Leitsatz
1. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit gemäß Art. 45 AEUV gebietet es, vom Ausschluss des Sonderausgabenabzugs gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 EStG auch dann abzusehen, wenn der Steuerpflichtige im ehemaligen Beschäftigungsstaat keine – wie von Buchst. a der Vorschrift vorausgesetzt – Einnahmen aus nichtselbständiger Tätigkeit erzielt, sondern eine vom Bestehen des Arbeitsverhältnisses abhängige gesetzliche Altersrente.
2. Für die Frage, ob der Beschäftigungsstaat nach § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 Buchst. c EStG"keinerlei" steuerliche Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen im Rahmen der Besteuerung dort bezogener Einnahmen zulässt, sind die einzelnen Sparten der Vorsorgeaufwendungen getrennt zu beurteilen.
Normenkette
§ 10 Abs. 1 Nr. 3 Satz 1 Buchst. b, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsätze 1 und 2 EStG, Art. 45 AEUV
Sachverhalt
Als vormals in Luxemburg tätiger Arbeitnehmer bezieht der im Inland wohnende Kläger von der dortigen nationalen Rentenversicherungskasse eine gesetzliche Altersrente, die im Streitjahr 2014 in Luxemburg dem Steuereinbehalt unterlag. Im Inland stellte das FA die Rente unter Progressionsvorbehalt steuerfrei. Dabei erkannte es die auf die luxemburgischen Altersbezüge entfallenden Beiträge zur Pflegeversicherung nicht als Sonderausgaben an, obwohl diese Beiträge in Luxemburg nicht zum Abzug zugelassen worden waren. Das FG gab der Klage statt (FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 15.1.2020, 1 K 2011/15, Haufe-Index 13857696, EFG 2020, 999).
Entscheidung
Die Revision des FA hatte keinen Erfolg.
Hinweis
In diesem Rechtsstreit wird die Neigung des deutschen Gesetzgebers erkennbar, EuGH-Urteile (zu) restriktiv umzusetzen.
1. Grundsätzlich ist der Abzug von Vorsorgeaufwendungen als Sonderausgaben nicht möglich, wenn diese in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang mit steuerfreien Einnahmen stehen. Hiervon wird jedoch aus unionsrechtlichen Gründen nach § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 EStG für Vorsorgeaufwendungen i.S.v. Abs. 1 Nr. 2, 3 und Nr. 3a EStG ungeachtet eines unmittelbaren wirtschaftlichen Zusammenhangs mit steuerfreien Einnahmen eine Ausnahme gemacht,
- soweit die Vorsorgeaufwendungen in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang mit in der EU, im EWR oder in der Schweiz erzielten Einnahmen aus nichtselbstständiger Tätigkeit stehen,
- diese Einnahmen nach einem DBA im Inland steuerfrei sind und
- der Beschäftigungsstaat keinerlei steuerliche Berücksichtigung der Vorsorgeaufwendungen im Rahmen der Besteuerung dieser Einnahmen zulässt.
2. Im Mittelpunkt dieses Urteils stand die Frage, ob diese Ausnahmeregelung nur für Arbeitnehmereinkünfte gilt oder ob sie auch auf die daraus resultierenden Renteneinkünfte, die ein Steuerpflichtiger aus seinem ehemaligen Tätigkeitsstaat bezieht, anwendbar ist.
3. Nach dem klaren Wortlaut des § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 Buchst. a EStG setzt die Ausnahme vom Ausschluss des Sonderausgabenabzugs voraus, dass diejenigen steuerfreien Einnahmen, die im Beschäftigungsstaat erzielt werden, solche aus "nichtselbständiger Tätigkeit" sind. Erkennbar knüpft der Gesetzgeber mit dieser Formulierung nur an die in § 19 EStG geregelten Einkünfte an. Eine wortlauterweiternde Einbeziehung anderer Einkünfte ist unter teleologischen Gesichtspunkten nicht möglich; zudem bietet die Gesetzesbegründung hierfür keine Anhaltspunkte. Auch scheidet eine unionsrechtskonforme Auslegung des § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 Buchst. a EStG aus, weil ein Gesetz nur nach dem in ihm zum Ausdruck kommenden objektivierten Willen des Gesetzgebers interpretiert werden darf.
4. Aus unionsrechtlichen Gründen muss die Ausnahme vom Ausschluss des Sonderausgabenabzugs aber auch dann Anwendung finden, wenn ein Steuerpflichtiger im Beschäftigungsstaat nach einem DBA steuerfrei gestellten Einnahmen aus einer dortigen gesetzlichen Rentenversicherung, die Ausfluss einer früheren Arbeitnehmertätigkeit im Beschäftigungsstaat sind, erzielt. Dies gebietet die Arbeitnehmerfreizügigkeit gemäß Art. 45 AEUV, die von den Gerichten als unmittelbar geltendes Recht zu beachten ist. Zwar erlischt die für Art. 45 AEUV erforderliche Arbeitnehmereigenschaft grundsätzlich mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses; allerdings kann sie nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses bestimmte Folgewirkungen haben. Demzufolge beeinträchtigt nach ständiger EuGH-Rechtsprechung der Umstand, dass eine Person nicht mehr in einem Arbeitsverhältnis steht, nicht die Garantie bestimmter mit der Arbeitnehmereigenschaft zusammenhängender Rechte. Dies gilt insbesondere auch für eine Altersrente, deren Gewährung in einem unauslöslichen Zusammenhang mit der objektiven Arbeitnehmereigenschaft steht.
5. Es entspricht ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung, im Fall der Kollision von Unionsrecht und nationalem Recht dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts dadurch Rechnung zu tragen, dass die einschlägige nationale Regelung normerhaltend in der Weise angewendet wird, dass das unionsrechtswidrige Tatbestandsmerkmal bei der Recht...