[Ohne Titel]
Dr. Olaf Schermann, RA/FAErbR
Der folgende Beitrag gibt im Anschluss an die Darstellung in ErbStB 2023, 159 (Heft 5) einen Überblick über praxisrelevante höchst- und obergerichtliche Entscheidungen im Erbrecht, die im ersten Halbjahr 2023 ergangen sind. Den Schwerpunkt bilden Entscheidungen zur Testamentserrichtung und -auslegung und zum Verfahrensrecht in Nachlasssachen.
1. Annahme und Ausschlagung
a) Keine Anfechtung einer "lenkenden" Erbausschlagung
Irrt sich der eine Erbschaft Ausschlagende bei Abgabe seiner Erklärung über die an seiner Stelle in die Erbfolge eintretende Person, ist dies nur ein Irrtum über eine mittelbare Rechtsfolge der Ausschlagung aufgrund anderer rechtlicher Vorschriften. Ein solcher Motivirrtum berechtigt nicht zur Anfechtung der Ausschlagung gem. § 119 Abs. 1 Alt. 1 BGB.
BGH v. 22.3.2023 – IV ZB 12/22
BGB § 119, § 1924, § 1931, § 1953
Beraterhinweis Ob und unter welchen Voraussetzungen ein Irrtum über die Person des nachrückenden Erben zur Anfechtung einer lenkenden Ausschlagung berechtigt, war in der obergerichtlichen Rspr. bislang äußerst umstritten. Die h.M. ging davon aus, dass lediglich ein unbeachtlicher Motivirrtum vorliegt, weil sich der Ausschlagende nicht über die unmittelbare Rechtsfolge, also den Verlust seiner Erbenstellung, irrt (so OLG Düsseldorf v. 8.1.1997 – 3 Wx 575/96, FamRZ 1997, 905; OLG Schleswig v. 11.5.2005 – 3 Wx 70/04, ZEV 2005, 526; OLG München v. 4.8.2009 – 31 Wx 60/09, NJW 2010, 687; OLG Hamm v. 31.5.2011 – 15 W 176/11, FGPrax 2011, 236; KG v. 11.7.2019 – 19 W 50/19, ZEV 2020, 152). Nach der im Vordringen befindlichen a.A. sollte es sich dagegen um einen beachtlichen Rechtsfolgenirrtum handeln, weil die Ausschlagung eine wesentlich andere als die beabsichtigte Wirkung erzeugt (so OLG Düsseldorf v. 23.12.2016 – 3 Wx 259/16, ZEV 2018, 85; OLG Düsseldorf v. 12.3.2019 – 3 Wx 166/17, FamRZ 2019, 1466; OLG Frankfurt v. 6.2.2021 – 21 W 167/20, FamRZ 2021, 1751; OLG Brandenburg v. 27.7.2022 – 3 W 59/22, ZEV 2022, 716).
Der BGH hat sich nun der h.M. angeschlossen. Wer als nachrückender Erbe berufen ist, sei nicht in § 1953 BGB geregelt. Dementsprechend sei ein Irrtum über die nachrückende Person kein Irrtum über eine unmittelbare Rechtsfolge der Ausschlagung. Dass der Ausschlagende den Anfall der Erbschaft an eine bestimmte Person als primäres Ziel seiner Ausschlagung ansieht, ändere hieran nichts, denn eine mittelbare Rechtsfolge werde nicht dadurch zu einer unmittelbaren, dass sie der Hauptgrund für die Ausschlagung war. Auch im Interesse der Rechtssicherheit sei eine Einschränkung der Anfechtungsmöglichkeiten erforderlich, um möglichst schnell Klarheit über die Erbfolge herzustellen.
Vor dem Hintergrund der bislang eher anfechtungsfreundlichen Rspr. ist diese Entscheidung durchaus überraschend. Soll künftig eine lenkende Ausschlagung erfolgen, ist mangels Anfechtungsmöglichkeit deshalb noch sorgfältiger zu prüfen, wer anstelle des Ausschlagenden als Erbe nachrückt (§ 1953 Abs. 2 BGB). Häufig wird übersehen, dass bei einer Ausschlagung durch die Kinder des Erblassers nicht nur der überlebende Ehegatte allein, sondern auch die Verwandten zweiter Ordnung als gesetzliche Erben berufen sind (§§ 1925, 1931 Abs. 1 Satz 1 BGB).
b) Ersatzerbeinsetzung bei Ausschlagung durch den überlebenden Ehegatten
Bei einem gemeinschaftlichen Testament ergibt sich im Wege der ergänzenden Auslegung, dass bei Ausschlagung des testamentarischen Erbrechts und gleichzeitiger Annahme des gesetzlichen Erbrechts durch den überlebenden Ehegatten eine Ersatzerbenberufung der Schlusserben zum Tragen kommt.
OLG Brandenburg v. 14.2.2023 – 3 W 60/22
BGB § 1948, § 1950
Beraterhinweis Wer durch Verfügung von Todes wegen als Erbe berufen ist, kann die Erbschaft nach § 1948 Abs. 1 BGB als eingesetzter Erbe ausschlagen und als gesetzlicher Erbe annehmen. Eine solche beschränkte Ausschlagung entfaltet aber nur dann ihre Wirkung, wenn der Ausschlagende tatsächlich als gesetzlicher Erbe berufen wäre. Dies ist nicht der Fall, wenn die ausgeschlagene Erbschaft an nachrückende Ersatzerben fällt oder Anwachsung eintritt (BayObLG v. 14.6.1977 – BReg. 1 Z 17/77, BayObLGZ 1977, 163; Weidlich in Grüneberg, BGB, § 1948 Rz. 2). Auch beim gemeinschaftlichen Testament geht eine beschränkte Ausschlagung durch den überlebenden Ehegatten regelmäßig ins Leere, weil die Schlusserbeinsetzung der gemeinsamen Kinder zugleich die Einsetzung der Kinder als Ersatzerben für den ersten Erbfall beinhaltet (OLG Stuttgart v. 16.3.1978 – 8 W 342/77, BWNotZ 1979, 11; Raff in Staudinger, BGB, § 2269 Rz. 32; Keim, ZEV 2020, 393). Zur nachträglichen erbschaftsteuerlichen Optimierung ist die beschränkte Ausschlagung nach § 1948 Abs. 1 BGB deshalb allenfalls dann geeignet, wenn auch die als Ersatzerben nachrückenden Kinder und deren Abkömmlinge eine solche beschränkte Ausschlagung erklären (Keim, ZEV 2020, 393).
2. Testamentserrichtung und -auslegung
a) Keine Unwirksamkeit einer Enterbung wegen Verzeihung
Die durch Verzeihung eingetretene Unwirksamkeit der Pflichtteilsentziehung kann nur über § 2085 BGB zur Unwirksamkeit der Enterbung führen.
OLG Karlsruhe v. 8.2.2023 – 11 W 94/2...