Entscheidungsstichwort (Thema)
Zolltarifliche Einreihung von Nachthemden
Leitsatz (NV)
1. Zur Anwendung und Umsetzung des vom BFH eingeholten Vorabentscheidungsurteils des EuGH vom 20. November 1997 Rs. C-338/95, EuGHE 1997, I 1997, 6495- 6526, zum zolltariflichen Begriff "Nachthemden" auf den konkreten Streitfall.
2. Hat der EuGH im Vorabentscheidungsverfahren (1.) die Tarifierung der streitgegenständlichen Waren nicht unmittelbar entschieden und reichen die vom FG getroffenen tatsächlichen Feststellungen für die Beurteilung aus, daß die betreffenden Kleidungsstücke nach ihren objektiven Merkmalen im wesentlichen zum Tragen im Bett bestimmt und damit als Nachthemden im Sinne des Zolltarifs anzusehen sind, trifft der BFH die endgültige Tarifierungsentscheidung.
Normenkette
GZT 1985 Tarifst. 60.04 B IV b 2 bb; GZT 1985 Tarifst. 60.05 A II b 4 cc 22; FGO § 116 Abs. 2
Tatbestand
I. Für die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) wurden am 2. Januar 1985 thailändische Textilien wie angemeldet als "Damen-Nachthemden" (aus synthetischen Spinnstoffen: 65 % Polyester, 35 % Baumwolle) der Tarifst. 60.04 B IV b 2 bb des damaligen Gemeinsamen Zolltarifs (GZT) = Code- Nr. 6004 530 00 des Deutschen Gebrauchszolltarifs (DGebrZT) nach teilweiser Tarifbeschau zoll- und außenwirtschaftsrechtlich zum freien Verkehr abgefertigt und auf das Zollkontingent für "Nachthemden"angerechnet. Aufgrund einer nachträglichen Überprüfung gelangte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Hauptzollamt -- HZA --) zu der Auffassung, daß es sich um "Kleider" der Tarifst. 60.05 A II b 4 cc 22 GZT = Code- Nr. 6005 460 00 DGebrZT gehandelt habe, und erhob dementsprechend Zoll nach.
Die Klage der Klägerin hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) hielt die Tarifauffassung des HZA für zutreffend. Die Waren seien zolltariflich Kleider, da sie nach ihrer Beschaffenheit auch als (Freizeit-)Kleider getragen werden könnten, während unter Nachthemden zolltariflich nur Kleidungsstücke zu verstehen seien, die ausschließlich im Bett getragen werden könnten. Dabei stützte sich das FG auf ein Urteil des erkennenden Senats (vom 21. August 1990 VII K 16--26/89, BFH/NV 1991, 422), mit dem entschieden worden ist, daß "Nachthemden" i. S. der Position 6108 der Kombinierten Nomenklatur (KN) 1989 eindeutig erkennbar ausschließlich zum Tragen als Nachtkleidung bestimmt sein müssen.
Mit der Revision gegen dieses Urteil wendet sich die Klägerin in erster Linie unter Hinweis auf die von ihr beigebrachten Privatgutachten gegen die zolltarifliche Beurteilung in der Vorentscheidung. Sie trägt dazu vor, die Möglichkeit, einige der Textilien auch als Strandkleider zu tragen, ändere nichts an der gebotenen Tarifierung als Nachthemden. Wesentlich sei vielmehr auch, daß die Waren eine typische Wäscheverarbeitung aufwiesen und als "Nachtwäsche" geliefert worden seien.
Das HZA hält die Revision der Klägerin für unbegründet. Es hält insbesondere die auch von der Vorinstanz gebilligte Tarifierung unter Hinweis auf das Senatsurteil in BFH/NV 1991, 422 für richtig.
Der erkennende Senat hatte Zweifel, ob die von ihm in BFH/NV 1991, 422 vertretene Tarifauffassung noch aufrechterhalten werden konnte, nachdem der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) mit Urteil vom 9. August 1994 C-395/93 -- Neckermann- Versand --, EuGHE 1994, I-4034, entschieden hatte, daß "Schlafanzüge" i. S. der Position 6108 KN 1989 auch solche textile Zusammenstellungen sind, die nach ihrem äußeren Erscheinungsbild im wesentlichen zum Tragen im Bett bestimmt sind. Der Senat hat daher dem EuGH mit Beschluß vom 12. September 1995 VII R 11/95 (BFH/NV 1996, 445) die folgende Auslegungsfrage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
"Ist der Begriff ,Nachthemden` i. S. der Tarifnummer 60.04 des Gemeinsamen Zolltarifs 1985, insbesondere in Tarifstelle 60.04 B IV b 2 bb, dahin auszulegen, daß er ausschließlich ,andere` Unterkleidung erfaßt, die aufgrund ihrer Beschaffenheit eindeutig dazu bestimmt ist, nur als Nachtkleidung getragen zu werden, oder umfaßt er auch Erzeugnisse, die nach ihrer Aufmachung zwar nicht nur, jedoch im wesentlichen zum Tragen im Bett bestimmt sind?"
Der EuGH hat daraufhin mit Urteil vom 20. November 1997 C-338/95 (Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung -- HFR -- 1998, 237) wie folgt entschieden:
"Die Tarifstelle 60.04 B IV b 2 bb des Gemeinsamen Zolltarifs in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 3400/84 des Rates vom 27. November 1984 zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 950/68 über den Gemeinsamen Zolltarif erfaßt Unterkleidung, die nach ihren objektiven Merkmalen dazu bestimmt ist, ausschließlich oder im wesentlichen im Bett getragen zu werden."
Die Beteiligten hatten Gelegenheit, sich zu diesem Vorabentscheidungsurteil zu äußern.
Die Klägerin ist der Ansicht, die tatsächlichen Feststellungen des FG reichten aus zu erkennen, daß die streitbefangenen Kleidungsstücke dazu bestimmt seien, im wesentlichen im Bett getragen zu werden. Damit seien sie zolltariflich Nachthemden.
Sie beantragt sinngemäß, die Vorentscheidung und die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen -- soweit diese die Nachthemden für die Einfuhr vom 2. Januar 1985 betreffen -- aufzuheben, hilfsweise das HZA zu verpflichten, ihr ... DM Zoll zu erlassen bzw. ... DM Zoll zu erstatten.
Das HZA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die als Revision gegen ein Urteil in Zolltarifsachen statthafte (§116 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --) und auch im übrigen zulässige Revision der Klägerin ist begründet. Das FG hat, ausgehend von einer unzutreffenden Tarifauffassung, rechtsfehlerhaft die Klage abgewiesen. Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden (§126 Abs. 3 Nr. 1 FGO). Die Verwaltungsentscheidungen verletzen die Klägerin in ihren Rechten und waren daher, soweit sie angefochten sind, aufzuheben (§100 Abs. 1 Satz 1 FGO).
Bei den streitgegenständlichen Waren handelt es sich, wie von der Klägerin bei der Einfuhr vom 2. Januar 1985 angemeldet und vom HZA ursprünglich angenommen, um Nachthemden der Tarifst. 60.04 B IV b 2 bb GZT 1985.
a) Nach der vom Senat in diesem Verfahren eingeholten Vorabentscheidung des EuGH, an die der Senat gebunden ist, steht fest, daß zur vorgenannten Tarifstelle nicht nur Unterkleidung gehört, die nach ihren objektiven Merkmalen ausschließlich dazu bestimmt ist, im Bett getragen zu werden, sondern auch solche, die im wesentlichen hierfür bestimmt ist (Abs. 20 und 22 der Gründe). Unschädlich für die Tarifierung als Nachthemd ist folglich die Möglichkeit, daß das Kleidungsstück auch zu anderen Zwecken verwendet werden kann (Abs. 15). Allerdings muß diese Möglichkeit von untergeordneter, unwesentlicher oder nebensächlicher Bedeutung sein, denn die Möglichkeit, daß die Kleidungsstücke unterschiedslos im Bett oder an bestimmten anderen Orten getragen werden können, schließt eine Tarifierung als Nachthemd aus (Abs. 21).
b) Entsprechend der Vorlagefrage des Senats hat der EuGH nicht, wie man bei separater Betrachtung vielleicht dem mißverständlich formulierten Abs. 15 der Gründe des Urteils entnehmen könnte ("Da" statt "wenn bzw. sofern"), unmittelbar die Tarifierung der streitgegenständlichen Waren entschieden, sondern sich auf die Beantwortung der ihm gestellten Rechtsfrage beschränkt. Dies ergibt sich eindeutig aus Abs. 21 der Gründe, in dem der EuGH es ausdrücklich als Sache des nationalen Gerichts bezeichnet, "im Rahmen des bei ihm anhängigen Rechtsstreits zu prüfen, ob die fraglichen Kleidungsstücke mit Rücksicht auf ihren Schnitt, ihre Zusammensetzung, ihre Aufmachung und die Entwicklung der Mode im betreffenden Mitgliedstaat solche objektiven Merkmale" (d. h. aus denen sich ergibt, daß die Kleidungsstücke dazu bestimmt sind, ausschließlich oder im wesentlichen im Bett getragen zu werden) "aufweisen oder ob sie unterschiedslos im Bett oder an bestimmten anderen Orten getragen werden können". Dem entspricht auch der Vorbehalt, den der erkennende Senat am Ende seines Vorlagebeschlusses formuliert hat, daß nämlich bei "weiter" Auslegung des zolltariflichen Begriffs "Nachthemd", so wie der EuGH auch ausschließlich entschieden hat, der Senat darüber zu befinden hätte, ob die vom FG getroffenen Feststellungen für eine Beurteilung ausreichend sind oder ob sie noch der Ergänzung bedürfen.
c) Nach der Vorabentscheidung des EuGH hat sich die von der Vorinstanz zugrunde gelegte Tarifauffassung, zur Tarifst. 60.04 B IV b 2 bb GZT 1985 gehörten nur solche Kleidungsstücke, die aufgrund ihrer Beschaffenheit ausschließlich zum Tragen als Nachtkleidung im Bett bestimmt seien, als unzutreffend erwiesen. Der Senat ist indessen mit der Klägerin der Auffassung, daß die vom FG getroffenen tatsächlichen Feststellungen für die Beurteilung ausreichen, daß die streitgegenständlichen Kleidungsstücke nach ihren objektiven Merkmalen im wesentlichen zum Tragen im Bett bestimmt und damit als Nachthemden im Sinne dieser Tarifstelle anzusehen sind.
Nach den Feststellungen des FG handelt es sich bei der Ware mit der firmeninternen Produktnummer A um ein leichtes Kleidungsstück aus gelbem Baumwollmischgewebe, nicht durchscheinend, bis an das Knie reichend, weitgeschnitten, mit U- Boot-Ausschnitt, kurzen Ärmeln und bedruckt mit einem in roter Farbe in Umrissen angebrachten Bärenbild mit der Aufschrift "Sleepie". Nach der Auffassung eines von der Industrie- und Handelskammer öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen für Damen-Oberbekleidung, der ein Privatgutachten für die Klägerin abgegeben hat, sei diese Ware zwingend als Nachtkleidung bestimmt. Der Aufdruck "Sleepie" sei gerade bei Nachthemden Ausdruck des Modetrends in jener Zeit (1986). Es könne aber nicht ausgeschlossen werden, daß "bei dem heutigen Trend in modischen Bekleidungsstücken auch sogenannte Nachthemden von einer geringen Anzahl von Trägerinnen am Strand oder auf der Promenade getragen werden" könnten.
Die Ware mit der Produktnummer B ist -- so das FG -- ein leichtes Kleidungsstück aus weißem, nicht durchscheinendem Stoffgewirke (65 % Polyester und 35 % Baumwolle) mit einem weiten halsfernen U-Boot- förmigen Ausschnitt, ärmellos, mit geradem, weitem Schnitt, bis zu den Oberschenkeln reichend, mit Bindegürtel an der Taille und mit bunten, zwei Schwimmerinnen zeigenden Aufdruck in den Farben gelb, rosa, grau und grün. Der Sachverständige hat diese Ware nach den oben angeführten Kriterien als "90 % Nachthemd, 10 % Strandkleid" beurteilt.
Die Ware mit der Produktnummer C schließlich ist nach den Feststellungen des FG ein leichtes Kleidungsstück mit längsgestreiftem, nicht durchscheinendem Stoff in den Farben weiß, gelb, hell- und dunkellila, mit halsnahem, U-Boot-artigem Ausschnitt, kurzen eingesetzten Ärmeln aus weißem Stoff, weitem Schnitt, bis zu den halben Oberschenkeln reichend, mit Bindegürtel an der Taille. Die Ware wird in einem von der Klägerin beigebrachten Privatgutachten eines öffentlich bestellten Sachverständigen für Bekleidungstechnik sowie eines Dozenten für modische Gestaltung und dreier Bekleidungstechnikerinnen einstimmig als Nachthemden zugeordnet. Eine Verwendung als Kleid wird als völlig unwahrscheinlich angesehen. Die Kombination von Material, Druckmotiv und Verarbeitung sei typisch für Wäsche.
Da die Gutachten weitgehend Beurteilungskriterien zugrunde legen, die auch der EuGH in seinem Vorabentscheidungsurteil als typische Merkmale für die objektive Beschaffenheit der Ware ansieht, nämlich Schnitt, Zusammensetzung und Aufmachung der Kleidungsstücke sowie die Entwicklung der Mode in dem betreffenden Mitgliedstaat (Abs. 21 der Gründe), ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, daß die betreffenden Kleidungsstücke dazu bestimmt sind, im wesentlichen als Nachtwäsche im Bett getragen zu werden. Dies wird bestätigt durch den unwidersprochen gebliebenen Vortrag der Klägerin, daß die streitbefangenen Waren tatsächlich wie Nachthemden verwendet worden sind, indem sie an die Nachtwäscheabteilung eines großen Kaufhauses geliefert worden sind. Schließlich hat sich nach Auffassung des erkennenden Senats das FG ausweislich seiner Urteilsgründe nur deshalb nicht zu einer Tarifierung als Nachthemd entschließen können, weil es irrtümlich davon ausging, daß nach der fraglichen Tarifstelle des GZT eine ausschließliche Bestimmung als Nachtkleidung erforderlich sei. Eine Bestimmung aber, im wesentlichen im Bett getragen zu werden, hat das FG bei den streitgegenständlichen Kleidungsstücken nicht ausgeschlossen.
d) Da es sich bei den Kleidungsstücken mithin um Nachthemden i. S. der Tarifst. 60.04 B IV b 2 bb GZT 1985 handelt, ist der Klage in ihrem Hauptantrag stattzugeben und sind die auf einer unzutreffenden Tarifierung beruhende Vorentscheidung sowie die Verwaltungsentscheidungen, soweit sie angefochten sind, ersatzlos aufzuheben. Ein Eingehen auf die nur hilfsweise gestellten weiteren Anträge der Klägerin erübrigt sich damit.
Fundstellen
Haufe-Index 67462 |
BFH/NV 1998, 1143 |