Rz. 36

Es muss sich um eine Änderung der Rspr. eines obersten Gerichtshofs des Bundes handeln (also i. d. R. des BFH). Der Tatbestand erfordert daher, dass ein oberster Gerichtshof des Bundes die Rspr. eines obersten Gerichtshofs des Bundes ändert. Das Gericht muss also eine Rechtsfrage in einem im Wesentlichen gleich gelagerten Fall anders entscheiden als in einer früheren Entscheidung. Es genügt die Abweichung von einer einzigen Entscheidung; die Änderung einer ständigen und gefestigten oder einer bereits einmal geänderten Rechtsprechung ist nicht erforderlich. Die Abweichung von der Rspr. eines anderen Gerichts genügt nicht, also etwa nicht die Abweichung des BFH von der Rspr. des RFH[1] oder die Abweichung des BFH von der Rspr. eines FG. Der umgekehrte Fall, die Abweichung der Rspr. des FG von der des BFH, ist kein Fall des § 176 AO, sondern der Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 1, 2 FGO.[2]

 

Rz. 37

Vertrauensschutz tritt nur ein, wenn die Rechtsprechung sich ändert, d. h. der BFH eine vorher zugunsten des Stpfl. entschiedene Rechtsfrage jetzt anders entscheidet. Kein Vertrauensschutz tritt ein, wenn die Rechtslage bisher unklar war und nun der BFH erstmals eine Entscheidung dieser Rechtsfrage trifft, und diese Entscheidung für den Stpfl. ungünstig ist.[3]

 

Rz. 38

Aus § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AO ergibt sich die Lösung einer bisher strittigen Frage, ob die Gerichte überhaupt berechtigt sind, eine verschärfende Rspr. auf in der Vergangenheit verwirklichte Sachverhalte anzuwenden. § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AO ist nur verständlich, wenn eine solche rückwirkende Anwendung der verschärfenden Rspr. als zulässig unterstellt wird. Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen hiergegen nicht. Die Rspr. setzt kein neues Recht, sodass das Verbot der rückwirkenden belastenden Rechtsänderung nicht eingreift. Die Rspr. findet nur das bisher schon bestehende Recht durch Interpretation. Eine Änderung der Rspr. ist daher nicht Setzen neuen Rechts, sondern nur bessere Erkenntnis des bisher schon bestehenden Rechtszustands.[4] Insbesondere sind die Grundsätze der rückwirkenden Gesetzesänderung nicht auf eine Änderung der Rspr. anwendbar.[5] Gesetzesänderungen sind von der Struktur her zukunftsorientiert, d. h. sie sollen die Rechtslage für die Zukunft neu gestalten. Rückwirkung ist ihnen daher wesensfremd und kann nur in Ausnahmefällen angenommen werden. Die Rspr. ist dagegen immer vergangenheitsorientiert; sie behandelt immer nur einen in der Vergangenheit verwirklichten Sachverhalt und ist unmittelbar nicht auf die Zukunft gerichtet. Eine Einschränkung oder ein Verbot von Rechtsprechungsänderungen wegen der Gefahr der Rückwirkung würde daher zu einer Versteinerung der Rspr. führen und letztlich eine Rspr. in weiten Bereichen nahezu überflüssig machen.

 

Rz. 39

Andererseits darf nicht übersehen werden, dass die Kontinuität und Verlässlichkeit in der Rechtsanwendung verfassungsrechtliche Relevanz haben. Dies führt aber nicht zu einem Verbot einer auf die Vergangenheit einwirkenden Rechtsprechungsänderung, sondern lediglich zu der Forderung, eine ständige Rspr. so weit wie möglich beizubehalten und sie nur zu ändern, wenn zwingende Gründe hierfür vorliegen.[6] Daneben besteht die Möglichkeit (die von der Finanzverwaltung häufig genutzt wird), bei einer Änderung der Rspr. durch Übergangsregelungen auf der Grundlage des § 163 AO die Wirkungen für die Vergangenheit zu mildern.[7] Dies ändert aber nichts daran, dass eine Änderung der Rspr. grundsätzlich für die Vergangenheit wirkt und Vertrauensschutz nur im Rahmen des § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AO, und damit sehr eingeschränkt, gewährt wird.

 

Rz. 40

§ 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AO stellt den Begriff der "Rechtsprechung" in den Mittelpunkt der Vorschrift. Daraus ergibt sich eine doppelte Komponente. Es muss eine "Rechtsprechung" mit einem für den Stpfl. günstigen Inhalt vorgelegen haben. Diese bisherige Rechtsprechung muss durch eine neue "Rechtsprechung" geändert worden sein. Voraussetzung des Vertrauensschutzes ist nur eine Änderung der Rspr. des BFH gegenüber der bisherigen Rechtsprechung. Nicht maßgebend ist, welche Rechtsansicht vorher in Literatur, Verwaltungsanweisungen oder FG-Rspr. vertreten worden ist und ob die Rechtsprechung des BFH hiervon abweicht.[8]

 

Rz. 41

Die schwierigste Frage im Zusammenhang mit § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AO stellt sich hinsichtlich des Begriffs der bisherigen und der neuen Rspr. Klarheit dürfte insoweit bestehen, als es sich nicht um eine "ständige" Rspr. handeln muss, es genügt eine einzelne Entscheidung (Urteil, Beschluss), von der das Gericht in einer späteren ebenfalls einzelnen Entscheidung abweicht. Die jeweilige Entscheidung muss ausdrücklich oder in anderer Weise eindeutig einen bestimmten Rechtssatz, die sog. Fallnorm, aufstellen, von der die andere Entscheidung ebenfalls ausdrücklich oder eindeutig abweicht.[9] Es muss sich jedoch um eine klare Entscheidung in einem Urteil oder Beschluss handeln. Kein Vertrauensschutz greift ein, solange eine eindeutige Rspr. noch...

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