Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei urlaubsbedingter Abwesenheit. Vorkehrungen eines Geschäftsinhabers hinsichtlich möglicher Zustellungen
Leitsatz (redaktionell)
- Wer eine ständige Wohnung hat und diese nur vorübergehend während eines Urlaubs nicht benutzt, braucht für diese Zeit keine besonderen Vorkehrungen hinsichtlich möglicher Zustellungen zu treffen. Das gilt auch dann, wenn der Betroffene als Zustellungsanschrift das Geschäftslokal angegeben hat, in welchem er sich als Geschäftsinhaber ständig aufzuhalten pflegt, oder wenn Geschäfts- und Privatanschrift zusammenfallen, so daß in beiden Fällen eine Zustellung durch Aushändigung an einen der in § 183 Abs. 1 ZPO genannten Betriebsangehörigen möglich ist. Aus dieser Erleichterung der Zustellungsmöglichkeit darf dem Betroffenen unter dem Gesichtspunkt des Anspruchs auf rechtliches Gehör aber kein Nachteil erwachsen.
- Zwischen den Ersatzzustellungen nach den §§ 181, 182 und 183 ZPO besteht unter dem Gesichtspunkt der Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör kein verfassungsrechtlich relevanter Unterschied.
- Die eidesstattliche Versicherung des Betroffenen selbst ist ein zureichendes Mittel zur Glaubhaftmachung eines Urlaubs in einer allgemeinen Ferienzeit als Wiedereinsetzungsgrund.
Normenkette
ZPO §§ 181-182, 183 Abs. 1; GG Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
LG Mönchengladbach (Beschluss vom 01.10.1973; Aktenzeichen 10 Qs 435/73 (4)) |
AG Viersen (Beschluss vom 13.09.1973; Aktenzeichen 5 OWi 269/73) |
Gründe
A. – I.
1. Der Oberkreisdirektor des Kreises Kempen-Krefeld (Kreisordnungsbehörde) erließ gegen den Beschwerdeführer am 13. Juni 1973 wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit einen Bußgeldbescheid über 100.- DM. Zuvor hatte sich der Beschwerdeführer durch seinen Verteidiger gegenüber der Polizei geäußert.
Der Bußgeldbescheid wurde am 20. Juni 1973 durch Übergabe an eine Angestellte im Geschäftslokal des Beschwerdeführers zugestellt. Nach seinen Angaben befand sich der Beschwerdeführer vom 5. Juni bis zum 4. Juli 1973 auf einer Urlaubsreise. Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 6. Juli 1973, eingegangen bei der Kreisordnungsbehörde am 9. Juli 1973, legte er Einspruch gegen den Bußgeldbescheid ein und beantragte zugleich die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Einspruchsfrist.
Er ließ vortragen, durch die urlaubsbedingte Abwesenheit sei er an einer rechtzeitigen Einlegung des Einspruchs gehindert worden; in seinem Betrieb sei lediglich eine “Notvertretung” eingerichtet gewesen. Die Richtigkeit des anwaltlichen Vortrags versicherte er an Eides Statt.
2. Das Amtsgericht Viersen verwarf das Gesuch um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand mit Beschluß vom 13. September 1973. Eine “hinreichende Glaubhaftmachung der Versäumnisgründe” liege nicht vor; die eigene eidesstattliche Versicherung des Beschwerdeführers genüge dafür nicht.
3. Der Beschwerdeführer erhob durch seinen Verteidiger sofortige Beschwerde. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts reiche in einem Fall wie dem vorliegenden schon die “schlichte Erklärung des Betroffenen” zur Glaubhaftmachung aus; um so mehr müsse dies für seine eidesstattliche Versicherung gelten.
4. Das Landgericht Mönchengladbach verwarf am 1. Oktober 1973 die sofortige Beschwerde “aus den zutreffenden Gründen des angefochtenen Beschlusses” als unbegründet.
5. Über den Einspruch des Beschwerdeführers ist noch nicht entschieden.
II.
Mit der Verfassungsbeschwerde greift der Beschwerdeführer diese Beschlüsse an. Amts- und Landgericht hätten die Anforderungen an die Glaubhaftmachung des Wiedereinsetzungsgrundes unter Verkennung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör überspannt.
III.
Der Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen, dem Gelegenheit zur Äußerung gegeben wurde, hat von einer Stellungnahme abgesehen.
B.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.
1. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits mehrfach entschieden, daß immer dann, wenn im Strafbefehls- und im Bußgeldverfahren der “erste Zugang” zum Gericht in Frage steht, die Anforderungen, was der Betroffene zur Wahrung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör zu tun habe, nicht überspannt werden dürfen (vgl. BVerfGE 25, 158 [166]; 26, 315 [318]; 31, 388 [390]; 34, 154 [156]; 35, 296 [298]). Im Bußgeldverfahren eröffnet erst der Einspruch die Möglichkeit, den Fall einem Gericht vorzutragen. Wird die Frist für den Einspruch versäumt, so hängt diese Möglichkeit ausschließlich von der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ab. Deshalb dient in solchen Fällen die Wiedereinsetzung in höherem Maße als sonst der Wahrung des Grundrechts aus Art. 103 Abs. 1 GG. Das verkennen die angegriffenen Entscheidungen.
2. Wer eine ständige Wohnung hat und diese nur vorübergehend während eines Urlaubs nicht benutzt, braucht für diese Zeit keine besonderen Vorkehrungen hinsichtlich möglicher Zustellungen zu treffen (BVerfGE 25, 158 [166]; 26, 315 [319]; 34, 154 [156]). Das gilt auch dann, wenn der Betroffene als Zustellungsanschrift das Geschäftslokal angegeben hat, in welchem er sich als Geschäftsinhaber ständig aufzuhalten pflegt, oder wenn Geschäfts- und Privatanschrift zusammenfallen, so daß in beiden Fällen eine Zustellung durch Aushändigung an einen der in § 183 Abs. 1 ZPO genannten Betriebsangehörigen möglich ist. Denn hierdurch wird normalerweise die Zustellung nur erleichtert, weil in den Geschäftsräumen während der Geschäftszeit der Inhaber oder andere empfangsberechtigte Personen eher anzutreffen sind als in der Wohnung. Aus dieser Erleichterung der Zustellungsmöglichkeit darf dem Betroffenen unter dem Gesichtspunkt des Anspruchs auf rechtliches Gehör aber kein Nachteil erwachsen.
Ob der Geschäftsinhaber für die Zeit seiner Urlaubsabwesenheit oder für Betriebsferien Vorkehrungen zur Erledigung dringender geschäftlicher Angelegenheiten trifft – z. B. wie hier eine “Notvertretung” einrichtet – ist ebenfalls unbeachtlich. Denn diese Vertretung braucht und wird in aller Regel nicht ermächtigt sein, Angelegenheiten aus der Privatsphäre des Geschäftsinhabers, insbesondere Straf- und Bußgeldsachen, wahrzunehmen.
Schließlich fällt nicht entscheidend ins Gewicht, daß es sich hier – anders als in den bisher entschiedenen Fällen, in denen die Ersatzzustellung durch Niederlegung bei der Postanstalt (§ 182 ZPO) erfolgte – um eine Ersatzzustellung gemäß § 183 ZPO handelt. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits ausgesprochen, daß zwischen den Ersatzzustellungen nach §§ 181 und 182 ZPO unter dem Gesichtspunkt der Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ein verfassungsrechtlich relevanter Unterschied nicht besteht (BVerfGE 25, 158 [165]). Daran fehlt es auch im Verhältnis zu § 183 Abs. 1 ZPO.
3. Wenn Amts- und Landgericht bei dieser Sachlage eine Entscheidung darüber, ob sie den behaupteten Wiedereinsetzungsgrund für gegeben hielten, schon deshalb ablehnten, weil die eidesstattliche Versicherung des Beschwerdeführers zur Glaubhaftmachung nicht ausreiche, so haben sie damit die Anforderung daran, was ein Betroffener zur Wahrung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör zu tun habe, überspannt. Dabei kann offenbleiben, ob sonst die eigene eidesstattliche Versicherung eines Betroffenen oder Beschuldigten ein geeignetes Mittel zur Glaubhaftmachung ist, denn sie kann jedenfalls als schlichte Erklärung gewürdigt werden. Eine solche schlichte Erklärung muß aber dann als geeignetes Mittel zur Glaubhaftmachung angesehen werden, wenn es sich um einen ausgesprochen naheliegenden, der Lebenserfahrung entsprechenden Versäumungsgrund handelt und kein Anlaß besteht, an der Wahrscheinlichkeit des vorgebrachten Sachverhalts zu zweifeln (BVerfGE 26, 315 [320]). Das ist bei einem Urlaub in der allgemeinen Ferienzeit der Fall. Irgendwelche Anhaltspunkte dafür, daß das Amtsgericht oder das Landgericht begründete Zweifel an der Wahrscheinlichkeit des Vorbringens des Beschwerdeführers hatten, lassen die angegriffenen Entscheidungen nicht erkennen. Auch ist nichts für die Annahme ersichtlich, daß der Betroffene sich einer erwarteten Zustellung vorsätzlich habe entziehen wollen.
4. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf der Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß die Gerichte das Wiedereinsetzungsgesuch als zulässig angesehen hätten, wenn sie die Bedeutung und Tragweite des Art. 103 Abs. 1 GG beachtet hätten. Sie hätten dann das Vorbringen des Beschwerdeführers vielleicht auch im Rahmen der Sachprüfung – unter Umständen nach Durchführung weiterer Ermittlungen – für wahrscheinlich gehalten.
5. Da die angefochtenen Beschlüsse gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstoßen, sind sie aufzuheben. Die Sache ist gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG an das Gericht erster Instanz zurückzuverweisen.
6. Die dem Beschwerdeführer entstandenen notwendigen Auslagen sind zu erstatten (§ 34 Abs. 4 BVerfGG). Die Erstattungspflicht trifft das Land Nordrhein-Westfalen, dem die erfolgreich gerügte Grundrechtsverletzung zuzurechnen ist.
C.
Diese Entscheidung ist mit vier zu zwei Stimmen ergangen.
Fundstellen
Haufe-Index 1677238 |
BVerfGE, 100 |