Entscheidungsstichwort (Thema)
Pflicht zur Vorlage an den EuGH
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Europäische Gerichtshof ist gesetzlicher Richter i. S. des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Das BVerfG kontrolliert die Einhaltung des Art. 177 Abs. 3 EWGV wie die anderer Zuständigkeitsregelungen im deutschen Verfahrensrecht. Es beanstandet die Auslegung und Anwendung von Zuständigkeitsnormen nur, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind.
2. Eine letztinstanzliche Entscheidung muß erkennen lassen, ob bei einer etwaigen gemeinschaftsrechtlichen Frage die Vorlagepflicht gemäß Art. 177 Abs. 3 EWGV geprüft worden ist. Im Rahmen des der Entlastung des Revisionsgerichts dienenden Verfahrens gemäß § 554 b ZPO stellt es indes keinen Verfassungsverstoß dar, wenn das Revisionsgericht zur Begründung seiner Auffassung, daß eine Vorlage nicht in Betracht kommt, auf die insoweit einschlägige Begründung der Berufungsentscheidung erkennbar Bezug nimmt und sich diese insoweit zu eigen macht.
Normenkette
GG Art. 101 Abs. 1 S. 2; EWGV Art. 30; EWGV Art. 177 Abs. 3; ZPO § 554b; UWG §§ 1, 3
Verfahrensgang
BGH (Beschluss vom 03.11.1988; Aktenzeichen I ZR 82/88) |
OLG Köln (Urteil vom 22.01.1988; Aktenzeichen 6 U 112/87) |
LG Köln (Urteil vom 14.04.1987; Aktenzeichen 31 O 453/86) |
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob die Beschwerdeführerin dadurch in ihrem Recht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt ist, daß der Bundesgerichtshof durch den angefochtenen Beschluß nach § 554 b ZPO ihre Revision nicht angenommen und es dabei ohne ausdrückliche Begründung unterlassen hat, ein Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 177 Abs. 3 EWGV einzuleiten.
1. Die französische Muttergesellschaft der deutschen Beschwerdeführerin vertreibt ihre Parfümerie- und Kosmetikartikel außer in Frankreich auch in anderen Mitgliedstaaten der EWG. Die Beschwerdeführerin organisiert den Vertrieb dieser Produkte in der Bundesrepublik Deutschland durch einen Versandhandel und über Ladengeschäfte selbständiger Franchisenehmer.
Vor einem dieser Ladengeschäfte wurde an Passanten eine „Einladung zum Paris-Gewinnspiel” verteilt, in der es u.a. hieß: „Im X. R… können Sie Ihr Gewinnticket zu unserem Paris-Gewinnspiel abgeben …”. Zusätzlich wurde auf dem Werbeblatt angekündigt: „Hier wartet außerdem ein Willkommens-Geschenk auf Sie – als kleiner Dank für Ihren Besuch. Sie erhalten es gratis gegen Abgabe oder Einsenden dieser Karte.” Auf der Rückseite stand: „Und außerdem warten diese Vorteile auf Sie: … Ein kostenloser Hauttest. … Individuelle Schönheits-Behandlungen.”
Zur etwa gleichen Zeit ließ die Beschwerdeführerin den „Schönheits- Ratgeber” verteilen. Diesem Ratgeber war ein Werbe-Faltblatt beigeheftet, in dem unter der Überschrift: „Entdecken Sie schnell die Vorteile im X. R… ganz in Ihrer Nähe” u.a. folgende Aufforderung zu lesen war: „Machen Sie Gebrauch von der kostenlosen Hautdiagnose …”.
2. a) Nach erfolgloser Abmahnung erhob ein Verbraucherschutzverein Unterlassungsklage gegen die Beschwerdeführerin. Durch Urteil des Landgerichts Köln wurde diese u.a. verurteilt, die oben dargestellte Werbung zu unterlassen. Das Landgericht sah darin unlautere Wettbewerbsmaßnahmen gemäß §§ 1, 3 UWG. Entgegen einer Anregung der Beschwerdeführerin sah das Landgericht von einer Vorlage an den Europäischen Gerichtshof ab, weil es die auf Art. 30 EWGV gestützten gemeinschaftsrechtlichen Einwände der Beschwerdeführerin gegen die Klage nicht für stichhaltig hielt. Diese diene zur Durchsetzung der Erfordernisse des Verbraucherschutzes und der Lauterkeit des Handelsverkehrs.
b) Die Berufung der Beschwerdeführerin wurde vom Oberlandesgericht Köln im wesentlichen zurückgewiesen. Das Oberlandesgericht sah die angegriffene Werbung teilweise unter dem Aspekt des „psychologischen Kaufzwanges” (§ 1 UWG), teilweise wegen Irreführung (§ 3 UWG) als wettbewerbswidrig an.
Nach Auffassung des Oberlandesgerichts war, wenn man auf die konkreten Unterlassungsgebote abstellte, ein Verstoß gegen Europäisches Gemeinschaftsrecht nicht ersichtlich, so daß eine Vorlage nach Art. 177 EWGV schon aus Rechtsgründen nicht in Betracht komme. Die Unterlassungsgebote hinderten die französische Muttergesellschaft nicht, ihr Werbekonzept einheitlich zu entwickeln; sie seien auch nicht geeignet, ihr bei der Durchführung dieses Werbekonzepts in den einzelnen Mitgliedstaaten der EWG Mehrkosten zu verursachen oder den Absatz ihrer Produkte zu erschweren. Nach Angaben der Beschwerdeführerin werde das einheitliche Werbekonzept ohnehin an die sprachlichen und geschmacklichen Gegebenheiten im jeweiligen EWG-Mitgliedstaat angepaßt. Daher beschränke es die Beschwerdeführerin in ihrem Absatz und im Erfolg ihrer Werbung überhaupt nicht, wenn sie das, was sie in ihren Werbeprospekten angeblich ohnehin habe ausdrücken wollen, nur deutlicher herausstelle. Die Untersagung ihrer Werbung diene dem Verbraucherschutz, wie ihn jedenfalls im Grundsatz auch die Rechtsordnungen der anderen EWG-Mitgliedstaaten kannten.
3. a) Ihre Revision begründete die Beschwerdeführerin u.a. damit, daß die Auslegung des UWG durch das Berufungsgericht mit Art. 30 EWGV unvereinbar sei. Das Oberlandesgericht verlange von ihr mehr, als nach dem Lauterkeitsrecht der anderen EWG-Mitgliedstaaten notwendig sei. Es habe ferner verkannt, daß die Unterlassungsgebote für sie durchaus höhere Kosten herbeiführten. Sie und ihre französische Muttergesellschaft müßten in Zukunft ihre Werbung für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland getrennt von ihrer Werbung für alle übrigen EWG-Mitgliedstaaten konzipieren. Damit werde eine einheitliche Werbekonzeption für den Gemeinsamen Markt unmöglich gemacht und gleichzeitig der Absatz ihrer Produkte erschwert. Da es sich bei den Unterlassungsgeboten um unterschiedslos für inländische und eingeführte Erzeugnisse geltende Maßnahmen handele, die zur Handelsbeschränkung geeignet seien, hänge ihre Zulässigkeit von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 30 EWGV ab. Nach dieser Rechtsprechung seien solche Maßnahmen nur zulässig, soweit sie notwendig seien, um zwingenden Erfordernissen, insbesondere der Lauterkeit des Handelsverkehrs und des Verbraucherschutzes, gerecht zu werden. Die Beschwerdeführerin verneinte Eignung, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Unterlassungsgebote. Eine Ware, deren Vertrieb und Vertriebsweise einschließlich der Werbung den rechtlichen Anforderungen des Herkunftsstaates genügten, müsse in allen EWG-Mitgliedstaaten unabhängig davon abgesetzt werden können, ob sie die dort jeweils geltenden Anforderungen des Lauterkeitsrechts buchstabengerecht erfüllten.
b) Die Beschwerdeführerin regte beim Bundesgerichtshof an, die Frage, ob die Unterlassungsgebote als eine dem Verbot mengenmäßiger Handelsbeschränkungen gleichwirkende Maßnahme nach Art. 30 EWGV unzulässig seien, dem Europäischen Gerichtshof gemäß Art. 177 Abs. 3 EWGV zur Entscheidung vorzulegen. Der Europäische Gerichtshof habe noch keinen vergleichbaren Fall entschieden. Der Bundesgerichtshof sei auch nach den Grundsätzen des Europäischen Gerichtshofs zur sog. acte clair-Doktrin nicht berechtigt, von einer Vorlage abzusehen, weil er nicht davon überzeugt sein könne, daß im vorliegenden Fall für den Europäischen Gerichtshof und die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten die gleiche Gewißheit über die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts bestehe wie möglicherweise für ihn. Dies werde schon dadurch belegt, daß die Kommission der Europäischen Gemeinschaften aufgrund der Beschwerde der französischen Muttergesellschaft beschlossen habe, gegen die Bundesrepublik Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 169 EWGV einzuleiten.
c) Der Bundesgerichtshof hat durch den angegriffenen Beschluß entschieden, die Revision der Beschwerdeführerin nicht anzunehmen. Zur Begründung wird ausgeführt, die Rechtssache habe keine grundsätzliche Bedeutung, und die Revision hätte im Ergebnis auch keine Aussicht auf Erfolg.
4. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2, Art. 103 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG. Der Bundesgerichtshof sei nach Art. 177 Abs. 3 EWGV zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof verpflichtet gewesen und habe diese Verpflichtung willkürlich außer acht gelassen. Die Rechtsauffassung der Kommission, die zu dem Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland geführt habe, belege, daß aus der Sicht des Gemeinschaftsrechts die vom Bundesgerichtshof vertretene Auffassung eindeutig nicht haltbar sei. Wesentliches Indiz für die willkürliche Nichtbeachtung der Vorlagepflicht sei das Fehlen einer echten Begründung. Die Vermutung liege nahe, daß es dem zuständigen Senat des Bundesgerichtshofs darauf angekommen sei, eine von ihm befürchtete Entwicklung im Wettbewerbsrecht abzublocken, die durch die Vorlage an den Europäischen Gerichtshof eingeleitet worden wäre, zumal dieser Senat auch in anderen Fällen keine Vorlagebereitschaft gezeigt habe.
Die Beschwerdeführerin sieht im Fehlen der Begründung auch einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG, weil sich daraus ergebe, daß der Bundesgerichtshof seiner Verpflichtung, ihr Vorbringen zur Kenntnis zu nehmen und zu erwägen, nicht erfüllt habe. Insoweit liege gleichermaßen ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vor.
5. Zu der Verfassungsbeschwerde haben sich u.a. der Bundesminister der Justiz und der Kläger des Ausgangsverfahrens geäußert. Die Beschwerdeführerin hat zu den Äußerungen Stellung genommen und in einem weiteren Schriftsatz die Begründung ihrer Verfassungsbeschwerde ergänzt.
a) Der Bundesminister der Justiz hat sich in seiner im Namen der Bundesregierung abgegebenen Stellungnahme auf die Frage beschränkt, ob in Fällen, in denen eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof gemäß Art. 177 Abs. 3 EWGV in Betracht komme oder beantragt worden sei, die Entscheidung eines obersten Bundesgerichts ohne Begründung ergehen kann. Nach Auffassung der Bundesregierung bedarf die Entscheidung eines Bundesgerichts, durch die eine Revision nicht angenommen wird (§ 554 b ZPO), in den Fällen, in denen eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof in Betracht kommt, von Verfassungs wegen grundsätzlich einer Begründung. Die grundsätzliche Begründungspflicht folge aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG im Zusammenhang mit der Verpflichtung des Revisionsgerichts, die Gefahr einer Verletzung des EWGVs und damit einer Vertragsrechtlichen Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland zu vermeiden. Nur wenn das Revisionsgericht seine Entscheidung begründet habe, lasse sich feststellen, ob es die gemeinschaftsrechtliche Frage in Erwägung gezogen habe, ob es Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage gehabt habe, ob es bewußt von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs abgewichen sei und – in der Regel auch – ob es einen ihm zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten habe. Der Umfang der Begründungspflicht werde nach den Umständen des Einzelfalles zu bestimmen sein.
b) Der Kläger des Ausgangsverfahrens bestreitet, daß das angesprochene Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland in einem direkten Zusammenhang mit dem vorliegenden Verfahren steht. Nach seiner Ansicht kommt eine willkürliche Verletzung der Vorlagepflicht durch den Bundesgerichtshof nicht in Betracht, weil bereits keine Vorlagepflicht nach Art. 177 Abs. 3 EWGV bestanden hat. Vielmehr sei die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts derArt. offenkundig gewesen, daß für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum geblieben sei. Selbst wenn man jedoch eine Vorlagepflicht für den Bundesgerichtshof unterstelle, so habe dieser sie jedenfalls nicht willkürlich verletzt. Die von der Beschwerdeführerin vertretene Meinung zur Verletzung des Art. 30 EWGVtr sei nicht eindeutig der gegenteiligen Meinung vorzuziehen. Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergebe sich auch kein Grundsatz, nach dem Ermessensentscheidungen eines letztinstanzlichen Gerichts immer zu begründen seien.
c) Die Beschwerdeführerin hat demgegenüber geltend gemacht, die Notwendigkeit der Anpassung des in Frankreich konzipierten Werbematerials an die übertrieben engen Anforderungen des deutschen Wettbewerbsrechts sei zu einer Beschränkung des innergemeinschaftlichen Handels geeignet. Für diese rechtliche Anpassung müßten zusätzliche Spezialisten eingeschaltet werden. Sei eine Werbemaßnahme in Deutschland überhaupt verboten, wie im Ausgangsfall die Werbung mit dem kostenlosen Hauttest, so müsse allein für den deutschen Markt eine völlig neue Werbemaßnahme konzipiert werden.
Mit einem weiteren Schriftsatz hat die Beschwerdeführerin ihre Ausführungen unter Hinweis auf ein neueres Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 7. März 1990 (Rs. C-362/88) ergänzt. Sie sieht darin eine Bestätigung ihrer Rechtsauffassung zu Art. 30 EWGV. Der Europäische Gerichtshof habe die Vorschriften über den freien Warenverkehr auf Werbebroschüren angewandt und ausgeführt, daß diese der Anwendung von Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats auf Werbemaßnahmen entgegenstünden, die in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßigerweise verbreitet worden seien. Die dort verfahrensgegenständlichen Werbeformen (Werbebroschüren mit Hinweisen auf Sonderangebote eines belgischen Supermarktes, die in Luxemburg verteilt worden waren) sind nach Auffassung der Beschwerdeführerin mit den werblichen Aussagen, die ihr im Ausgangsverfahren untersagt worden sind, auf eine Stufe zu stellen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, da keiner der gesetzlichen Annahmegründe vorliegt. Der Beschluß des Bundesgerichtshofs verletzt die Beschwerdeführerin nicht in Grundrechten, insbesondere nicht in ihrem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.
1. Der Europäische Gerichtshof ist gesetzlicher Richter iS des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (BVerfGE 73, 339 ≪366≫). Das Bundesverfassungsgericht kontrolliert die Einhaltung des Art. 177 Abs. 3 EWGV wie die anderer Zuständigkeitsregelungen im deutschen Verfahrensrecht. Es beanstandet die Auslegung und Anwendung von Zuständigkeitsnormen nur, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind (BVerfGE 82, 159 ≪194≫; vgl auch BVerfGE 29, 198 ≪207≫).
2. In Fällen einer an sich statthaften Revision, in denen das Revisionsgericht dennoch die Befugnis hat, die Annahme der Revision abzulehnen, kann die Vorlagepflicht aus Art. 177 Abs. 3 EWGV nur bei dem Revisionsgericht eintreten. Die Möglichkeit, daß eine Vorlageverpflichtung besteht, wirkt sich auf die Entscheidung über die Revisionsannahme aus. Nach dem Beschluß des Plenums des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Juni 1980 muß § 554 b Abs. 1 ZPO verfassungskonform dahingehend ausgelegt werden, daß die Annahme von Revisionen, die nach der in diesem Stadium gebotenen Prüfung Aussicht auf Erfolg im Endergebnis besitzen, nicht abgelehnt werden dürfen (BVerfGE 54, 277 ≪285 ff≫). Wäre im Revisionsverfahren voraussichtlich eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs einzuholen, kann die Erfolgsaussicht einer Revision erst nach Abschluß dieses Zwischenverfahrens sicher beurteilt werden. Beschließt der Bundesgerichtshof, die Annahme der Revision abzulehnen, so liegt demnach darin zugleich die Entscheidung, die gemeinschaftsrechtliche Frage nicht dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen, sondern sie in eigener Verantwortung mitzubeurteilen. Eine solche Nichtannahmeentscheidung ist folglich an den zuletzt im Senatsbeschluß vom 31. Mai 1990 (BVerfGE 82, 159 ≪192 ff≫) herausgearbeiteten verfassungsrechtlichen Kontrollmaßstäben für die Handhabung des Art. 177 Abs. 3 EWGV zu messen.
3. Offensichtlich unhaltbar und daher verfassungswidrig gehandhabt wird die Vorlagepflicht insbesondere in den Fällen, in denen ein letztinstanzliches Hauptsachegericht eine Vorlage trotz der – seiner Auffassung nach bestehenden – Entscheidungserheblichkeit der gemeinschaftsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hegt. Gleiches gilt in den Fällen, in denen das letztinstanzliche Hauptsachegericht in seiner Entscheidung bewußt von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht und gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vorlegt. Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs noch nicht vor oder hat eine vorliegende Rechtsprechung die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht nur als entfernte Möglichkeit, so wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nur dann verletzt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen sind (BVerfGE 82, 159 ≪195 f≫).
4. Dem Bundesverfassungsgericht ist eine Kontrolle anhand dieser Maßstäbe auch dann möglich, wenn der Bundesgerichtshof einen Beschluß gemäß § 554 b ZPO vereinfacht begründet, sich dabei aber erkennbar die europarechtlichen Erwägungen der Vorinstanz zu eigen macht.
a) In dem Beschluß der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 9. November 1987 (2 BvR 808/82; veröffentlicht in: EuGRZ 1988, S. 109 und NJW 1988, S. 1456) wird betont, die letztinstanzliche Entscheidung müsse erkennen lassen, ob die Frage der Vorlagepflicht gemäß Art. 177 Abs. 3 EWGV geprüft worden sei. Im Rahmen des der Entlastung des Revisionsgerichts dienenden Verfahrens gemäß § 554 b ZPO stelle es indes keinen Verfassungsverstoß dar, wenn das Revisionsgericht zur Begründung seiner Auffassung, daß eine Vorlage nicht in Betracht komme, auf die insoweit einschlägige Begründung der Berufungsentscheidung erkennbar Bezug nehme und sich diese insoweit zu eigen mache.
b) Erkennbare Bezugnahme auf die Vorlageerwägungen der Berufungsinstanz bedeutet nicht ausdrückliche Bezugnahme.
Dem Grundgesetz läßt sich nicht entnehmen, daß aus allgemeinen rechtsstaatlichen Erwägungen auch mit ordentlichen Rechtsmitteln nicht mehr anfechtbare letztinstanzliche gerichtliche Entscheidungen unter allen Umständen mit einer Begründung zu versehen sind (vgl BVerfGE 50, 287 ≪289 f≫). Der Bundesgerichtshof mußte im hier zu entscheidenden konkreten Verfahren zwar erstmals über die Vorlagepflicht gemäß Art. 177 Abs. 3 EWGV entscheiden. Er allein mußte also die Anforderungen des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG prüfen und verbindlich über sie befinden. Von einer offensichtlich unhaltbaren Handhabung seiner Vorlagepflicht kann gleichwohl dann nicht gesprochen werden, wenn der Bundesgerichtshof als letztinstanzliches Gericht – ohne ausdrückliche eigene europarechtliche Erwägungen anzustellen – sich die Argumentation der Vorinstanz stillschweigend zu eigen gemacht hat, nachdem diese sich in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise mit den einschlägigen europarechtlichen Fragen und damit mit ihrer Vorlagemöglichkeit gemäß Art. 177 Abs. 2 EWGV auseinandergesetzt hat. Damit genügt er den in der Senatsrechtsprechung aufgestellten Anforderungen hinsichtlich seiner Vorlagepflicht gemäß Art. 177 Abs. 3 EWGV.
Das Oberlandesgericht als Berufungsgericht begründet seine Entscheidung, nicht eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs einzuholen, mit sachlich einleuchtenden Erwägungen. Es orientiert sich am Stand der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs zur Zeit seiner Entscheidung und setzt sich mit Argumenten der Beschwerdeführerin auseinander. Begründete Zweifel an der Vertretbarkeit der Auslegung der gemeinschaftsrechtlichen Frage zur Zeit der Entscheidung des Berufungsgerichts drängen sich nicht in einer Weise auf, daß die Nichtvorlage an den Europäischen Gerichtshof unvertretbar erschiene.
Daß sich die Beschwerdeführerin durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 7. März 1990 (Rs. C-362/88) in ihrer Rechtsauffassung nachträglich bestätigt sieht, ändert nichts an der verfassungsrechtlichen Beurteilung des Beschlusses des Bundesgerichtshofs, bei der ausschließlich auf die Einschätzung der (Gemeinschafts-) Rechtslage zur Zeit der Entscheidung, hier also im November 1988 abzustellen ist. Entsprechendes gilt hinsichtlich des Urteils vom 18. Mai 1993 (Rs. C-126/91), das als Vorabentscheidung in einem Verfahren erging, in dem die Beschwerdeführerin – wie in dem hier zu entscheidenden Fall – ebenfalls Beteiligte war. Etwas anderes könnte allenfalls dann gelten, wenn – anders als im vorliegenden Fall – sich die gemeinschaftsrechtliche Rechtslage oder die einschlägige Judikatur des Europäischen Gerichtshofs nach Entscheidung des Berufungsgerichts, aber noch vor dem Nichtannahmebeschluß des Revisionsgerichts geändert hätte.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Fundstellen
Haufe-Index 1503287 |
NJW 1994, 2017 |