Tz. 10

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

§ 39 AO geht in Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 davon aus, dass das zivilrechtliche Eigentum als Berechtigung zur vollen Sachherrschaft und die tatsächliche Ausübung dieser Sachherrschaft auseinander fallen können. Der Eigentümer im Rechtssinn muss also nicht notwendig auch der Inhaber der tatsächlichen Herrschaftsgewalt sein. Die Rede ist von einer tatsächlichen Herrschaft, die sich – in ihrer Ausschließungsfunktion bezüglich der Einwirkung Dritter – im Regelfall auf die gesamte gewöhnliche Nutzungsdauer der Sache erstreckt. Doch soll mit diesem aus der Welt des Leasings entlehnten Leitbild (BFH v. 26.01.1970, IV R 144/66, BStBl II 1970, 264) wohl nur ein besonders markantes Anwendungsbeispiel gegeben werden. Eine eigentümergleiche Sachherrschaft, also die Ausübung voller tatsächlicher Verfügungsmacht trotz fehlenden Eigentums im Rechtssinne, ist besonders in den Fällen des Eigenbesitzes gegeben, die § 39 Abs. 2 Nr. 1 AO etwas stiefmütterlich am Ende des zweiten Satzes erwähnt. Eigenbesitzer ist, wer die ihm zustehende tatsächliche Gewalt über eine Sache, also deren Besitz (s. § 854 BGB), so ausübt, als sei er auch Eigentümer, als stehe ihm die ausschließliche volle Herrschaftsgewalt zu (Besitz mit animus domini). Bei der Bestimmung des wirtschaftlichen Eigentums ist nicht das formal Erklärte oder formalrechtlich Vereinbarte, sondern das wirtschaftlich gewollte und tatsächlich Bewirkte ausschlaggebend (BFH v. 11.07.2006, VIII R 32/04, BStBl II 2007, 296: zur betrieblichen Nutzung eines Raumes durch einen Ehegatten in einem beiden Ehegatten gehörenden Haus s. BFH v. 29.04.2008, VIII R 98/04, BStBl II 2008, 749, 751). Im Gegensatz dazu steht der Fremdbesitzer, der die tatsächliche Gewalt über eine Sache in ausdrücklicher oder stillschweigender Anerkennung fremden Eigentums ausübt, wie das im Typus für Mieter, Pächter, Entleiher, Verwahrer, Verwalter u. a. zutrifft. Ein Besitzer indessen, der über ein Wirtschaftsgut nicht nur kraft umfassender Herrschaft im tatsächlichen Sinne, sondern auch mit "eigenverantwortlichem Herrschaftswillen" verfügt, wird – soweit nicht ausnahmsweise eine rechtsförmliche Betrachtungsweise erforderlich ist (s. Rz. 5 ff.) – steuerlich wie ein Eigentümer behandelt. Entsprechend dem Vorrang des Tatsächlichen als demjenigen, "was wirklich ist", nämlich des Eigentums im wirtschaftlichen Sinne, tritt in diesem Fall das rechtliche Eigentum als wesenloser Schein zurück. Das Wirtschaftsgut, um das es sich handelt, wird nicht dem rechtlichen Eigentümer (Inhaber) zugerechnet, sondern demjenigen, der die tatsächliche Herrschaft gleich einem Eigentümer ausübt.

 

Tz. 11

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Ob wirtschaftliches (ohne zugleich rechtliches) Eigentum im vorbezeichneten Sinne gegeben ist, lässt sich nur anhand der Umstände des Einzelfalles beurteilen. Neben der Art und Weise der Besitzausübung, insbes. der willensmäßigen Einstellung des Besitzers, kommt es auf die Rechtsbeziehungen an, die zwischen dem Besitzer und dem rechtlichen Eigentümer bestehen. Die Rechtsstellung des Letzteren muss als eine lediglich formale erscheinen, deren eigentlicher Inhalt dem Besitzer zusteht. Auszugehen ist davon, dass ein solches Auseinanderfallen von zivilrechtlichem und wirtschaftlichem Eigentum die Ausnahme bildet. Sachherrschaft, die eine Person ausschließlich oder ganz überwiegend im Interesse (für Rechnung) eines Dritten ausüben darf und auch tatsächlich derart ausübt, begründet kein wirtschaftliches Eigentum dieser Person (BFH v. 27.09.1988, VIII R 193/83, BStBl II 1989, 414). Wirtschaftliches Eigentum bedeutet, dass der andere über Gegenstände wie über eigenes Vermögen verfügt (BFH 03.11.1976, VIII R 170/74, BStBl II 1977, 206). So gesehen ist wirtschaftlicher Eigentümer, wer die tatsächliche Herrschaft über ein Wirtschaftsgut in der Weise ausübt, dass der Herausgabeanspruch des (zivilrechtlichen) Eigentümers keine wirtschaftliche Bedeutung hat, weil dieser (für die gewöhnliche Nutzungsdauer) von der Einwirkung auf das Wirtschaftsgut wirtschaftlich ausgeschlossen ist (BFH v. 23.01.1987, III R 240/83, BFH/NV 1987, 502). Daher begründen Veräußerungsgeschäfte unter einer Bedingung regelmäßig kein wirtschaftliches Eigentum des Erwerbers, solange der Eintritt der Bedingung nicht allein vom seinem Willen und Verhalten abhängig ist (BFH v. 25.07.2009, IV R 3/07, BStBl II 2010, 182).

Dieser Inhalt ist unter anderem im Kühn, Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung (Schäffer-Poeschel) enthalten. Sie wollen mehr?


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