Entscheidungsstichwort (Thema)
Rücknahme eines unanfechtbaren Verwaltungsakts
Leitsatz (NV)
1. Es ist bereits hinreichend geklärt, dass die Ablehnung einer nach § 130 Abs. 1 AO 1977 beantragten Zurücknahme eines rechtswidrigen bestandskräftigen Verwaltungsakts in der Regel dann ermessenfehlerfrei ist, wenn der Betroffene zur Begründung seines Antrags nur solche Umstände vorträgt, die er bei fristgerechter Einlegung des Einspruchs vorzubringen in der Lage gewesen wäre.
2. Die Finanzbehörde muss bei ihrer Entscheidung über die Rücknahme eines rechtswidrigen bestandskräftigen Verwaltungsakts nach § 130 AO 1977 nur bei offensichtlichen und schwerwiegenden Rechtsverstößen in eine erneute Sachprüfung eintreten. In einem solchen Fall darf sie den Antrag auf Rücknahme nicht mit dem bloßen Hinweis auf die Bestandskraft des Verwaltungsakts ablehnen.
Normenkette
AO 1977 § 130 Abs. 1; FGO § 115 Abs. 2 Nrn. 1-3
Verfahrensgang
Nachgehend
Tatbestand
I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) wurde vom Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt --FA--) mit Bescheid vom .. August 1997 als Prokuristin einer in Konkurs geratenen GmbH für deren rückständige Steuern und steuerliche Nebenleistungen in Haftung genommen. Der Bescheid wurde bestandskräftig. Mit Schriftsatz vom .. November 2001 beantragte die Klägerin beim FA die Rücknahme des Haftungsbescheids. Das FA lehnte den Antrag ab und verwies zur Begründung auf die Bestandskraft des Haftungsbescheids. Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) urteilte, dass der Klägerin ein Anspruch auf Rücknahme des Haftungsbescheids nach § 130 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) nicht zustehe. Allerdings habe sie einen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung durch das FA. Die im Streitfall bewusst vorgenommene Ermessensausübung durch das FA, die gemäß § 102 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) einer richterlichen Überprüfung nur in begrenztem Umfang zugänglich sei, gebe zu rechtlichen Beanstandungen keinen Anlass. Insbesondere sei die Erwägung des FA, im Streitfall sei dem Aspekt des Eintritts von Rechtsfrieden und Rechtssicherheit der Vorrang vor dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Gerechtigkeit im Einzelfall einzuräumen, weil es die Klägerin versäumt habe, gegen den Haftungsbescheid Einspruch einzulegen und die nunmehr vorgebrachten Einwände rechtzeitig zu erheben, nicht als ermessensfehlerhaft anzusehen. Denn der Klägerin sei zuzumuten gewesen, den Haftungsbescheid fristgerecht anzufechten und somit die Annahme des FA, sie, die Klägerin, sei als Prokuristin der GmbH verfügungsberechtigt i.S. des § 35 AO 1977 gewesen, zu widerlegen. Entgegen der Ansicht der Klägerin sei die Ermessensentscheidung des FA auch nicht deshalb fehlerhaft, weil der Haftungsbescheid an einem besonders schwerwiegenden und offenkundigen Fehler leide, den das FA bei seiner Ermessensentscheidung hätte berücksichtigen müssen. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) liege kein schwerwiegender Mangel vor, wenn der Steuerpflichtige es unterlassen habe, die Behörde auf den Fehler aufmerksam zu machen und die Behörde aus den ihr vorliegenden Unterlagen folgerichtig auf einen objektiv nicht vorliegenden Sachverhalt schließe. Eine solche Konstellation liege im konkreten Fall vor. Das FA habe davon ausgehen können, dass die Klägerin, die den Grad einer Dipl.-Volkswirtin erworben habe, mangels entgegenstehender weiterer Angaben nach § 49 Abs. 1 des Handelsgesetzbuchs (HGB) ermächtigt gewesen sei, für die GmbH alle zum Betrieb ihres Handelsgewerbes anfallenden Rechtsgeschäfte zu tätigen. Das FA habe auch annehmen können, dass die Klägerin im Innenverhältnis zur GmbH die für deren steuerliche Pflichten zuständige Verfügungsberechtigte gewesen sei. Die Klägerin hätte ohne weiteres den Sachverhalt aufklären können. Auf ein Schreiben des FA, mit dem ihr die Einleitung eines Haftungsverfahrens eröffnet worden sei, habe sie nicht reagiert. Deshalb habe das FA den Schluss ziehen dürfen, dass die Klägerin als verfügungsberechtigte Prokuristin der GmbH in Anspruch zu nehmen sei.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil wendet sich die Beschwerde der Klägerin, welche sie auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO), Verfahrensmängel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) sowie allgemein auf § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO stützt.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde hat keinen Erfolg, weil die von der Beschwerde geltend gemachten Zulassungsgründe --ungeachtet der Mängel bei der gemäß § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO erforderlichen Darlegung der Zulassungsvoraussetzungen-- jedenfalls nicht vorliegen.
1. a) Die von der Beschwerde aufgeworfene Rechtsfrage, unter welchen Voraussetzungen ein bestandskräftiger Verwaltungsakt nach § 130 Abs. 1 AO 1977 zurückgenommen werden kann, ist nicht klärungsbedürftig, weil sie durch die Rechtsprechung des Senats bereits geklärt ist.
Gemäß § 130 Abs. 1 AO 1977 kann das FA einen rechtswidrigen Haftungsbescheid ganz oder teilweise auch dann zurücknehmen, wenn der Bescheid bereits unanfechtbar geworden ist. Die Entscheidung des FA, ob es den Bescheid zurücknimmt oder von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch macht, ist eine Ermessensentscheidung. Sie darf von den FG nur auf Ermessensfehler hin überprüft werden (s. § 102 Satz 1 FGO). Der Senat hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass in der Regel die Entscheidung des FA, die Rücknahme eines rechtswidrigen unanfechtbaren Haftungsbescheids abzulehnen, ermessensfehlerfrei ist, wenn der Haftungsschuldner die Gründe, die seiner Auffassung nach eine Rücknahme rechtfertigen, mit einem fristgerecht eingelegten Einspruch gegen den Bescheid hätte vorbringen können. Mit dieser Begründung kann eine Rücknahme nur dann nicht abgelehnt werden, wenn vom Haftungsschuldner die Anstrengung eines Einspruchsverfahrens unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles billigerweise nicht erwartet werden konnte (Senatsurteil vom 26. März 1991 VII R 15/89, BFHE 164, 215, BStBl II 1991, 552; Senatsbeschluss vom 22. Juni 1999 VII B 244/98, BFH/NV 1999, 1583, jeweils m.w.N.; s.a. BFH-Urteil vom 9. März 1989 VI R 101/84, BFHE 157, 1, BStBl II 1989, 749).
Von dieser Rechtsprechung ist das FG ausgegangen und hat entschieden, das FA habe eine Ermessensentscheidung getroffen, die nicht zu beanstanden sei. Es hat festgestellt, dass das FA bei Erlass des Ablehnungsbescheids die prinzipiell anzustellenden Überlegungen vor Augen gehabt habe und sich dann --bei der gebotenen Abwägung zwischen dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Gerechtigkeit im Einzelfall einerseits sowie dem Interesse der Allgemeinheit am Eintritt von Rechtsfrieden und Rechtssicherheit andererseits-- für das Gemeinwohlinteresse entschieden habe. Das FA habe im Zeitpunkt des Erlasses der Einspruchsentscheidung keinen Anlass zu der Annahme gehabt, dass die Einlegung eines Einspruchs gegen den Haftungsbescheid innerhalb der Rechtsbehelfsfrist für die Klägerin nicht zumutbar gewesen wäre. Das ist Würdigung des Einzelfalls, die eine Revisionszulassung von vornherein nicht rechtfertigen kann.
Wenn demgegenüber die Beschwerde meint, dass § 130 Abs. 1 AO 1977 in jedem Fall eine erneute Sachprüfung verlange und das Ermessen nicht fehlerfrei ausgeübt worden sei, wenn das FA floskelhaft auf die Möglichkeit einer Einspruchseinlegung hingewiesen habe, bezeichnet sie keine abstrakte klärungsbedürftige Rechtsfrage, sondern wendet sich lediglich gegen die materielle Richtigkeit des FG-Urteils. Auf Fehler, die dem FG womöglich bei der Auslegung der Gesetze oder der Anwendung der entsprechenden Rechtsprechung des BFH unterlaufen sind, kann jedoch eine Beschwerde wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nicht gestützt werden (vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 115 Rz. 24, m.w.N.).
b) Auch der von der Beschwerde aufgeworfenen Frage, ob die Prokuristenstellung dazu führe, dass der Prokurist allein aufgrund seiner zivilrechtlich eingeräumten Rechtsposition für Steuerschulden einer GmbH einzustehen habe, kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu. Es fehlt bereits an der Klärungsfähigkeit. Diese Frage wäre mangels Entscheidungserheblichkeit in einem zukünftigen Revisionsverfahren nicht zu klären. So hat im Streitfall auch das FG es offen gelassen, ob der Haftungsbescheid schon deswegen rechtwidrig sei, weil das FA davon ausgegangen sei, dass die Klägerin als Prokuristin der GmbH verfügungsberechtigt i.S. des § 35 AO 1977 und daher taugliche Haftungsschuldnerin nach § 69 AO 1977 gewesen sei. Das FG hat in diesem Zusammenhang zutreffend darauf hingewiesen, dass das FA bei seiner Entscheidung über die Rücknahme des Haftungsbescheids nach § 130 Abs. 1 AO 1977 nur bei offensichtlichen und schwerwiegenden Rechtsverstößen --welche die Klägerin hätte vorbringen müssen-- in eine erneute Sachprüfung hätte eintreten müssen und den Antrag auf Rücknahme nicht mit dem bloßen Hinweis auf die Bestandskraft des Haftungsbescheids hätte ablehnen dürfen. Ein schwerwiegender Fehler liege allerdings deswegen nicht vor, weil die Klägerin bei der Aufklärung des Sachverhalts durch das FA nicht mitgewirkt habe. Dem folgend würde auch der Senat in einem Revisionsverfahren die Frage der rechtmäßigen Inhaftungnahme der Klägerin allein aufgrund ihrer Prokuristenstellung offen lassen, weil das FA trotz etwaiger rechtswidriger Inanspruchnahme der Klägerin deren Antrag auf Rücknahme des Haftungsbescheids ermessensfehlerfrei abgelehnt hätte.
Im Übrigen kommt der Frage keine grundsätzliche Bedeutung zu, weil ihre Klärung nicht im Interesse der Allgemeinheit liegt. Vielmehr erschöpft sich die Bedeutung der Sache in der Entscheidung des konkreten Einzelfalls. Im Streitfall geht es nicht um die Frage, ob eine Prokuristenhaftung per se zulässig ist, sondern darum, ob das FA die Klägerin zu Recht als Verfügungsberechtigte nach § 35 AO 1977 und folglich als potentielle Haftungsschuldnerin nach § 69 AO 1977 angesehen hat. Diese Frage ist nach den konkreten Umständen des Einzelfalls zu beantworten.
c) Soweit die Beschwerde in mehrfacher Hinsicht Einwendungen gegen die materielle Richtigkeit der Vorentscheidung erhebt, kann dies nicht zur Zulassung der Revision führen, weil hiermit kein Zulassungsgrund gemäß § 115 Abs. 2 FGO dargetan wird (vgl. BFH-Beschlüsse vom 6. Oktober 2000 III B 16/00, BFH/NV 2001, 202; vom 4. Juli 2002 IX B 169/01, BFH/NV 2002, 1476).
2. Da den von der Beschwerde aufgeworfenen Rechtsfragen keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, ist entgegen der Auffassung der Klägerin auch eine Entscheidung zur Fortbildung des Rechts nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 1 FGO nicht erforderlich. Denn erforderlich wird die Zulassung der Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 1 FGO nur dann, wenn eine bisher nicht höchstrichterlich entschiedene Rechtsfrage zweifelhaft ist (Gräber/Ruban, a.a.O., § 115 Rz. 41).
3. Die Beschwerde hat auch keine schwerwiegenden Rechtsfehler des erstinstanzlichen Erkenntnisses aufgezeigt, die eine Zulassung der Revision aus diesem Gesichtspunkt geboten erscheinen ließen (Zulassungsgrund der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO). Der BFH hat das Vorliegen solcher Fehler dann bejaht, wenn die Entscheidung des FG objektiv willkürlich erscheint oder auf sachfremden Erwägungen beruht, die unter keinem denkbaren Gesichtspunkt rechtlich vertretbar sind (vgl. BFH-Beschluss vom 30. August 2001 IV B 79, 80/01, BFHE 196, 30, BStBl II 2001, 837). Diese besonderen Umstände sind in der Beschwerdeschrift anzuführen. Die Formulierung von Rechtsfragen von angeblich grundsätzlicher Bedeutung und der bloße Hinweis auf erhebliche Rechtsfehler reichen nicht aus, um eine greifbare Gesetzeswidrigkeit oder gar eine Willkürlichkeit der angefochtenen Entscheidung darzulegen (vgl. Senatsbeschluss vom 21. Dezember 2001 VII B 216/01, BFH/NV 2002, 923). Deshalb wird die nicht näher substantiierte Behauptung der Klägerin, das erstinstanzliche Urteil bedeute eine eklatante Verletzung des Gesetzes, womit das FG den Gleichheitsgrundsatz gemäß Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes verletzt habe, den aufgezeigten Anforderungen an eine ordnungsgemäße Darlegung nicht gerecht.
4. Schließlich ist ein Grund, der nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO zur Zulassung der Revision führen kann, in der Beschwerdeschrift nicht hinreichend dargelegt. Die Beschwerde will insoweit rügen, das FG habe --in mehrfacher Hinsicht-- den Sachverhalt nicht ausreichend aufgeklärt und habe dadurch seine Sachaufklärungspflicht nach § 76 Abs. 1 FGO verletzt. Dafür ist indes, was angesichts der umfangreichen dazu vorliegenden Rechtsprechung des BFH keiner näheren Erörterung bedarf (s. Nachweise in Gräber/Ruban, a.a.O., § 120 Rz. 69), in der Beschwerdeschrift insbesondere genau anzugeben, welche Tatsachen das FG mit welchen Beweismitteln hätte aufklären sollen, welche --ihm so verborgen gebliebenen-- Erkenntnisse es dabei gewonnen hätte, inwiefern diese aus der Sicht der von ihm für richtig gehaltenen rechtlichen Würdigung der Streitsache von Bedeutung gewesen wären und zu einer für die Klägerin günstigeren Entscheidung hätten führen können und ferner, dass die Klägerin die von ihr jetzt vermisste Beweisaufnahme beantragt hat oder weshalb dies von ihr nicht zu verlangen war, weil sich die Notwendigkeit dieser Beweisaufnahme dem FG von Amts wegen hätte aufdrängen müssen. Die bloße Behauptung, dem FG seien Verfahrensfehler unterlaufen, reicht jedenfalls nicht aus, um eine Nichtzulassungsbeschwerde insoweit hinreichend begründen zu können.
Fundstellen
Haufe-Index 1391539 |
BFH/NV 2005, 1478 |