Entscheidungsstichwort (Thema)
Auslegung einer Empfangsvollmacht
Leitsatz (NV)
Die unter Bezugnahme auf eine Steuernummer für laufend veranlagte Steuern dem Steuerberater erteilte Empfangsvollmacht erstreckt sich auch dann nicht auf die Einheitsbewertung des Grundvermögens, wenn sie "vor allen Finanzbehörden" gelten soll. Dies gilt erst recht, wenn die Vollmacht den Zusatz enthält, Steuer-, Feststellungs- und Steuermessbescheide, die von Erklärungen und Anträgen abweichen, seien nur dem Bevollmächtigten zuzustellen.
Normenkette
AO 1977 § 122 Abs. 1 S. 3
Verfahrensgang
Thüringer FG (EFG 1999, 531) |
Tatbestand
I. Im Jahr 1991 hatte der jetzige Prozessbevollmächtigte des Klägers und Revisionsbeklagten (Kläger) dem Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt ―FA―) eine Vollmacht folgenden Wortlauts übersandt:
"Vollmacht
Mandant: X,
Finanzamt J
Az.: (nicht ausgefüllt)
Der Steuerberater A und der Steuerbevollmächtigte B werden von mir bevollmächtigt, mich vor allen Finanzbehörden zu vertreten. Die Vollmacht berechtigt insbesondere zur Einlegung und zur Zurücknahme von außergerichtlichen Rechtsbehelfen, zur Bestellung eines Vertreters und zur Entgegennahme von Zustellungen.
Folgende Bescheide, die von den Erklärungen und Anträgen abweichen, sind nur den Bevollmächtigten zuzustellen:
Steuer-, Feststellungs- und Steuermeßbescheide.
Andere Steuerbescheide, Zahlungen und Anfragen des Finanzamts über Sachverhaltsfragen sind dem Vollmachtgeber zuzustellen… ."
Im Februar 1996 gab der Kläger für sein neu erworbenes Grundstück in Z, eine Erklärung zur Feststellung des Einheitswerts ab, in der er die Frage, wem der Bescheid bekannt gegeben werden solle, offen ließ. Mit Bescheid vom 30. August 1996 stellte das FA für das Grundstück die Vermögens- und Grundstücksart "Geschäftsgrundstück - Betriebsgrundstück" sowie den Einheitswert zum 1. Januar 1992 auf 12 600 DM fest. Mit weiterem Bescheid vom selben Tag verfügte es, dass auf den 1. Januar 1996 keine Wertfortschreibung durchzuführen sei. Beide Bescheide wurden dem Kläger mit einfachem Brief persönlich bekannt gegeben. Nach Ablauf der normalen Rechtsbehelfsfrist legte der Kläger gegen die Bescheide über seine Bevollmächtigten Einspruch ein, wobei diese darauf hinwiesen, dass ihnen der Kläger die Bescheide erst wenige Tage zuvor übergeben habe.
Das FA verwarf die Einsprüche wegen Fristversäumnis als unzulässig. Das Finanzgericht (FG) gab der auf Aufhebung der Einspruchsentscheidung gerichteten Klage statt, weil die Rechtsbehelfsfrist erst mit der Übergabe der Bescheide an die Bevollmächtigten angelaufen sei. Das FA sei aufgrund der ihm vorliegenden Empfangsvollmacht verpflichtet gewesen, die Bescheide den Bevollmächtigten bekannt zu geben. Insoweit habe ihm kein Ermessensspielraum zugestanden. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1999, 531 veröffentlicht.
Mit der Revision rügt das FA die Anwendung der §§ 5, 122 Abs. 1 und 80 Abs. 3 der Abgabenordnung (AO 1977). Es trägt vor, die Vollmacht sei dahin auszulegen, dass sie sich nur auf die unter der angegebenen Steuernummer veranlagten Steuern beziehe. Demgemäß habe der Kläger auch in der Feststellungserklärung nicht angegeben, dass die Bescheide den Bevollmächtigten bekannt gegeben werden sollten, sondern seine eigenen Telefonanschlüsse aufgeführt.
Das FA beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er hält die Vollmacht nicht für auslegungsbedürftig. Mit der Formulierung, dass die Vollmacht vor allen Finanzbehörden gelten solle, sei klargestellt, dass sie sich nicht nur auf die Veranlagungssteuern beziehe. Die bevollmächtigten Steuerberater verwendeten den Vollmachtstext seit langer Zeit und bei einer Vielzahl von Mandanten, ohne dass er bisher in dem einschränkenden Sinne wie vom FA ausgelegt worden wäre.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Das FA durfte die angefochtenen Bescheide dem Kläger persönlich bekannt geben. Die Bekanntgabe an ihn setzte die einmonatige Rechtsbehelfsfrist des § 355 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 in Lauf. Infolgedessen ist der Einspruch gegen die Bescheide verspätet eingelegt und vom FA zu Recht als unzulässig verworfen worden. Da das FG von einer anderen Rechtsauffassung ausgegangen ist, war die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―).
1. Gemäß § 355 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 ist der Einspruch innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsaktes einzulegen. Abgestellt wird damit auf eine Bekanntgabe, die nach § 124 Abs. 1 AO 1977 zum Wirksamwerden des Verwaltungsaktes geführt hat. Wirksam wird der Verwaltungsakt nur, wenn die Bekanntgabe gegenüber demjenigen erfolgt ist, demgegenüber sie erfolgen musste oder zumindest durfte. Nach § 122 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 ist ein Verwaltungsakt gegenüber demjenigen bekannt zu geben, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird; er kann aber gemäß Satz 3 der Vorschrift auch gegenüber einem Bevollmächtigten bekannt gegeben werden. Die Regelung in § 122 Abs. 1 Satz 3 AO 1977, wonach die Bekanntgabe auch gegenüber einem Bevollmächtigten erfolgen kann, wird i.V.m. § 80 Abs. 3 des Gesetzes, wonach sich die Behörde dann, wenn für das Verfahren ein Bevollmächtigter bestellt ist, an diesen wenden soll, dahin ausgelegt, dass nur dann, wenn der Steuerpflichtige der Behörde einen bestimmten Vertreter ausdrücklich als Empfangsbevollmächtigten benannt hat, die Bekanntgabe gegenüber diesem vorzunehmen ist (so Entscheidungen des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 24. April 1985 I S 1/85, BFH/NV 1986, 320; vom 28. Februar 1990 I R 82/87, BFH/NV 1990, 686, sowie vom 17. Dezember 1997 III R 8/94, BFH/NV 1998, 935 unter 5.; vgl. auch Brockmeyer in Klein, Abgabenordnung, 6. Aufl. 1998, § 122 Anm. 3). Eine derartige Empfangsvollmacht liegt im Streitfall für das Verfahren zur Feststellung des Einheitswerts des klägerischen Grundstücks nicht vor.
Die dem FA 1991 übersandte Vollmacht enthält zwar auch eine Empfangsvollmacht; diese ist jedoch vom FG zu Unrecht dahin ausgelegt worden, dass sie sich auch auf die Einheitsbewertung des Grundstücks beziehe. Als verfahrensrechtliche Willenserklärung ist die Vollmacht der Auslegung zugänglich. Die Auslegung durch die Tatsacheninstanz kann revisionsrechtlich daraufhin überprüft werden, ob die gesetzlichen Auslegungsregeln der §§ 133, 157 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) beachtet sind und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen wurde (vgl. BFH-Urteil vom 2. Oktober 1986 VII R 58/83, BFH/NV 1987, 482 unter 2. b). Eine Auslegung nach den Regeln der §§ 133, 157 BGB ergibt, dass sich die Vollmacht aus dem Jahr 1991 nur auf die laufend veranlagten Steuern bezogen hat (vgl. BFH-Urteil vom 19. Oktober 1994 II R 131/91, BFH/NV 1995, 475). Dies folgt aus der Verwendung der dem Kläger für die laufend veranlagten Steuern zugeteilten Steuernummer in der Vollmacht und deren Beschränkung auf lediglich einen Teil denkbarer Bescheide.
Die für einen Steuerpflichtigen vergebene Steuernummer betrifft nur einen Ausschnitt möglicher abgaberechtlicher Verfahren und stellt keine für sämtliche möglichen Rechtsbeziehungen mit der Behörde geltende Ordnungsnummer dar, unter der durchgängig von allen Stellen der Finanzbehörde zu beachtende Grunddaten abgelegt werden. Die Verwendung der Formulierung, die Vollmacht solle "vor allen Finanzbehörden gelten", ändert an der Beschränkung auf die laufend veranlagten Steuern nichts. Sie begründet aus der Sicht des FA, dem die Vollmacht vorgelegt worden ist, keinen Unterschied zu der "Bevollmächtigung in allen Steuerangelegenheiten", die der Senat in der Entscheidung in BFH/NV 1995, 475 zu beurteilen hatte. Für das FA ergibt sich daraus kein erweiterter Rahmen der Empfangsvollmacht, weil es ohnehin nur mit Steuerangelegenheiten befasst ist.
Auch die Tatsache, dass laut der streitbefangenen Vollmachtserklärung nur die Steuer-, Feststellungs- und Steuermessbescheide den Bevollmächtigten zugestellt werden sollen, "die von den Erklärungen und Anträgen abweichen", deutet auf eine Beschränkung der Empfangsvollmacht auf die unter der angegebenen Steuernummer laufend veranlagten Steuern hin und spricht gegen die vom Kläger vertretene umfassende Bedeutung der Vollmacht. Abgesehen davon, dass die Erklärungen für die laufend veranlagten Steuern regelmäßig von einem Angehörigen der steuerberatenden Berufe ―so denn einer mit der Wahrnehmung der Steuerangelegenheiten beauftragt ist― erstellt werden und diese dann sinnvollerweise auch mit der Kontrolle der auf die Erklärungen hin ergehenden Bescheide befasst werden, ergibt sich dies aus dem Umstand, dass nicht allen Verfahren vor dem FA Erklärungen oder Anzeigen des Bürgers vorausgehen. Dem Erlass von Schätzungsbescheiden sowie der Festsetzung von Verspätungszuschlägen, Zinsen und Haftungsbeträgen etwa gehen regelmäßig keine darauf gerichteten Erklärungen und Anzeigen des Steuerpflichtigen oder seines Beraters voraus. Gerade für die oftmals bedeutsamen Schätzungs- und Haftungsbescheide gilt die vorliegende Empfangsvollmacht somit ausdrücklich nicht (vgl. dazu BFH in BFH/NV 1998, 935 unter 5.).
Diese Beschränkung übersieht das FG, wenn es verlangt, das FA hätte durch geeignete organisatorische Maßnahmen sicherstellen müssen, dass alle den Kläger betreffenden Verwaltungsakte dem Empfangsbevollmächtigten bekannt gegeben werden. Aufgrund dessen hat das FG auch versäumt, Feststellungen darüber zu treffen, ob die Einheitswertbescheide tatsächlich von der Erklärung des Klägers abweichen. Darüber hinaus gerät das FG mit seinen Anforderungen an die organisatorischen Vorkehrungen, die das FA habe treffen müssen, um die Beachtung der Empfangsvollmacht sicherzustellen, auch in Widerspruch zu seinem Hinweis auf die Situation, in der sich die Finanzbehörden in den neuen Bundesländern während der Aufbauphase befunden haben. Eine Empfangsvollmacht in dem vom FG angenommenen Sinne hätte den Finanzbehörden die Arbeit nur für einen Teilbereich erleichtert, im Übrigen aber zusätzlich erschwert.
Dass der Steuerpflichtige regelmäßig nicht übersehen kann, welche steuerlichen Verhältnisse zwischen ihm und dem FA künftig entstehen können ―wie das FG meint― spricht nicht für, sondern gegen dessen Auslegung. Gerade weil er dies nicht übersieht, kann nicht angenommen werden, er habe eine so weit reichende, in ihren Auswirkungen nicht überschaubare Vollmacht erteilen wollen. Hierin unterscheidet sich die Interessenlage des Klägers auch von derjenigen des Steuerpflichtigen, der das Urteil des BFH in BFH/NV 1987, 482 erstritten hat. Dieser hatte sich für mehrere Jahre ins Ausland abgemeldet und daher ein Interesse daran, für sämtliche mögliche Verfahren Vorsorge zu treffen. Eine vergleichbare Situation besteht im Streitfall nicht.
2. Die Sache ist spruchreif. Die Einspruchsfrist des § 355 Abs. 1 AO 1977 begann mit der Bekanntgabe der Einheitswertbescheide an den Kläger. Sie war daher im Zeitpunkt der Einlegung des Einspruchs bereits abgelaufen. Die angefochtenen Einheitswertbescheide sind damit bestandskräftig.
Fundstellen
Haufe-Index 557704 |
BFH/NV 2001, 732 |
HFR 2001, 650 |