Leitsatz (amtlich)
1. Die Entstehung des Haftungsanspruchs nach § 15 Abs. 6 Satz 1 ErbStG 1959 ist nicht vom Verschulden des Versicherungsunternehmens sowie nicht davon abhängig, daß dem Versicherungsunternehmen bekannt war, es handele sich um einen ausländischen Berechtigten.
2. Der Erlaß des Haftungsbescheides stellt eine Ermessensentscheidung dar; dementsprechend hat sich die finanzgerichtliche Überprüfung nach § 102 FGO zu richten.
Normenkette
ErbStG 1959 § 15 Abs. 6 S. 1; FGO § 102
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) hatte mit dem Erblasser Lebensversicherungsverträge geschlossen, in denen Frau X als Bezugsberechtigte benannt war. Nach dem Tode des Erblassers händigte die Klägerin zur Bewirkung der Versicherungsleistungen der Bezugsberechtigten am 14. August und 5. September 1972 Verrechnungsschecks aus. Hierüber erstattete sie dem Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) am 4. und 6. September 1972 Anzeige. Wegen der Auszahlungsbeträge setzte das FA gegen die in . . . (Ausland) lebende Bezugsberechtigte Erbschaftsteuer fest; die Bezugsberechtigte hatte die Steuer nicht gezahlt.
Mit Haftungsbescheid vom 10. Januar 1974 nahm das FA die Klägerin wegen der Erbschaftsteuerschuld nach § 15 Abs. 6 Satz 1 des Erbschaftsteuergesetzes i. d. F vom 1. April 1959 (ErbStG 1959) mit der Begründung in Anspruch, die Klägerin habe vor Berichtigung oder Sicherstellung der Steuer die Versicherungssummen an einen ausländischen Berechtigten ausgezahlt. Der Einspruch der Klägerin blieb ohne Erfolg.
Die Klage ist als unbegründet abgewiesen worden. Das Finanzgericht (FG) hat ausgeführt, die Klägerin sei zu Recht zur Haftung herangezogen worden. Die Beweisaufnahme habe das FG zu der Überzeugung kommen lassen, daß die Bezugsberechtigte schon vor der Entgegennahme der Versicherungsleistungen ihren Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt nach ... verlegt habe, so daß von der Klägerin die Versicherungsleistungen einem ausländischen Berechtigten zur Verfügung gestellt worden seien.
Mit der Revision beantragt die Klägerin, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den Haftungsbescheid aufzuheben. Sie rügt Verletzung des § 15 Abs. 6 Satz 1 ErbStG 1959 und hilfsweise des § 118 der Reichsabgabenordnung (AO).
Das FA ist der Revision entgegengetreten.
Entscheidungsgründe
Auf die Revision wird das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen (§ 126
Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -); es läßt sich nicht ausschließen, daß das FG die Prüfung unterlassen hat, ob vom FA bei der Geltendmachung des nach dem Gesetz entstandenen Haftungsanspruchs das Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt worden ist.
1. Der Revision kann nicht darin gefolgt werden, daß die Annahme des FG, dem FA stehe der umstrittene Haftungsanspruch gegen die Klägerin zu, rechtsfehlerhaft sei. Aufgrund des § 15 Abs. 6 Satz 1 ErbStG 1959 haften Versicherungsunternehmen, die vor Berichtigung oder Sicherstellung der Steuer die von ihnen zu zahlende Versicherungssumme ausländischen Berechtigten zur Verfügung stellen, in Höhe des ausgezahlten Betrages für die Steuer. Ausländer in diesem Sinne ist entsprechend der Regelung in § 8 Abs. 1 Satz 2 Buchst. a ErbStG 1959 der Berechtigte dann, wenn er im Inland weder einen Wohnsitz noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (vgl. Urteil des Reichsfinanzhofs - RFH - vom 8. Juni 1934 III eA 34/33, RStBl 1934, 925). Nach den vom FG getroffenen Feststellungen, gegen welche zulässige und begründete Revisionsgründe nicht vorgebracht worden sind und die darum den Senat binden (§ 118 Abs. 2 FGO), hatte die Bezugsberechtigte ihren Wohnsitz und ihren gewöhnlichen Aufenthalt spätestens am 19. Juli 1972 nach ... verlegt, so daß sie seither als ausländische Berechtigte i. S. des § 15 Abs. 6 Satz 1 ErbStG 1959 anzusehen war. Damit ist der Haftungstatbestand verwirklicht.
2. Entgegen der Annahme der Klägerin kommt es nicht darauf an, ob dem Versicherungsunternehmen ein Verschulden zur Last fällt oder ob ihm die Ausländereigenschaft des Berechtigten bekannt war. Daß die Haftung nach § l5 Abs. 6 Satz 1 ErbStG 1959 nicht von einem Verschulden des Versicherungsunternehmens abhängig ist, hat der Senat bereits früher ausgesprochen (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 12. August 1964 II 125/62 U, BFHE 80, 481, 487, BStBl III 1964, 647; vgl. auch RFH-Urteil in RStBl 1934, 925). Hieran hält er nach Überprüfung seiner Ansicht anhand des Revisionsvorbringens fest.
Der Senat ist ferner der Auffassung, § 15 Abs. 6 Satz 1 ErbStG 1959 ist nicht dahin auszulegen, der Haftungsanspruch entstehe nur dann, wenn dem Versicherungsunternehmen die Umstände bekannt gewesen sind, von denen es abhängt, daß es sich bei dem Empfänger um einen ausländischen Berechtigten handelt. Der Gesetzeswortlaut gibt für eine derartige einschränkende Interpretation keinen Anhalt. Sie ist auch nicht nach Sinn und Zweck der Vorschrift und nach deren systematischem Zusammenhang gerechtfertigt. Durch § 15 Abs. 6 Satz 1 ErbStG 1959 ist lediglich geregelt, unter welchen Voraussetzungen der Haftungsanspruch entsteht. Zur Inanspruchnahme des Haftenden bedarf es zusätzlich des Ergehens eines Haftungsbescheides, dessen Erlaß ins Ermessen der Finanzbehörde gestellt war (vgl. § 118 AO), die hierbei nach Billigkeit und Zweckmäßigkeit (vgl. § 2 Abs. 2 des damals geltenden Steueranpassungsgesetzes - StAnpG -) vorzugehen hatte. Dabei konnte im Einzelfall eine Entscheidung des Inhalts geboten sein, daß von einer Inanspruchnahme des Haftenden selbst dann abzusehen war, wenn sich die Abgabenforderung auf andere Weise nicht durchsetzen ließ (vgl. BFH-Urteil vom 26. Januar 1961 IV 140/60, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1961 S. 109 - HFR 1961, 109 -).
Durch diese Regelung ist gewährleistet, daß die besonderen Verhältnisse des Einzelfalles berücksichtigt werden und daß äußerstenfalls die haftungsweise Inanspruchnahme, auf die es dem Haftenden mehr ankommt als auf die Entstehung des Haftungsanspruchs, sogar ganz unterbleibt, wenn besondere Umstände des Einzelfalles dies angemessen erscheinen lassen. Hierbei kann u. a. zu berücksichtigen sein, inwieweit das Versicherungsunternehmen in der Lage gewesen ist, den ausländischen Berechtigten daran zu hindern, dem Steuergläubiger die Versicherungsleistung als Vollstreckungsgrundlage zu entziehen. Angesichts dieser als Komplex zu betrachtenden Regelung von Haftung und haftungsweiser Inanspruchnahme ist es nicht gerechtfertigt, § 15 Abs. 6 Satz 1 ErbStG 1959 in der von der Klägerin angeregten Weise einschränkend auszulegen.
3. Das FG hat es nicht bei der Prüfung bewenden lassen dürfen, ob der vom FA gegen die Klägerin geltend gemachte Haftungsanspruch nach dem Gesetz entstanden ist. Es hätte darüber hinaus prüfen müssen, ob die Klägerin als Haftende in Anspruch genommen werden durfte. Denn die finanzbehördliche Entscheidung, daß ein Haftender durch Erlaß eines Haftungsbescheides in Anspruch genommen werden soll, vollzieht sich in zwei Abschnitten: Die Finanzbehörde ermittelt zunächst, ob nach dem Gesetz gegen denjenigen, der zur Haftung herangezogen werden soll, ein Haftungsanspruch besteht. Bejahendenfalls trifft sie sodann die Ermessensentscheidung darüber, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die betreffende Person zur Haftung herangezogen werden soll (vgl. BFH-Urteil vom 13. April 1978 V R 109/75, BFHE 125, 126, 128f., BStBl II 1978, 508). Dementsprechend läßt sich im Rahmen der finanzgerichtlichen Überprüfung ein Haftungsbescheid so lange nicht als rechtmäßig ansehen, als nur das Vorhandensein einer entsprechenden Haftungsschuld bestätigt wird. Erforderlich ist außerdem, daß festgestellt wird, die Finanzbehörde habe von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht (vgl. § 102 FGO).
4. Das angefochtene Urteil enthält in seinen Entscheidungsgründen keine Ausführungen zu der Frage, ob eine fehlerfreie Ermessensausübung des FA vorliegt. Unter diesen Umständen läßt sich nicht ausschließen, daß das FG diesen Punkt überhaupt nicht geprüft hat und dementsprechend auch nicht darauf bedacht gewesen ist, diesbezügliche Feststellungen zu treffen. Die Vorentscheidung war daher aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Das FG wird gegebenenfalls noch zu prüfen haben, inwieweit der Erlaß des Haftungsbescheides trotz fehlerfreier Ermessensausübung etwa wegen unzureichender Bekanntgabe der Abwägung des Für und Wider einer Inanspruchnahme als rechtswidrig anzusehen ist (vgl. BFH-Urteil vom 24. September 1976 I R 41/75, BFHE l20, 212, 216f., BStBl II 1977, 127).
Fundstellen
Haufe-Index 425997 |
BStBl II 1981, 471 |
BFHE 1981, 77 |