19.01.2017, III R 44/14, BFH/NV 2017, 735; ausführlich dazu BFH v 27.11.2019, III R 44/17, BStBl II 2020, 588, sodass eine solche Behinderung nicht bereits dann vorliegt, wenn ein medizinisches Gutachten eine Behinderung für einen Zeitraum von zwölf bzw acht Tagen bescheinigt; entscheidend für eine mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate sich erstreckende Gesundheitsstörung ist nicht die seit Beginn der Erkrankung tatsächlich abgelaufene Zeit, sondern die zu erwartende Dauer der von ihr ausgehenden Funktionsbeeinträchtigung, BFH v 18.06.2015, VI B 31/14, BStBl II 2016, 40; BFH v 19.01.2017, III R 44/14, BFH/NV 2017, 735. Es kann sich dabei
- um angeborene Behinderungen handeln (zB seelische Behinderungen, vgl BFH v 18.06.2015, VI R 31/14, BStBl II 2016, 40),
- aber auch um solche, die sich das Kind später zugezogen hat, zB Suchtkrankheiten, BFH v 16.04.2002, VIII R 62/99, BStBl II 2002, 738,
- oder durch einen Arbeitsunfall, BFH ...