[Ohne Titel]
Dr. Olaf Schermann, RA/FAErbR
Der folgende Beitrag gibt im Anschluss an die Darstellung in ErbStB 2022, 146 (Heft 5) einen Überblick über praxisrelevante höchst- und obergerichtliche Entscheidungen im Erbrecht, die im ersten Halbjahr 2022 ergangen sind. Den Schwerpunkt bilden Entscheidungen zur Erbschaftsannahme und -ausschlagung, zur Testamentserrichtung und -auslegung und zum Pflichtteilsrecht.
1. Erbschaftsannahme und -ausschlagung
a) Kein Ausschlagungsrecht des Nachlasspflegers
Der Nachlasspfleger ist nicht berechtigt, mit Wirkung für die unbekannten Erben eine in den Nachlass des Erblassers gefallene weitere Erbschaft auszuschlagen. Das Recht zur Ausschlagung der Erbschaft ist ein allein dem Erben bzw. seinen Rechtsnachfolgern, den Erbeserben, persönlich zustehendes Recht.
BGH v. 16.3.2022 – IV ZB 27/21
BGB § 1960, § 1952
Beraterhinweis Dass der Nachlasspfleger nicht berechtigt ist, die Erbschaft für die unbekannten Erben anzunehmen oder auszuschlagen, ist seit jeher allgemein anerkannt (Motive, Bd. V, S. 550; Mesina in Staudinger, BGB, § 1960 Rz. 48; Leipold in MünchKomm/BGB, § 1960 Rz. 70; Weidlich in Grüneberg, BGB, § 1945 Rz. 2). Unterschiedlich beurteilt wurde bislang dagegen, ob der Nachlasspfleger das Recht hat, für die unbekannten Erben eine dem Erblasser vor dem Erbfall angefallene Erbschaft nach § 1952 BGB auszuschlagen, die dieser selbst zu Lebzeiten noch nicht angenommen oder ausgeschlagen hat (dafür u.a. Mesina in Staudinger, BGB, § 1960 Rz. 48; Zimmermann, Nachlasspflegschaft, Rz. 387; dagegen u.a. Leipold in MünchKomm/BGB, § 1960 Rz. 70; Naczinsky in Soergel, BGB, § 1960 Rz. 38). Richtigerweise macht es keinen Unterschied, ob es sich um die Ausschlagung der Erbschaft nach dem Erblasser (sog. Hauptnachlass) oder um die Ausschlagung einer in den Nachlass des Erblassers gefallenen Erbschaft eines Dritten (sog. Unternachlass) handelt. In beiden Fällen ist es eine persönliche Entscheidung des Erben oder Erbeserben, ob er die Erbschaft annehmen oder ausschlagen will. Auch zum Schutze des Hauptnachlasses vor dem Zugriff der Gläubiger eines überschuldeten Unternachlasses ist eine Ausschlagung nicht erforderlich, weil der Nachlasspfleger die Einrede der Dürftigkeit (§§ 1990, 1991 BGB) erheben oder sich auf den Vorbehalt der beschränkten Erbenhaftung (§ 780 ZPO) berufen kann (s. Dobler in Staudinger, BGB, § 1990 Rz. 44; Küpper in MünchKomm/BGB, § 1990 Rz. 10).
b) Anforderungen an die formgerechte Anfechtung einer Erbausschlagung
Die formgerechte Anfechtungserklärung bzgl. einer vorausgegangenen Erbausschlagung erfordert bei Abgabe der Erklärung in öffentlich beglaubigter Form den Eingang der Originalurkunde beim Nachlassgericht. Die Übermittlung der als Papierurkunde erstellten notariell beglaubigten Anfechtungserklärung in Gestalt einer pdf-Datei über das besondere elektronische Anwaltspostfach an das Nachlassgericht reicht zur Wahrung der erforderlichen Form für eine wirksame Anfechtung der Erbausschlagung nicht aus.
OLG Bamberg v. 21.3.2022 – 2 W 35/21
BGB § 1945, § 1954, § 1955
Beraterhinweis Die Heilung des Formmangels einer Anfechtungs- oder Ausschlagungserklärung ist bis zum Ablauf der Anfechtungs- oder Ausschlagungsfrist möglich (Naczinsky in Soergel, BGB, § 1945 Rz. 14; Weidlich in Grüneberg, BGB, § 1945 Rz. 3). Ist jedoch die Frist zur Anfechtung oder Ausschlagung bereits abgelaufen, kommt auch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gem. §§ 17 ff. FamFG zur Nachreichung einer formgerechten Anfechtungs- oder Ausschlagungserklärung nicht in Betracht, weil die Frist als materielle Ausschlussfrist vom Nachlassgericht nicht verlängert werden kann (OLG Jena v. 12.10.2015 – 6 W 364/15, FamRZ 2016, 661; Weidlich in Grüneberg, BGB, § 1944 Rz. 1).
c) Keine Anfechtung der Erbausschlagung wegen Irrtums über den Nächstberufenen
Ein Irrtum über die Person desjenigen, dem die Ausschlagung der Erbschaft zugutekommt (hier: Ausschlagung mit dem Ziel, die Alleinerbenstellung der Mutter zu erreichen), ist grundsätzlich nur ein nicht zur Anfechtung berechtigender unbeachtlicher Motivirrtum.
OLG Hamm v. 21.4.2022 – 15 W 51/19
BGB § 119, § 1954, § 1955, § 1957
Beraterhinweis Die Ausschlagung wird häufig als Reparaturinstrument bei unterbliebener Erbfolgeplanung eingesetzt. Nicht selten übersieht man jedoch, dass bei einer Ausschlagung durch die Kinder des Erblassers nicht nur der überlebende Ehegatte allein, sondern daneben auch die Verwandten zweiter Ordnung als nachrückende gesetzliche Erben zur Erbfolge gelangen (§§ 1953 Abs. 2, 1925, 1931 Abs. 1 Satz 1 BGB). Ob und unter welchen Voraussetzungen ein Irrtum hierüber zur Anfechtung der missglückten Ausschlagung berechtigt, ist in der obergerichtlichen Rspr. mittlerweile äußerst umstritten. Die bislang h.M. geht davon aus, dass lediglich ein unbeachtlicher Motivirrtum vorliegt, weil sich der Ausschlagende nicht über die unmittelbare Rechtsfolge, also den Verlust seiner Erbenstellung, geirrt hat (so OLG Düsseldorf v. 8.1.1997 – 3 Wx 575/96, FamRZ 1997, 905; OLG Schleswig v. 11.5.2005 – 3 Wx 70/04, ZEV 2005, 526; OLG München v. 4.8.2009 – 31 Wx 60/09, NJW 2010, 687; OLG Hamm v. 31.5.2011 – 15 W 176/11, FGPra...