Entscheidungsstichwort (Thema)
sozialgerichtliches Verfahren. Unzulässigkeit einer Feststellungsklage. Feststellungsinteresse. Notwendigkeit einer vorhergehenden Verwaltungsentscheidung. kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage. gesetzliche Unfallversicherung. Feststellung eines Versicherungsfalles: Arbeitsunfall oder Berufskrankheit
Leitsatz (amtlich)
Die Klage eines Versicherten auf Feststellung eines Ereignisses als Arbeitsunfall oder einer Erkrankung als Berufskrankheit setzt eine vorherige Entscheidung durch Verwaltungsakt voraus und ist nur in Form einer kombinierten Anfechtungs- und Feststellungsklage zulässig.
Normenkette
SGG §§ 54, 55 Abs. 1 Nr. 1; SGB 7 § 7
Verfahrensgang
Sächsisches LSG (Urteil vom 26.01.2006; Aktenzeichen L 2 U 56/05) |
SG Dresden (Entscheidung vom 24.02.2005; Aktenzeichen S 7 U 126/00) |
Tenor
Auf die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 26. Januar 2006 wird dieses Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten um die Anerkennung einer Berufskrankheit (BK).
Der 1944 geborene Kläger, der langjährig als Bohrer und Maschinist mit handgeführten Pressluftwerkzeugen arbeitete, beantragte im März 1998 bei einer Rechtsvorgängerin der Beklagten die Anerkennung einer BK ua wegen Gelenkbeschwerden aufgrund dieser Arbeit. Die Rechtsvorgängerin der Beklagten lehnte die Gewährung von Leistungen aufgrund der Gelenkbeschwerden ab, es liege weder eine BK Nr 2101 “Erkrankungen der Sehnenscheiden oder des Sehnengleitgewebes sowie der Sehnen- oder Muskelansätze …” noch eine BK Nr 2103 “Erkrankungen durch Erschütterungen bei Arbeit mit Druckluftwerkzeugen oder gleichartig wirkenden Werkzeugen oder Maschinen” nach der Anlage der Berufskrankheiten-Verordnung vom 31. Oktober 1997 (BGBl I 2623 ≪BKV≫) vor (Bescheid vom 5. Mai 1999, Widerspruchsbescheid vom 26. April 2000). Das Sozialgericht (SG) hat die auf die Anerkennung dieser beiden BKen gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 24. Februar 2005).
Der Kläger hat seine zunächst uneingeschränkt erhobene Berufung in der mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht (LSG) bezüglich der BK Nr 2101 zurückgenommen und beantragt, unter Abänderung des Urteils des SG und der Bescheide der Beklagten festzustellen, dass bei ihm eine BK der Nr 54 “Teilkörpervibration” der Liste zur Berufskrankheiten-Verordnung der Deutschen Demokratischen Republik vom 26. Februar 1981 (GBl I Nr 12 S 137 iVm deren Durchführungsbestimmungen vom 21. April 1981, GBl I Nr 12 S 139 ≪BKVO-DDR≫) vorliege. Das LSG hat unter Abänderung der Bescheide der Beklagten und des Urteils des SG festgestellt, dass bei dem Kläger seit Juli 1991 eine BK Nr 54 der Liste zur BKVO-DDR vorliege (Urteil vom 26. Januar 2006). Zur Begründung hat es ausgeführt, nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (≪BSG≫ Hinweis auf die Urteile vom 7. September 2004 – B 2 U 35/03 R – SozR 4-2700 § 8 Nr 6 und – B 2 U 45/03 R – SozR 4-2700 § 2 Nr 2) sei das klägerische auf die Anerkennung einer Erkrankung als BK gerichtete Begehren als Feststellungsklage iS des § 55 Abs 1 Nr 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) auszulegen. Die Voraussetzungen der BK Nr 54 der Liste zur BKVO-DDR lägen beim Kläger vor und der Versicherungsfall sei schon im Juli 1991 eingetreten. Beim Kläger seien auch die Voraussetzungen der BK Nr 2103 nach der Anlage der BKV erfüllt, wie sich aus seiner jahrzehntelangen gefährdenden Tätigkeit und dem medizinischen Gutachten von Prof. K… mit ergänzender Stellungnahme ergebe.
Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde rügt die Beklagte als Verfahrensfehler, das LSG habe über die BK Nr 54 der Liste zur BKVO-DDR entschieden, ohne dass sie hierüber ein Verwaltungsverfahren durchgeführt habe, sodass eine Prozessvoraussetzung fehle. Der Antrag des Klägers vor dem LSG, festzustellen, dass eine BK Nr 54 der Liste zur BKVO-DDR bei ihm vorliege, sei als unzulässig abzuweisen gewesen. Denn sie habe in dem angefochtenen Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides nur über die BKen Nr 2101 und Nr 2103 der Anlage der BKV entschieden. Außerdem weiche das Urteil des LSG von der Entscheidung des BSG vom 10. Oktober 2002 – B 2 U 10/02 R – ab.
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Beschwerde der Beklagten ist begründet. Eine schlüssig gerügte Verletzung des § 55 Abs 1 SGG liegt vor und führt gemäß § 160a Abs 5, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG zur Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an das LSG. Denn die Rüge der Beklagten, das LSG habe nicht sachlich über das Feststellungsbegehren des Klägers entscheiden dürfen, ist begründet.
Eine Nichtzulassungsbeschwerde ist ua begründet, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Ein derartiger Verfahrensmangel ist gegeben, wenn das Gericht, anstatt die Klage als unzulässig abzuweisen, in der Sache entscheidet (BSGE 36, 181, 182 = SozR Nr 4 zu § 1613 RVO mwN), weil bei einer fehlenden Prozessvoraussetzung das gesamte Gerichtsverfahren an einem nicht heilbaren Verfahrensmangel leidet (BSGE 3, 293 = SozR Nr 56 zu § 162 SGG).
Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt, weil das LSG nicht feststellen durfte, dass beim Kläger seit Juli 1991 eine BK Nr 54 der Liste zur BKVO-DDR vorlag. Denn der darauf gerichtete Feststellungsantrag des Klägers war unzulässig.
Mit einer Feststellungsklage (§ 55 Abs 1 Nr 1 SGG) kann ua begehrt werden, die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat. Auch im Über-Unterordnungsverhältnis zwischen Bürger und Staat oder Versichertem und öffentlich-rechtlichem Versicherungsträger ist die Feststellungsklage grundsätzlich zulässig. Vor Erhebung einer Feststellungsklage muss jedoch der Versicherte im Regelfall einen entsprechenden (Feststellungs-)Antrag an den Versicherungsträger gerichtet haben, mit dem er eine bestimmte Feststellung über das Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses begehrt hat, zB dass ein Arbeitsunfall oder eine BK vorliegt. Dies folgt schon aus Gründen der Prozessökonomie sowie dem für eine Feststellungsklage erforderlichen Feststellungsinteresse, welches fehlt, wenn der Versicherte nicht zunächst durch einen Antrag bei dem Versicherungsträger versucht hat zu klären, ob das Rechtsverhältnis besteht oder nicht. Dementsprechend muss der Bürger im Regelfall, wenn um das Bestehen eines Rechtsverhältnisses gestritten wird, zB um die Anerkennung eines Ereignisses als Arbeitsunfall oder einer Erkrankung als BK, zunächst eine entsprechende Verwaltungsentscheidung beantragen und diese im Rahmen des § 88 SGG abwarten. Erst anschließend kann er – abgesehen vom Fall des § 88 SGG – zulässigerweise eine kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage erheben (BSGE 57, 184 = SozR 2200 § 385 Nr 10; BSGE 58, 150, 152 = SozR 1500 § 55 Nr 27; BSG SozR 3-4427 § 5 Nr 1 S 4 ff; Castendiek in Handkommentar SGG, 2. Aufl 2005, § 55 RdNr 18, 27; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005, § 55 RdNr 15; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 4. Aufl 2005, IV RdNr 99).
Aus den vom LSG angeführten Entscheidungen des Senats vom 7. September 2004 (– B 2 U 35/03 R – SozR 4-2700 § 8 Nr 6 und – B 2 U 45/03 R – SozR 4-2700 § 2 Nr 2), die auf die Entscheidung vom 27. Juli 1989 (– 2 RU 54/88 – SozR 2200 § 551 Nr 35) zurückgehen, folgt nichts anderes. Nach dieser ständigen Rechtsprechung des Senats ist die Klage eines Versicherten auf Feststellung, dass bei ihm der Versicherungsfall einer BK oder eines Arbeitsunfalls eingetreten ist, nach § 55 Abs 1 Nr 1 SGG zulässig, auch wenn mit dieser Feststellung keine aktuellen Leistungsansprüche verbunden sind. Den Klagen in diesen Verfahren vorausgegangen war jedoch immer ein Verwaltungsverfahren, das mit einem für den Versicherten negativen Bescheid geendet und nicht zu der begehrten Feststellung über das Vorliegen eines Arbeitsunfalls oder einer BK geführt hatte. Soweit in der Entscheidung vom 7. September 2004 (– B 2 U 45/03 R – SozR 4-2200 § 2 Nr 2 RdNr 4) in diesem Zusammenhang der Begriff “isolierte Feststellungsklage” verwandt wird, soll mit dem Adjektiv “isoliert”, wie sich schon aus dem Bezug zu den zuvor genannten Leistungsansprüchen ergibt, die Zulässigkeit einer Feststellungsklage, auch ohne dass damit Leistungsansprüche verbunden sind, betont werden, nicht aber ein Verzicht auf die vorherige Verwaltungsentscheidung und die gegen sie gerichtete Anfechtungsklage.
Ein derartiger Verwaltungsakt der Beklagten, der von dem Kläger angefochten wurde, ist jedoch hinsichtlich der BK Nr 54 der Liste zur BKVO-DDR nicht ergangen. Denn in dem angefochtenen Bescheid der Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheides hat diese sich allein mit den BKen Nr 2101 und Nr 2103 der Anlage der BKV beschäftigt und allein über deren Nichtvorliegen eine Entscheidung getroffen. Zur BK Nr 54 der Liste zur BKVO-DDR enthalten diese Bescheide keine Ausführungen. Die Entscheidung über das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer BK bezieht sich jedoch typischerweise auf eine oder ggf mehrere bestimmte, genau definierte Krankheiten, die der Verordnungsgeber aufgrund der Ermächtigung in § 9 Abs 1 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) unter bestimmten Voraussetzung als BK bezeichnet und in der Anlage zur BKV unter einer Ordnungsnummer aufgelistet hat oder die nach § 9 Abs 2 SGB VII im Einzelfall wie eine BK zu behandeln sind (BSG vom 22. Juni 2004 – B 2 U 22/03 R –). Entsprechendes gilt auch für die BKen nach der Liste zur BKVO-DDR. Eine solche Entscheidung über bestimmte BKen beinhaltet nicht gleichzeitig die Anerkennung oder Ablehnung anderer Listenkrankheiten, die bei dem Krankheitsbild des Versicherten möglicherweise ebenfalls in Betracht kommen können. Diese Beschränkung erfolgt schon daraus, dass für jede der in Frage kommenden Krankheiten eigene Voraussetzungen gelten und es gerade der Zweck des Verwaltungsverfahrens ist, das Vorliegen dieser Voraussetzungen bezogen auf die jeweilige Krankheit zu prüfen (BSG aaO).
Ein gesonderter Verwaltungsakt bezüglicher der BK Nr 54 der Liste zur BKVO-DDR war auch nicht deshalb entbehrlich, weil diese BK sich ähnlich wie die BK Nr 2103 der Anlage zur BKV insbesondere auf Einwirkungen von handgeführten Pressluftwerkzeugen bezieht. Denn die konkreten BK-Bezeichnungen beider BKen weichen erheblich voneinander ab: Die BK Nr 2103 der Anlage der BKV lautet: “Erkrankungen durch Erschütterung bei Arbeit mit Druckluftwerkzeugen oder gleichartig wirkenden Werkzeugen oder Maschinen”, während die BK Nr 54 der Liste zur BKVO-DDR zwar kurz als BK durch “Teilkörpervibration” bezeichnet wird, in der Liste sind jedoch ausdrücklich folgende weitere Voraussetzungen für diese BK aufgeführt: “Krankheiten des Bewegungsapparates, der peripheren Gefäße und Nerven durch langzeitige lokale Einwirkung mechanischer Schwingungen beim Gebrauch von Vibrationswerkzeugen, vibrierenden Maschinen, ähnlich wirkenden Werkzeugen und Maschinen oder jahrzehntelange handwerkliche Tätigkeiten mit ähnlichen Expositionsbedingungen (zB Stemmen von Mauerwerk oder Beton mit Hammer und Meißel)”. Die BK Nr 54 der Liste zur BKVO-DDR umfasst also nicht nur Einwirkungen mit relativ niedrigen Frequenzen wie die BK Nr 2103 der Anlage der BKV sondern auch Vibrationen aufgrund hochtourig arbeitender Maschinen, die nach der Anlage zur BKV von der BK Nr 2104 erfasst werden (vgl nur Triebig/Kentner/Schiele, Arbeitsmedizin – Handbuch für Theorie und Praxis, 2003, Kapitel 4.2.1.3.1 S 283 und Kapitel 4.2.1.4.1 S 288). Außerdem ist zu beachten, dass bei der Anerkennung einer BK Nr 54 der Liste zur BKVO-DDR die besonderen Voraussetzungen des § 1150 der Reichsversicherungsordnung zu prüfen sind.
Da ein Verwaltungsakt über die Anerkennung einer BK Nr 54 nach der Liste zur BKVO-DDR bisher nicht ergangen ist, fehlt eine zwingende Prozessvoraussetzung für eine darauf gerichtete Feststellungsklage. Der Mangel konnte auch nicht dadurch geheilt werden, dass die Beklagte der Einbeziehung in das Berufungsverfahren im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem LSG nicht widersprochen hat und die Klageänderung als solche deshalb möglicherweise gemäß § 99 Abs 1 SGG zulässig war (BSGE 49, 143, 146 = SozR 5090 § 6 Nr 4). Denn auch bei einer Klageänderung ist das Vorliegen der Prozessvoraussetzungen für die geänderte Klage erforderlich (vgl nur die Entscheidung des Senats vom 9. Dezember 2003, BSGE 91, 287 = SozR 2700 § 160 Nr 1, jeweils RdNr 6 mwN).
Auf dem gerügten Verfahrensmangel kann die Entscheidung des LSG auch beruhen. Denn es ist nicht auszuschließen, dass das LSG ohne den Verfahrensfehler zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.
Auf die weitere Rüge der Beklagten kommt es für die Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde nicht an.
Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen, wenn – wie hier – die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG erfüllt sind. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch, zumal das LSG in der Sache auch die Voraussetzungen der von Anfang an im Verfahren umstrittenen BK Nr 2103 der Anlage der BKV geprüft und bejaht hat, deren Anerkennung die Beklagte in ihren Bescheiden abgelehnt hatte, ohne seinerseits eine ausdrückliche Entscheidung über diese BK zu treffen. Aus diesem Grunde scheidet auch eine Abweisung der Klage als unzulässig aus (vgl BSG, Beschluss vom 16. März 2006 – B 4 RA 24/05 B –).
Das LSG wird im wieder eröffneten Berufungsverfahren auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 1566287 |
FA 2007, 32 |
NZS 2007, 437 |
Breith. 2006, 927 |
www.judicialis.de 2006 |