Dr. Nils Häck, Dr. Julian Böhmer
a) Tatbestandsvoraussetzungen
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„1. die Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht infolge der Aufgabe des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthalts, ...” |
Rz. 350
Überblick. § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 enthält das bereits aus § 6 Abs. 1 Satz 1 bekannte erste "Ereignis", welches eine Wegzugsbesteuerung auslöst. § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 zielt auf die klassischen Fälle des physischen Wegzugs unter Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht infolge der Aufgabe jeglichen Wohnsitzes (§ 8 AO) oder des gewöhnlichen Aufenthaltes (§ 9 AO). Die allgemeinen, für sämtliche wegzugsteuerrelevanten Tatbestände i.S.v. § 6 Abs. 1 Satz 1 geltenden Voraussetzungen (natürliche Person, unbeschränkt Steuerpflichtiger i.S.v. § 6 Abs. 2, Anteil i.S.v. § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG) müssen erfüllt sein (ausf. Rz. 300 ff.). § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 regelt den bei Erfüllung des Tatbestands i.S.v § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 maßgeblichen Gewinnrealisierungszeitpunkt (s. Rz. 497). Nach Wortlaut und gesetzgeberischem Willen hat der Tatbestand überschießende Tendenzen, soweit er auch Sachverhalte erfasst, durch die das deutsche Besteuerungsrecht an den Gewinnen aus der Veräußerung der Anteile weder ausgeschlossen noch beschränkt wird (s. Rz. 359 ff.).
Rz. 351
Vergleich zu § 6 a.F. § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 entspricht nahezu wortgleich § 6 Abs. 1 Satz 1 a.F. In § 6 Abs. 1 Satz 1 a.F. hieß es: "[...] deren unbeschränkte Steuerpflicht durch Aufgabe des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts endet, [...]". Lediglich die Verwendung des Wortes "infolge" statt "durch" wirft die Frage einer inhaltlichen Änderung gegenüber der Altfassung auf (dazu Rz. 354).
Rz. 352
Gewinnrealisierungszeitpunkt. S. Rz. 497.
Rz. 353
Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht i.S.v. § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG. § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 setzt in seinem Grundtatbestand die "Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht" der natürlichen Person voraus, der die Anteile i.S. des § 17 EStG zuzurechnen sind. Die Beendigung der unbeschränkten Einkommensteuerpflicht muss sich "infolge" der Aufgabe des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthaltes vollziehen (dazu Rz. 354). § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 setzt die Beendigung der "unbeschränkten Steuerpflicht" voraus. Insoweit stellt § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 – wie auch schon § 6 Abs. 1 Satz 1 a.F. – nach seinem Wortlaut nicht auf die Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht i.S.v. § 1 Abs. 1 EStG ab. Auch der Tatbestand des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 spricht nur eine "nicht unbeschränkt steuerpflichtige Person" an. Gleiches zeigt sich in § 6 Abs. 3 Satz 1 1. Hs., 2. Hs. Nr. 3, Satz 3, Satz 5. § 6 Abs. 2 Satz 1 stellt hingegen ausdrücklich nur auf die unbeschränkte Steuerpflicht i.S.v. § 1 Abs. 1 EStG ab. Insoweit stellt sich die Frage, ob § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 auch erfüllt ist, wenn der Steuerpflichtige zwar jeglichen Wohnsitz i.S.v. § 8 AO und den gewöhnlichen Aufenthalt i.S.v. § 9 AO aufgegeben hat, aber nach § 1 Abs. 2 EStG unbeschränkt steuerpflichtig ist oder auf Antrag unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt steuerpflichtig behandelt wird. Zu § 6 a.F. war diese Frage bereits umstritten. Während § 1 Abs. 2 EStG als unbeschränkte Steuerpflicht i.S.v. § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 aufgefasst werden kann, ist dies bei § 1 Abs. 3 EStG nicht eindeutig. Der BFH hat diese Frage zu § 6 a.F. bisher offen lassen können. Bejaht man auch dies und fällt die unbeschränkte Steuerpflicht später aus anderen Gründen weg, ist § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 nicht erfüllt, weil die unbeschränkten Steuerpflicht "infolge" der Aufgabe des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts beendet worden sein muss. Hierdurch wäre es im Einzelfall möglich, die Anwendung von § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 trotz Aufgabe von Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt zu vermeiden, was aber allenfalls dann interessant sein kann, wenn zugleich auch § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 nicht greift, weil (ausnahmsweise) das deutsche Besteuerungsrecht an den Veräußerungsgewinnen uneingeschränkt erhalten bleibt. Nach Verwaltungsauffassung ist von § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AStG nur die Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht i.S.v. § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG angesprochen, der Wegfall der unbeschränkten Steuerpflicht i.S.v. § 1 Abs. 2 und Abs. 3 EStG hingegen nicht tatbestandsgemäß.
Rz. 354
"Infolge". Während § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 auf die Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht "infolge" der Aufgabe des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthaltes abstellt, sprach § 6 Abs. 1 Satz 1 a.F. vom Ende der unbeschränkten Steuerpflicht "durch" Aufgabe des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts. Ob der Gesetzgeber mit der geänderten Formulierung auch inhaltliche Änderungen beabsichtigte, ist der Gesetzesbegründung nicht zu entnehmen, aber unwahrscheinlich. Sprachlich besteht jedenfalls ein Unterschied darin, dass "infolge" – anders als "durch" – neben dem Kausalitätserfordernis auch eine gewisse zeitliche Komponente zugeschriebe...