Leitsatz
1. Für die Frage, ob der Beschäftigungsstaat nach § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 Buchst. c EStG"keinerlei" steuerliche Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen im Rahmen der Besteuerung dort bezogener Einnahmen zulässt, sind die einzelnen Sparten der Vorsorgeaufwendungen getrennt zu beurteilen.
2. Vorsorgeaufwendungen, die bei einer grenzüberschreitenden Tätigkeit bereits der Beschäftigungsstaat im Rahmen der Besteuerung der dort erzielten und im Inland steuerfreien Einnahmen zum Abzug zulässt, sind im Rahmen der inländischen Besteuerung nicht nochmals als Sonderausgaben zu berücksichtigen.
Normenkette
§ 10 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. a und Nr. 3 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsätze 1 und 2 EStG, Art. 45 AEUV
Sachverhalt
Der Kläger war im Streitjahr 2016 als Arbeitnehmer in Luxemburg beschäftigt und dort sozialversicherungspflichtig. Er zahlte dort Beiträge zur Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung. Der Arbeitslohn des Klägers unterlag in Luxemburg dem LSt-Einbehalt. Dabei wurden die Beiträge zur Renten- und Krankenversicherung vollständig, diejenigen zur Pflegeversicherung überhaupt nicht steuerlich berücksichtigt. Im Inland stellte das FA den Arbeitslohn unter Progressionsvorbehalt steuerfrei. Die Beiträge zur luxemburgischen Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung erkannte es nicht als Sonderausgaben an, da die Aufwendungen in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang mit steuerfreien Einnahmen stünden. Das FG gab der Klage insoweit statt, als es die in Luxemburg geleisteten Beiträge zur Pflegeversicherung als Sonderausgaben gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 3 Satz 1 Buchst. b EStG anerkannte (FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 15.1.2020, 1 K 1904/19, Haufe-Index 13949236, EFG 2020, 1199). Gegen das Urteil wandten sich sowohl das FA als auch der Kläger, der meinte, die Anforderungen an die Ausnahme vom Sonderausgabenabzugsverbot gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 Buchst. c EStG verstießen gegen die unionsrechtlich garantierte Arbeitnehmerfreizügigkeit.
Entscheidung
Beide Revisionen hatten aus den unter den Praxis-Hinweisen dargestellten Gründen keinen Erfolg.
Hinweis
Die steuerliche Behandlung grenzüberschreitender Vorsorgeaufwendungen und die Umsetzung diesbezüglicher EuGH-Urteile in das nationale Recht bereiten seit Jahren Schwierigkeiten (siehe auch BFH, Urteil vom 27.10.2021, X R 11/20, BFH/PR 2022, 129), wie das folgende Besprechungsurteil zeigt.
1. § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 1 EStG schließt den Abzug von Vorsorgeaufwendungen aus, wenn diese in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang mit steuerfreien Einnahmen stehen. Hierdurch soll ein doppelter steuerlicher Vorteil vermieden werden.
2. Als Reaktion auf die Entscheidung des EuGH vom 22.6.2017, C-20/16, Bechtel, BStBl II 2017, 1271, hat der deutsche Gesetzgeber in § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 EStG allerdings eine Ausnahme vom Sonderausgabenabzugsverbot geschaffen.
Danach sind Vorsorgeaufwendungen zu berücksichtigen,
- soweit sie in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang mit in der EU, dem EWR oder der Schweiz erzielten Einnahmen aus nichtselbstständiger Tätigkeit stehen,
- diese Einnahmen nach einem DBA steuerfrei sind und
- der Beschäftigungsstaat keinerlei steuerliche Berücksichtigung dieser Vorsorgeaufwendungen im Rahmen der Besteuerung dieser Einnahmen zulässt.
3. Wie ist das dritte Tatbestandsmerkmal der steuerlichen Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen im Tätigkeitsstaat auszulegen? Ist die Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen insgesamt entscheidend oder ist eine versicherungsspartenspezifische Betrachtung anzustellen? Dem Gesetzeswortlaut und den Gesetzesmaterialien sind hierauf keine eindeutigen Antworten zu entnehmen.
4. Entscheidend ist, dass unionsrechtlich grundsätzlich der Wohnsitzstaat vorrangig zur Gewährung personen- und familienbezogener Abzüge verpflichtet ist, wenn es entweder an einer im Ganzen gebührenden Berücksichtigung der persönlichen und familiären Lage des Steuerpflichtigen fehlt oder die in- und ausländischen Rechtslagen nicht in wechselseitiger Beziehung zueinander stehen. Diese vom EuGH aufgrund inzwischen ständiger Rechtsprechung vertretenen Rechtsgrundsätze lassen eine unionsrechtskonforme Auslegung von § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 Buchst. c EStG damit nur dahin gehend zu, dass isoliert auf die jeweiligen Versicherungssparten abzustellen ist. Ansonsten wäre nicht gewährleistet, dass die nach § 10 Abs. 1 Nr. 3 Satz 1 Buchst. b EStG grundsätzlich unbeschränkt abzugsfähigen Beiträge eines im Inland ansässigen Steuerpflichtigen zu einer gesetzlichen Pflegeversicherung entweder im Beschäftigungs- oder im Wohnsitzstaat steuerlich anerkannt werden.
5. Dies gilt insbesondere für die Vorsorgeaufwendungen eines Steuerpflichtigen, die zwangsläufig entstehen und die im Hinblick auf das Prinzip der Steuerfreiheit des Existenzminimums von Verfassungs wegen i.H.d. tatsächlich geleisteten Beiträge ohne Begrenzung zum Abzug zuzulassen sind (vgl. § 10 Abs. 4 Satz 4 EStG).
6. Es kommt nicht darauf an,...