Die Auslegung des Begriffs der "wesentlichen Verlängerung" der Restnutzungsdauer durch die obersten Finanzbehörden der Länder ist nicht überzeugend und nicht nachvollziehbar. Die Auslegung des Begriffs der "wesentlichen Verlängerung" durch die obersten Finanzbehörden der Länder zielt u.E. ausschließlich auf ein einfaches und händelbares Verwaltungsverfahren ab. Das Ziel der Verwaltung ist im Prinzip nachvollziehbar und auch begrüßenswert, findet u.E. jedoch gegenwärtig keine Grundlage im BewG. Zudem führt es zu (verfassungsmäßig) unsachgemäßen Bewertungsergebnissen, da die Ermittlung der Restnutzungsdauer ein wesentliches Kernelement zur Abbildung des gemeinen Werts darstellt (s. Beispiel "Mehrfamilienhaus").
Die obersten Finanzbehörden der Länder nehmen etwa bei einem zehn Jahre alten und bereits überwiegend modernisierten Gebäude mit einer Gesamtnutzungsdauer von 80 Jahren eine wesentliche Verlängerung der Restnutzungsdauer an, obwohl die "Verlängerung" null Jahre bzw. 0 % beträgt (s. hierzu Tabelle oben VI. 1.). Für ein 40 Jahre altes Gebäude soll eine Verlängerung erst wesentlich sein, wenn sie mindestens 13 Jahre bzw. 32,5 % beträgt. Im Falle unseres 54 Jahre alten Mehrfamilienhauses wiederum soll eine Verlängerung der Restnutzungsdauer von 26 auf 43 Jahren (+ rd. 65 %) nicht wesentlich sein. Das ist u.E. unplausibel.
a) Gesetzgebungsmaterialien vs. AEBew JStG 2022
Die aus der Finanzverwaltung stammenden Gesetzgebungsmaterialien zum JStG 2022 sahen einen wesentlich engeren und modellkonformeren Bezug zur ImmoWertV vor. Nach den Gesetzgebungsmaterialien kann sich die Restnutzungsdauer eines Gebäudes insb. durch Modernisierungen wesentlich verlängern, die i.S.d. Modells der Anlage 2 ImmoWertV zu einem überwiegenden oder umfassenden Modernisierungsgrad führen (BT-Drucks. 20/3879, 117). Die AEBew JStG 2022 haben mit den Gesetzgebungsmaterialien und der Anlage 2 ImmoWertV nicht mehr viel gemein (a.A. Mannek in v. Oertzen/Loose/Stalleiken, ErbStG, 3. Aufl. 2024, § 185 BewG Rz. 57: "entspricht grundsätzlich den bei der Verkehrswertermittlung geltenden Grundsätzen"):
- Nach den Gesetzgebungsmaterialien kann eine wesentliche Verlängerung der Restnutzungsdauer auch vorliegen, wenn keine überwiegende oder umfassende Modernisierung i.S.d. Anlage 2 ImmoWertV vorliegt ("insbesondere"). So kann etwa auch für "unser" Mehrfamilienhaus eine wesentliche Verlängerung der Restnutzungsdauer angenommen werden. Nach den AEBew JStG 2022 ergibt sich eine wesentliche Verlängerung der Restnutzungsdauer nur bei einer überwiegenden oder umfassenden Modernisierung nach dem Punktesystem der obersten Finanzbehörden.
- Anders als Anlage 2 ImmoWertV stellen die AEBew JStG 2022 nicht auf Maßnahmen in den letzten 20 Jahren vor dem Bewertungsstichtag ab, sondern nur auf die letzten 10 Jahre.
- Nach den AEBew JStG 2022 werden Modernisierungspunkte nur für durchgreifende Modernisierungen vergeben. Nach Anlage 2 ImmoWertV sind Modernisierungspunkte jedoch auch für nicht modernisierte Bauelemente zu vergeben, die noch zeitgemäßen Ansprüchen genügen.
- Anders als die Anlage 2 ImmoWertV liegt nach den AEBew JStG 2022 eine überwiegende Modernisierung erst ab 14 Modernisierungspunkten und nicht ab 11 Modernisierungspunkten vor.
- Anders als die Anlage 2 ImmoWertV sehen die AEBew JStG 2022 vor, dass die Modernisierungspunkte für ein Modernisierungselement nur insgesamt oder gar nicht zu vergeben sind. Eine teilweise Punktevergabe ist ausgeschlossen.
b) Gemeiner Wert und Modellkonformität
Die Auslegung der obersten Finanzbehörden zielt nicht auf das verfassungsrechtlich vorgegebene und in § 177 Abs. 1 BewG verankerte Bewertungsziel, den gemeinen Wert (s. hierzu III. 1.), ab, wie es nach der Rspr. des BFH u.E. erforderlich wäre (BFH v. 24.8.2022 – II R 14/20, BStBl. II 2023, 693 Rz. 17 = ErbStB 2023, 29 [Marquardt]). Sie zielt auch nicht darauf ab, dass BewG weitgehend modellkonform zur ImmoWertV auszulegen und damit eine sachgerechte Verwendung der Grundstücksmarktdaten der Gutachterausschüsse i.R.d. Grundbesitzbewertung sicherzustellen, wie es nach § 177 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 BewG gewollt ist (s. hierzu III. 2.).
Die wesentliche Verlängerung einer Restnutzungsdauer setzt u.E. keine überwiegende oder umfassende Modernisierung voraus. Gleich, ob i.S.d. Anlage 2 ImmoWertV oder der Rz. 21 AEBew JStG 2022. Im Gesetzeswortlaut von § 185 Abs. 3 Satz 5 und § 190 Abs. 6 Satz 4 BewG hat sich – im Gegensatz zu den Gesetzgebungsmaterialien – nichts dergleichen niedergeschlagen. Der Wille der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten kann bei der Gesetzesinterpretation nur insoweit berücksichtigt werden, als er auch im Wortlaut Niederschlag gefunden hat. Die Gesetzgebungsmaterialien dürfen nicht dazu verleiten, die subjektiven Vorstellungen der gesetzgebenden Instanzen dem objektiven Gesetzesinhalt gleichzusetzen (jüngst: BFH v. 28.2.2024 – II R 27/21, DStR 2024, 1484 [Kugelmüller-Pugh] Rz. 37 m.w.N. = ErbStB 2024, 209 [Mühlenstädt]).
Bei einer verkehrswertorientierten und modellkonformen Auslegung ist die Verlängerung der Restnutzungsdauer u.E. spätestens dann we...