Entscheidungsstichwort (Thema)
Kündigungsschutz der Arbeitnehmerin bei verspätet angezeigter Schwangerschaft
Orientierungssatz
GG Art 6 Abs. 4 gebietet die Einbeziehung auch solcher werdenden Mütter in den besonderen Kündigungsschutz des MuSchG § 9, die die Zweiwochenfrist des Abs. 1 S. 1 dieser Vorschrift für die Anzeige der Schwangerschaft an den Arbeitgeber unverschuldet versäumen, die Mitteilung aber unverzüglich nachholen (Festhaltung BVerfG, 1979-11-13, 1 BvL 24/77, BVerfGE 52, 357).
Verfahrensgang
LAG Hamburg (Entscheidung vom 14.01.1980; Aktenzeichen 4 Sa 116/79) |
ArbG Hamburg (Entscheidung vom 16.08.1979; Aktenzeichen H 2 Ca 230/79) |
Gründe
A.
I.
Die Beschwerdeführerin war bei der Beklagten des Ausgangsverfahrens als Telefonistin und Karteisachbearbeiterin beschäftigt. Mit Schreiben vom 6. Februar 1979, der Beschwerdeführerin zugegangen am 7. Februar 1979, kündigte die Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis fristgerecht zum 31. März 1979.
Am 19. März 1979 suchte die Beschwerdeführerin einen Facharzt für Frauenkrankheiten auf, weil ihre Periode Anfang März ausgeblieben war. Der Arzt stellte eine Schwangerschaft in der achten bis neunten Woche fest. Eine entsprechende Bescheinigung legte die Beschwerdeführerin ihrer Arbeitgeberin am 20. März 1979 vor.
Mit der am 25. Mai 1979 erhobenen Klage machte die Beschwerdeführerin die Unwirksamkeit der Kündigung nach § 9 Mutterschutzgesetzes (MuSchG) geltend. In der Klagebegründung führen die Bevollmächtigten der Beschwerdeführerin aus, die Versäumung der Zweiwochenfrist des § 9 Abs 1 Satz 1 MuSchG dürfe der Beschwerdeführerin nicht zum Nachteil gereichen, weil sie die Schwangerschaft innerhalb der Zweiwochenfrist selbst nicht gekannt, ihre Arbeitgeberin hiervon aber unmittelbar nach Kenntniserlangung unterrichtet habe. Mit Attest vom 31. Mai 1979 bescheinigte der die Beschwerdeführerin behandelnde Frauenarzt, er halte es für glaubhaft, daß die Beschwerdeführerin erst Mitte März 1979 Anlaß gehabt habe, an eine Schwangerschaft zu glauben. Vom medizinischen Standpunkt aus sei es nicht ausgeschlossen, daß bei einer beginnenden Gravidität die Monatsblutung noch weiter bestehe.
Das Arbeitsgericht wies die Klage ab. Die Berufung blieb erfolglos. Die Gerichte führen aus, es könne dahinstehen, ob die Beschwerdeführerin bei Zugang der Kündigung bereits Kenntnis von ihrer Schwangerschaft gehabt habe; jedenfalls habe sie ihre Arbeitgeberin nicht innerhalb der zweiwöchigen Ausschlußfrist des § 9 Abs 1 Satz 1 MuSchG von der bestehenden Schwangerschaft unterrichtet. Damit habe die Beschwerdeführerin aber den besonderen Kündigungsschutz des § 9 MuSchG verloren, weil es nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nicht darauf ankomme, ob die Arbeitnehmerin die Zweiwochenfrist des § 9 Abs 1 Satz 1 MuSchG verschuldet oder unverschuldet versäumt habe. Hiergegen bestünden auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Bei Frühschwangerschaften bestehe für einen besonderen Kündigungsschutz kein Bedürfnis. Durch die allgemeine Unkenntnis der Schwangerschaft sei eine Benachteiligung der schwangeren Arbeitnehmerin ohnedies nicht denkbar. Das Landesarbeitsgericht ließ die Revision nicht zu.
II.
Gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts wendet sich die Beschwerdeführerin mit der Verfassungsbeschwerde. Sie sieht sich in ihrem Grundrecht aus Art 6 Abs 4 GG verletzt und verweist hierzu auf den Beschluß des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 13. November 1979 (BVerfGE 52, 357). Die dort genannten Voraussetzungen für ein Fortbestehen des besonderen Kündigungsschutzes seien auch in ihrem Falle erfüllt. So sei sie im Zeitpunkt der Kündigung schwanger gewesen, habe ihre Arbeitgeberin aber mangels eigener Kenntnis hiervon nicht innerhalb der Zweiwochenfrist unterrichten können. Die Benachrichtigung habe sie unverzüglich nachgeholt, nachdem sie selbst von ihrer Schwangerschaft erfahren habe.
III.
1. Die Bundesregierung hat im Hinblick auf den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 13. November 1979 von einer Stellungnahme abgesehen.
2. Für die Begünstigte (Beklagte) des Ausgangsverfahrens haben deren Bevollmächtigte vorgetragen, die Verfassungsbeschwerde sei mangels Erschöpfung des Rechtswegs unzulässig. Im vorliegenden Falle sei die Nichtzulassungsbeschwerde wegen Abweichens der Entscheidung des Landesarbeitsgerichts vom Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 13. November 1979 statthaft gewesen. Die Revision sei auch dann zuzulassen, wenn das angegriffene Urteil von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abweiche.
Im übrigen sei darauf hinzuweisen, daß die Beschwerdeführerin den besonderen Kündigungsschutz des § 9 Abs 1 Satz 1 MuSchG nicht nur wegen der Fristversäumung nicht in Anspruch nehmen könne. Die Voraussetzungen des besonderen Kündigungsschutzes seien auch im übrigen nicht gegeben. So sei die Beschwerdeführerin im Zeitpunkt der Kündigung nicht schwanger gewesen und habe die Anzeigefrist schuldhaft versäumt. Hierzu solle im Falle einer Aufhebung des angegriffenen Urteils weiteres vorgetragen werden. Davon habe man bisher abgesehen, weil die Klage schon wegen der Fristversäumung unbegründet gewesen sei.
B.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Entgegen der Auffassung der Beklagten des Ausgangsverfahrens hat die Beschwerdeführerin vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde den Rechtsweg erschöpft (§ 90 Abs 2 BVerfGG).
Da die Revision nicht zugelassen worden war, hätte die Beschwerdeführerin lediglich Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 72a des Arbeitsgerichtsgesetzes (ArbGG) einlegen können. Dies war jedoch zur Ausschöpfung des Rechtswegs nicht erforderlich, weil die Nichtzulassungsbeschwerde aussichtslos gewesen wäre (BVerfGE 16, 1 (2f)).
Eine Nichtzulassungsbeschwerde wegen grundsätzlicher Bedeutung kann nur noch in den in § 72a Abs 1 Nr 1 bis 3 ArbGG aufgezählten Fällen erhoben werden. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Wegen Divergenz ist die Nichtzulassungsbeschwerde nach § 72a Abs 1 ArbGG zwar statthaft; sie hätte aber im vorliegenden Falle nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts keine Aussicht auf Erfolg gehabt (vgl AP Nr 31 zu § 72 ArbGG 1953 – Divergenzrevision; nicht veröffentlichte Beschlüsse vom 20. April 1979 - 5 AZR 64/79 – und vom 19. Juni 1979 - 5 AZR 461/79 -).
C.
Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet.
1. Die angefochtene Entscheidung verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art 6 Abs 4 GG. Nach dieser Vorschrift hat jede Mutter Anspruch auf Schutz und Fürsorge der Gemeinschaft. Dieser Anspruch steht insbesondere der werdenden Mutter zu (BVerfGE 32, 273 (277); 52, 357 (365)). Der Gesetzgeber trägt diesem Verfassungsauftrag mit dem in § 9 MuSchG ausgesprochenen prinzipiellen Verbot der Kündigung einer werdenden Mutter Rechnung. Wie das Bundesverfassungsgericht bereits im Beschluß vom 13. November 1979 (BVerfGE 52, 357) ausgeführt hat, gebietet Art 6 Abs 4 GG die Einbeziehung auch solcher werdender Mütter in den besonderen Kündigungsschutz des § 9 MuSchG, die die Zweiwochenfrist des Abs 1 Satz 1 dieser Vorschrift für die Anzeige der Schwangerschaft an den Arbeitgeber unverschuldet versäumen, die Mitteilung aber unverzüglich nachholen. Die hierdurch verursachte – verhältnismäßig geringfügige – Beeinträchtigung der Interessen des Arbeitgebers vermag in derartigen Fällen den Verlust des besonderen Kündigungsschutzes der werdenden Mutter nicht zu rechtfertigen (BVerfGE 52, 357 (366)).
2. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen hat die Beschwerdeführerin im Ausgangsverfahren unter Bezugnahme auf die Bescheinigung ihres behandelnden Frauenarztes vom 31. Mai 1979 behauptet. Die Gerichte sind dem nicht nachgegangen, weil sie die Klage bereits wegen Versäumung der Zweiwochenfrist abgewiesen haben; es kam deshalb für sie weder darauf an, ob die Beschwerdeführerin im Zeitpunkt der Kündigung schwanger war, noch darauf, ob sie die Zweiwochenfrist unverschuldet versäumte und die Mitteilung an den Arbeitgeber unverzüglich nachholte. Es ist nicht auszuschließen, daß die Gerichte der Arbeitsgerichtsbarkeit in Kenntnis der Ergänzungsbedürftigkeit der starren Fristregelung des § 9 Abs 1 Satz 1 MuSchG der Klage der Beschwerdeführerin stattgegeben hätten. Das angegriffene Urteil des Landesarbeitsgerichts und das von ihm bestätigte Urteil des Arbeitsgericht beruhen somit auf der Verletzung des Art 6 Abs 4 GG und sind deshalb aufzuheben.
Die Sache wird an das Arbeitsgericht zurückverwiesen (§ 95 Abs 2 BVerfGG). Wie sich aus der Stellungnahme der Beklagten des Ausgangsverfahrens ergibt, ist der nunmehr entscheidungserhebliche Sachverhalt zwischen den Parteien streitig.
Fundstellen
Haufe-Index 60558 |
BVerfGE 55, 154-159 (T) |
BVerfGE, 154 |
BB 1980, 1745-1745 (T) |
DB 1980, 2525-2526 (T) |
NJW 1981, 1313 |
NJW 1981, 1313-1313 (S) |
FamRZ 1981, 127-127 (S) |
USK, 80218 (ST1) |
WM IV 1980, 1382-1382 (ST) |
ZfSH 1980, 370-371 (ST) |
ZfSH 1981, 113-113 (S) |