Entscheidungsstichwort (Thema)
Betriebsbedingte Kündigung. Soziale Auswahl
Leitsatz (redaktionell)
Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines gewerblichen Arbeitnehmers nach § 15 Nr 1 des Rahmentarifvertrages für die gewerblichen Arbeitnehmer des Maler- und Lackiererhandwerks vom 5. November 1981 stellt eine ordentliche Kündigung mit abgekürzter Frist dar, bei der eine soziale Auswahl nach § 1 Abs 3 KSchG vorzunehmen ist.
Normenkette
KSchG § 1 Abs. 3
Verfahrensgang
LAG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 09.06.1986; Aktenzeichen 9 Sa 20/86) |
ArbG Lörrach (Entscheidung vom 12.02.1986; Aktenzeichen 1 Ca 30/86) |
Tatbestand
Der am 10. November 1953 geborene Kläger, verheiratet und 2 Kindern gegenüber unterhaltspflichtig, ist seit 20. August 1984 bei dem Beklagten als Maler beschäftigt. Sein Bruttomonatsverdienst betrug zuletzt 2.627,40 DM. Seine Ehefrau ist nicht berufstätig.
Der Beklagte beschäftigt regelmäßig mehr als 5 Arbeitnehmer, u. a. seit 1. Mai 1985 den mit dem Kläger gleichaltrigen Malergesellen S, dessen Ehefrau berufstätig ist und der für keine Kinder unterhaltspflichtig ist.
Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet der Rahmentarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer des Maler- und Lackiererhandwerks vom 5. November 1981 (im folgenden RTV) Anwendung, dessen § 15 Ziff. 1 und 3 wie folgt lautet:
Arbeitsverhinderung wegen schlechter Witterung
1. Wird die Arbeitsausführung wegen schlechter Witterung
in der Zeit vom 15. November bis 15. März
für voraussichtlich längere Zeit undurchführbar, kann
dem Arbeitnehmer bei Arbeitsbeginn zum nächsten Tag
gekündigt werden.
Wird nicht bei Arbeitsbeginn, sonden erst im Laufe des
Tages gekündigt, wird die Kündigung erst am übernächsten
Tag wirksam.
3. Bei Wiederaufnahme der Arbeit ist der Arbeitnehmer wieder
einzustellen. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, den Arbeitnehmer
von der Wiederaufnahme der Arbeit unverzüglich
zu benachrichtigen.
Der Beklagte kündigte dem Kläger mit Ende der von Weihnachten 1985 bis 6. Januar 1986 dauernden Betriebsferien am 6. Januar 1986 um 21.00 Uhr telefonisch zum 6. Januar 1986 wegen schlechter Witterung.
Der Kläger hält die Kündigung für unwirksam. Er hat vorgetragen: Gründe für eine ordentliche Kündigung hätten nicht vorgelegen. Eine Arbeitsverhinderung wegen schlechter Witterung sei nicht gegeben gewesen. Der Beklagte habe nicht allen seinen gewerblichen Arbeitnehmern gekündigt, sondern nur zweien. Auf der Baustelle, auf der er bis Weihnachten 1985 gearbeitet habe, seien insgesamt vier Arbeitnehmer beschäftigt gewesen, unter ihnen auch der Arbeitnehmer S. Nach den Betriebsferien seien die Innenarbeiten auf der Baustelle wieder aufgenommen worden, insbesondere habe der Arbeitnehmer S. vom 7. Januar bis 5. Februar 1986 dort gearbeitet und sei anschließend in Urlaub gegangen. S. sei weniger schutzwürdig als er, da dieser erheblich kürzer als er dem Betrieb angehöre. Da die Kündigung somit unwirksam sei, müsse der Beklagte ihn weiterbeschäftigen und schulde ihm Lohn für die Zeit vom 7. Januar bis 31. Januar 1986 in Höhe von 2.295,20 DM.
Der Kläger hat beantragt,
1. festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis der
Parteien durch die Kündigung zum 6. Januar
1986 nicht aufgelöst worden sei, sondern über
diesen Zeitpunkt hinaus fortbestehe;
2. die Beklagte zu verurteilen, ihn weiterzubeschäftigen;
3. die Beklagte zu verurteilen, an ihn 2.295,20 DM
brutto zuzüglich 4 % Zinsen aus dem Nettobetrag
zu zahlen.
Der Beklagte hat Klagabweisung begehrt.
Er hat geltend gemacht, seine auf § 15 RTV gestützte Kündigung sei als außerordentliche Kündigung anzusehen, eine Sozialauswahl sei daher nicht erforderlich. Gründe für eine Kündigung hätten vorgelegen. Auf der Baustelle, auf der der Kläger zuletzt mit 2 weiteren Arbeitnehmern eingesetzt gewesen sei, seien die Innenarbeiten Weihnachten 1985 beendet worden. Noch notwendige Außenarbeiten hätten wegen Schnee und Kälte am 7. Januar 1986 nicht beginnen können. Gerade für diese Fälle sehe § 15 RTV die außerordentliche Kündigung vor, wobei allerdings das Arbeitsverhältnis nicht am 6. Januar sondern erst zum Ende des 7. Januar 1986 geendet hätte.
Es seien allerdings noch wegen eines Wasserschadens Nachbesserungsarbeiten im Gesamtumfang von 24 Arbeitsstunden angefallen, wovon 10 auf den Arbeitnehmer S. entfallen seien. S. sei noch bis 5. Februar 1986 weiterbeschäftigt worden, vom 6. Februar bis 14. Februar sei er zum Abfeiern von Überstunden freigestellt worden, habe am 17. Februar 1986 wieder mit der Arbeit begonnen und habe bis zum Wiedereintritt des Klägers am 15. März 1986 mit einer kurzen Unterbrechung wegen Arbeitsunfähigkeit wieder gearbeitet. S. habe die Absicht gehabt, die Meisterschule zu besuchen, so daß mit seinem Ausscheiden hätte gerechnet werden können, zudem sei mit ihm ausgemacht worden, daß er die Überstunden "abfeiern" solle, was in der auftragsschwachen Zeit eine betriebliche Entlastung mit sich bringe. Wegen dieser Besonderheiten hätte er S nicht vorrangig kündigen müssen. Die anderen bei ihm beschäftigten Junggesellen seien erheblich länger als der Kläger bei ihm beschäftigt (15, 10 und 6 Jahre) und würden sich bei der Kundschaft auskennen.
Das Arbeitsgericht hat den Klageanträgen in vollem Umfang stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Beklagte seinen Klageabweisungsantrag weiter. Der Kläger begehrt Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
I. Das Landesarbeitsgericht hat ausgeführt, die Kündigung sei unwirksam, weil der Beklagte die Regeln der sozialen Auswahl nicht beachtet habe. Bei § 15 RTV handele es sich um eine ordentliche, nahezu entfristete Kündigung. Durch die Ausgestaltung des § 15 RTV seien die Beziehungen zwischen Arbeitgeber und dem schlechtwettergekündigten Arbeitnehmer denen angenähert wie sie bei einem ruhenden Arbeitsverhältnis bestünden. Durch die Notwendigkeit einer eintägigen Kündigungsfrist hätte der Charakter einer fristlosen Kündigung vermieden werden sollen. Der Beklagte hätte dem Kläger nicht kündigen dürfen, da er angesichts seiner nicht berufstätigen Ehefrau und seiner beiden minderjährigen Kinder gegenüber dem kinderlos verheirateten Doppelverdiener S. schutzwürdiger gewesen sei. Daß der betreffende Arbeitnehmer vorübergehend urlaubsbedingt abwesend gewesen sei, erlaube keine andere rechtliche Wertung.
II. Die Ausführungen des Landesarbeitsgerichts halten der rechtlichen Überprüfung stand.
1. Das Berufungsgericht hat zutreffend die Wirksamkeit der Kündigung nach § 1 Abs. 3 KSchG geprüft, denn es ist zu Recht davon ausgegangen, daß in § 15 RTV der Fall einer fast entfristeten ordentlichen und nicht der einer außerordentlichen Kündigung geregelt ist.
a) Nach § 622 Abs. 3 BGB können durch Tarifvertrag für die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines Arbeitnehmers kürzere als die in § 622 Abs. 1 BGB genannten Kündigungsfristen vereinbart werden. Das Gesetz legt hierbei keine Mindestfrist fest, so daß auch eine völlig entfristete ordentliche Kündigung tarifvertraglich vereinbart werden kann, indem Gründe für eine sofortige Beendigung des Arbeitsverhältnisses bestimmt werden, die den Voraussetzungen des wichtigen Grundes zur außerordentlichen Kündigung nach § 626 BGB nicht entsprechen (BAG Urteil vom 2. August 1978 - 4 AZR 46/77 - AP Nr. 1 zu § 55 MTL II). Voraussetzung ist allerdings, daß in dem Tarifvertrag eindeutig eine entfristete ordentliche Kündigung und kein wichtiger Grund im Sinne von § 626 BGB geregelt wird (KR-Hillebrecht, 2. Aufl., § 622 BGB Rz 121 m.w.N).
b) Der erkennende Senat (Urteil vom 6. Juli 1961 - 2 AZR 279/60 - AP Nr. 1 zu § 143 d AVAVG) hat bereits in einem ähnlich gelagerten Fall in der Regelung des § 2 Ziff. 5 Abs. 1 BRTV für das Baugewerbe vom 20. August 1959, wonach das Arbeitsverhältnis bei Unmöglichkeit der Fortsetzung der Arbeit infolge ungünstiger Witterung in der Zeit vom 15. Oktober bis 31. März beiderseitig ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gelöst werden konnte, eine ordentliche Kündigung gesehen. Auf die zu dem damaligen Fall angestellten Überlegungen des Senats, diese Entfristung bedeute einen Vorteil für den Arbeitnehmer, da er dadurch sofort Arbeitslosengeld erhalte, während er bei einem längeren Fortbestehen des Arbeitsverhältnisses wegen Wegfalls des Lohnanspruchs ohne Einkommen wäre, ist angesichts der gesetzlichen Regelung des § 622 Abs. 3 BGB allerdings nicht mehr tragend abzustellen. Ebenso hat der Vierte Senat (Urteil vom 2. August 1978, aa0) die Reglung des § 55 MTL II, nach der das Arbeitsverhältnis während der Probezeit ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist und ohne Angabe eines Kündigungsgrundes von jeder Seite zum Schluß einer Arbeitsschicht gelöst werden kann, als eine ordentliche Kündigung behandelt.
c) Der hier einschlägige RTV regelt in § 15 Ziff.1, daß dem Arbeitnehmer bei Arbeitsbeginn zum nächsten Tag gekündigt werden kann, wenn die Arbeitsausführung wegen schlechter Witterung in der Zeit vom 15. November bis 15. März voraussichtlich längere Zeit undurchführbar wird. Die Tarifvertragsparteien gebrauchen hier nicht den Begriff "wichtiger Grund", sondern sie lassen einen unter der Unzumutbarkeit liegenden betriebsbedingten Grund zu einer fast entfristeten Kündigung genügen. Dringende betriebliche Erfordernisse, zu denen auch eine Arbeitsverhinderung wegen schlechter Witterung gehört, rechtfertigen in aller Regel nur eine ordentliche Kündigung. Eine außerordentliche Kündigung aus betrieblichen Gründen kommt nur dann in Betracht, wenn die ordentliche Kündigung ausgeschlossen und eine anderweitige Beschäftigung im Betrieb oder Unternehmen nicht möglich ist (BAGE 48, 220, 225 - 226 = AP Nr. 86 zu § 626 BGB). Auch die Tarifvertragsparteien können das gesetzliche Recht zur außerordentlichen Kündigung nicht um Gründe erweitern, die nicht das Gewicht eines wichtigen Grundes i. S. des § 626 Abs. 1 BGB haben, weil der Gesetzgeber kein tarifvertragliches Vorrangprinzip zur Regelung des Rechts zur Kündigung aus wichtigem Grunde anerkannt hat (BA Urteil vom 12. April 1978 - 4 AZR 580/76 - AP Nr. 13 zu § 626 BGB Ausschlußfrist). Auch nur Anhaltspunkte dafür, daß die Tarifvertragsparteien gesetzwidrig den Fall einer betriebsbedingten Kündigung im Sinne von § 1 KSchG als wichtigen Kündigungsgrund gemäß § 626 BGB erfassen wollten, liegen nicht vor. Sie sprechen vielmehr in § 42 Nr. 6 RTV von einem "Grund zur fristlosen Entlassung", woraus zu schließen ist, daß sie auch in ihrer Wortwahl im Tarifvertrag zwischen ordentlichen und außerordentlichen Kündigungen genau differenziert haben.
d) Auch der Umstand, daß die Möglichkeit der nahezu entfristeten ordentlichen Kündigung nicht ohne weiteres mit § 102 Abs. 2 BetrVG zu harmonisieren ist, läßt den Regelungsgehalt von § 15 RTV unberührt. Selbst bei Annahme einer außerordentlichen Kündigung könnten zeitliche Schwierigkeiten im Hinblick auf § 102 Abs. 2 Satz 3 BetrVG eintreten. Es richtet sich allein nach dem Gebot des vertrauensvollen Zusammenwirkens zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat (§ 2 BetrVG), ob der Betriebsrat in Kenntnis der tariflichen Regelungen die Anhörungsfrist stets voll ausnutzen darf (vgl. dazu KR-Etzel, aa0, § 102 BetrVG Rz 88 und Rz 91 zur außerordentlichen Kündigung).
2. Die von dem Beklagten ausgesprochene ordentliche Kündigung war jedenfalls nach § 1 Abs. 3 KSchG sozialwidrig, weil er bei der Auswahl soziale Gesichtspunkte nicht berücksichtigt hat und die Voraussetzungen nach § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG, in dessen Rahmen allein betriebliche Belange von Bedeutung sind (BAGE 42, 151 = AP Nr. 12 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung), nicht dargetan sind. Es kann deshalb dahingestellt bleiben, ob die vom Kläger bestrittenen dringenden betrieblichen Erfordernisse nach § 1 Abs. 2 KSchG für eine Kündigung nach § 15 RTV vorlagen.
a) Die soziale Auswahl nach § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG erstreckt sich innerhalb des Betriebes auf alle Arbeitnehmer, die miteinander vergleichbar, austauschbar, sind (BAG Urteil vom 7. Februar 1985 - 2 AZR 91/84 - AP Nr. 9 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl). Die Vergleichbarkeit des Klägers zumindest mit dem Arbeitnehmer S. ist unter Zugrundelegung arbeitsplatzbezogener Merkmale vorliegend gegeben. Sofern der Beklagte überhaupt eine dahingehende Überlegung angestellt hat, ist der Kläger jedenfalls schutzwürdiger als der von ihm bezeichnete Arbeitnehmer. Der Kläger gehört länger dem Betrieb an, seine Ehefrau ist anders als die des Arbeitnehmers S. nicht berufstätig und er ist zwei Kindern gegenüber unterhaltspflichtig.
Die Voraussetzungen nach § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG hat der Beklagte nicht hinreichend vorgetragen. Er hat keine wirtschaftlichen oder sonstigen berechtigten betrieblichen Interessen geltend gemacht, die die Weiterbeschäftigung von S. erfordert hätten. Es ist weder einsichtig noch dargetan, wieso der Umstand, daß S. wegen eines Meisterkurses bald ausgeschieden wäre, zum Zeitpunkt der Kündigung des Klägers vorrangig seine Weiterbeschäftigung erfordert haben soll. Das gilt auch für den Hinweis, S. sei bereit gewesen, "später" Überstunden abzufeiern. Ein Abfeiern angesammelter Überstunden zu späterer Zeit (ab 6. Februar) begründet kein berechtigtes Interesse, den Arbeitnehmer S. ab 7. Januar 1986 anstelle des Klägers weiterzubeschäftigen.
Hillebrecht Dr. Weller Ascheid
Dr. Kirchner Rupprecht
Fundstellen
Haufe-Index 437891 |
DB 1988, 185-185 (LT) |
NZA 1988, 52-53 (LT) |
RdA 1987, 320 |
RzK, I 3e Nr 5 (LT1) |
ZTR 1988, 27-27 (LT) |
AP § 1 KSchG Soziale Auswahl (LT1), Nr 16 |
AR-Blattei, ES 1020 Nr 280 (LT) |
AR-Blattei, Kündigungsschutz Entsch 280 (LT) |
EzA § 1 KSchG Soziale Auswahl, Nr 25 (LT1) |