Nachforderungszinsen ab 2014 verfassungswidrig

Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen verfassungswidrig ist, soweit der Zinsberechnung für Verzinsungszeiträume ab dem 01.01.2014 ein Zinssatz von monatlich 0,5 % zugrunde gelegt wird.

Rechtlicher Hintergrund § 233a AO

§ 233a AO regelt die Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen. Die Verzinsung betrifft den Zeitraum zwischen der Entstehung der Steuer und ihrer Festsetzung (Grundsatz der Vollverzinsung). Der Zinslauf beginnt allerdings nicht bereits mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist, sondern erst nach einer zinsfreien Karenzzeit von grundsätzlich 15 Monaten.

Von der Vollverzinsung betroffen sind damit lediglich diejenigen Steuerpflichtigen, deren Steuer erst nach Ablauf eines längeren Zeitraums nach der Entstehung des Steueranspruchs erstmalig festgesetzt oder geändert wird. Die Vollverzinsung betrifft sowohl Steuernachzahlungen als auch Steuererstattungen.

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Das BVerfG sieht in der Verzinsung von Steuernachforderungen mit einem Zinssatz von monatlich 0,5 % nach Ablauf einer zinsfreien Karenzzeit von grundsätzlich 15 Monaten eine Ungleichbehandlung von Steuerschuldnern, deren Steuer erst nach Ablauf der Karenzzeit festgesetzt wird, gegenüber Steuerschuldnern, deren Steuer bereits innerhalb der Karenzzeit endgültig festgesetzt wird. Hintergrund hierfür ist das seit Jahren anhaltende niedrige Zinsniveau auf dem Kapitalmarkt, das in diametralem Gegensatz zur 6-prozentigen Jahresverzinsung durch die Finanzverwaltung steht.

Diese Ungleichbehandlung sieht das Gericht für in die Jahre 2010 bis 2013 fallende Verzinsungszeiträume als noch als verfassungsgemäß an. Dies gilt jedoch nicht mehr für Verzinsungszeiträume ab 2014. Die Unvereinbarkeit der Verzinsung nach § 233a AO mit dem Grundgesetz umfasst dabei auch die Erstattungszinsen zugunsten der Steuerpflichtigen.

Das BVerfG differenziert jedoch insoweit, als es das bisherige Recht für bis einschließlich in das Jahr 2018 fallende Verzinsungszeiträume für weiterhin anwendbar erklärt wird. Für Verzinsungszeiträume, die in das Jahr 2019 und später fallen, kommt dagegen eine Weitergeltung des bisherigen Rechts dagegen nicht mehr in Betracht. Hier wird der Gesetzgeber verpflichtet, bis zum 31.07.2022 eine verfassungsgemäße Neuregelung zu treffen.

Bisherige Rechtsprechungs- und Verwaltungspraxis

Die Frage, ob eine 6-prozentige Jahresverzinsung angesichts der Zinsentwicklung auf dem Kapitalmarkt noch verfassungskonform ist, beschäftigt Rechtsprechung und Verwaltung schon seit einiger Zeit. Der BFH hatte zuletzt mit seinen Entscheidungen vom 25.04.2018 - IX B 21/18 und vom 03.09.2018 - VIII B 15/18 die Rechtmäßigkeit der aktuellen Vollverzinsung in Zweifel gezogen und im Rahmen der summarischen Prüfung des Aussetzungsverfahrens den Klägern für Verzinsungszeiträume ab 01.04.2015 bzw. 01.11.2012 Recht gegeben.

Daraufhin hatte die Finanzverwaltung im Erlasswege verfügt, dass u.a. für Verzinsungszeiträume ab dem 01.04.2012 Aussetzung der Vollziehung zu gewähren ist (BMF, Schreiben v. 14.12.2018, IV A 3 – S 0465/18/10005-01). Außerdem hatte sie mit BMF-Schreiben v. 2.5.2019, IV A 3 – S 0338/18/10002, angeordnet, sämtliche Zinsbescheide (§ 233 AO), denen ein Zinssatz von 0,5 % pro Monat zugrunde liegt (§ 238 AO), vorläufig (§ 165 Abs. 1 Satz 2 Nummer 3 AO) ergehen zu lassen.

Konkrete Rechtsfolgen für die Besteuerungspraxis nach der Entscheidung des BVerfG

Welche Konsequenzen ergeben sich nun für die Besteuerungspraxis? Zunächst ist zu beachten, dass das BVerfG sich nur zur Vollverzinsung (§ 233a AO) geäußert hat, nicht jedoch zu Stundungszinsen (§ 234 AO), Hinterziehungszinsen (§ 235 AO), Prozesszinsen auf Erstattungsbeträge (§ 236 AO) und Aussetzungszinsen (§ 237 AO). Da jedoch das Zinsniveau in allen Verzinsungsfällen einheitlich 0,5 % pro Monat beträgt (§ 238 AO), wird man die Entscheidungsgrundsätze des BVerG auf alle Zinsarten anwenden können.

Weiterhin gilt es, drei Fallgruppen zu unterscheiden.

  1. Verzinsungszeiträume, die in das Jahr 2013 und früher fallen, sind von der Verfassungswidrigkeit nicht betroffen, d.h. hier ist der Zinssatz von 0,5 % pro Monat nicht zu beanstanden. Steuerpflichtige, die hier Einspruch eingelegt haben, müssen mit einer Zurückweisung ihres Einspruchs rechnen. Im Falle einer Aussetzung der Vollziehung wird der ausgesetzte Betrag gezahlt werden müssen.
  2. Für Verzinsungszeiträume, die in das Jahr 2014 bis einschließlich 2018 fallen, besteht nun eine festgestellte Verfassungswidrigkeit des Zinssatzes, jedoch bleibt das aktuelle Recht weiterhin anwendbar. Dies bedeutet, dass auch in diesen Fällen eingelegte Einsprüche abgewiesen werden und ausgesetzte Beträge gezahlt werden müssen. Sofern die Zinsfestsetzung vorläufig erfolgt ist, wird die Finanzverwaltung die Vorläufigkeit aufheben.
  3. Lediglich für Verzinsungszeiträume, die in das Jahr 2019 und später fallen, muss der Gesetzgeber bis zum 31.07.2022 "nachbessern" und eine verfassungskonforme gesetzliche Neuregelung schaffen. Von dieser Neuregelung wird jedoch nur derjenige profitieren, der gegen den Zinsbescheid Einspruch eingelegt hat oder dessen Zinsbescheid vorläufig ergangen ist. Formell und materiell bestandskräftige Zinsbescheide ohne Vorläufigkeitsvermerk können aufgrund der anstehenden gesetzlichen Neuregelung nicht mehr geändert werden.

Hinweis: Es bleibt abzuwarten, wie die Finanzverwaltung in Fällen der dritten Fallgruppe reagieren wird. Da eine gesetzliche Neuregelung Zeit braucht und wohl erst nach der Bundestagswahl auf den Weg gebracht werden wird, werden Zinsbescheide bis zur gesetzlichen Neuregelung weiterhin die bisherige – jetzt aber verfassungswidrige – Verzinsung ausweisen. Sie lediglich vorläufig (§ 165 AO) ergehen zu lassen, würde jedoch bedeuten, dass der verfassungswidrige Zinsbetrag zunächst vom Steuerpflichtigen zu entrichten wäre, denn eine Aussetzung der Vollziehung (§ 361 AO) ist nur bei einer Einspruchseinlegung möglich. Es bleibt abzuwarten, wie die Übergangslösung der Finanzverwaltung aussehen wird.

BVerfG Beschluss vom 08.07.2021 - 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17 (veröffentlicht am 18.08.2021).


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