Entscheidungsstichwort (Thema)
Zu den Voraussetzungen einer Teilanfechtung
Leitsatz (NV)
- Die Anfechtung umfasst in der Regel den gesamten Einkommensteuerbescheid, so dass auch die Ablaufhemmung der Festsetzungsfrist nach § 171 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Satz 1 AO 1977 a.F. in vollem Umfang eintritt.
- Für den Ausnahmefall, in dem nur eine Teilanfechtung anzunehmen ist, muss der Wille, von einem weiteren Begehren abzusehen, deutlicher zum Ausdruck kommen als in der bloßen Anfechtung des Steuerbescheides wegen bestimmter Streitpunkte. Nur wenn der Steuerpflichtige eindeutig zu erkennen gegeben hat, er werde von einem weitergehenden Begehren absehen, wird der Steuerbescheid im ausdrücklich nicht angefochtenen Teil bestandskräftig.
Normenkette
AO 1977 § 171 Abs. 3 Sätze 1-2
Verfahrensgang
FG Münster (EFG 2000, 844) |
Tatbestand
I. Die Beteiligten streiten darüber, ob der Einkommensteuerbescheid für 1988 (Streitjahr) in Bezug auf negative Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung für das Zweifamilienhaus "A-Straße" geändert werden kann.
Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind zur Einkommensteuer zusammen veranlagte Eheleute, die u.a. Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit beziehen. Die Klägerin ist Eigentümerin des zum Teil selbstgenutzten Zweifamilienhauses A-Straße (im Folgenden: ZFH). Für den Veranlagungszeitraum 1985 kam es zum Streit mit dem Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt ―FA―) und zu einem anschließenden finanzgerichtlichen Verfahren, ob für das ZFH die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung nach § 21a oder nach § 21 Abs. 1 und 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) zu ermitteln waren. In ihrer 1989 beim FA eingegangenen Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 1988 machte die Klägerin aus dem ZFH negative Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung geltend. Mit dem (ersten) Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr vom 8. Dezember 1989 wich das FA von den erklärten Besteuerungsgrundlagen u.a. in Bezug auf das ZFH ab. Zur Erläuterung der Abweichung wies es auf die Erläuterungen im Steuerbescheid für 1987 sinngemäß hin. Dort heißt es, dass ab 1987 ein Nutzungswert nicht mehr besteuert werde. Die Einkommensteuer wurde gemäß § 164 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) unter dem Vorbehalt der Nachprüfung festgesetzt.
Mit dem dagegen eingelegten Einspruch vom 4. Januar 1990 beanstandeten die Kläger die Kürzung der Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit. "Zu den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung" überreichten sie überdies einen Bauschein für ein anderes Objekt "B-Weg", dessen Bebauungsabsicht strittig war. Fernmündlich teilte der Sachbearbeiter des FA dem Kläger am 22. oder 23. Januar 1990 mit, über den Einspruch werde erst nach dem Abschluss des Klageverfahrens für 1985 entschieden; nach dem entsprechenden Telefonvermerk des Klägers wurde auch über das Objekt A-Straße gesprochen und angekündigt, nach Vorliegen des Urteils für 1985 alle Jahre wieder aufzugreifen.
Mit Änderungsbescheid für das Streitjahr vom 7. Februar 1990 berücksichtigte das FA lediglich die Aufwendungen für das Objekt B-Weg. Der Vorbehalt der Nachprüfung blieb bestehen. Der Bescheid enthielt die Erläuterung: "Hierdurch erledigt sich Ihr Rechtsbehelf/Antrag vom 4. 1. 90".
Im Einspruch für das Jahr 1989 wandten sich die Kläger ausdrücklich gegen die Behandlung der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung in Bezug auf das ZFH und baten, die Bearbeitung des Einspruchs bis zur Entscheidung des Finanzgerichts (FG) Münster über die Klage betreffend 1985 auszusetzen. Das FA ließ daraufhin das Einspruchsverfahren ruhen. Das FG Münster entschied mit Urteil vom 13. Dezember 1994 ―15 K 8088/88 E― über die Einkommensteuer 1985, dass die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung des ZFH nach § 21 Abs. 1 und Abs. 2 EStG zu ermitteln seien.
Im September 1996 beantragten die Kläger, den Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr zu ändern. Über den Einspruch vom 4. Januar 1990 sei, soweit er sich auf die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung bezogen habe, weder unanfechtbar entschieden noch sei ihm abgeholfen worden. Mit Bescheid vom 7. November 1996 lehnte es das FA wegen Ablaufs der Festsetzungsfrist ab, den Einkommensteuerbescheid zu ändern. Der Einspruch hiergegen blieb ohne Erfolg.
Die dagegen gerichtete Klage wies das FG in seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2000, 844 veröffentlichtem Urteil als unbegründet ab. Ein Anspruch auf Änderung des Einkommensteuerbescheides für das Streitjahr nach § 164 Abs. 2 AO 1977 bestehe nicht, weil die Festsetzungsfrist nach § 169 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 abgelaufen sei. Die Frist sei nicht nach § 171 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 gehemmt gewesen; denn die Kläger hätten in ihrem Einspruch vom 4. Januar 1990 das ZFH nicht erwähnt und hätten deshalb ihren Einspruch auf die Vermietung und Verpachtung für das Grundstück B-Weg beschränkt.
Hiergegen richtet sich die Revision der Kläger, mit der sie Verletzung materiellen Rechts rügen. Das FG habe die Klage zu Unrecht wegen Ablaufs der Festsetzungsfrist abgewiesen. Die Kläger hätten ihren Einspruch vom 4. Januar 1990 nicht auf die Prüfung der dort genannten Punkte beschränkt. Regelmäßig wolle der Rechtsmittelführer mit der Bezeichnung des zu überprüfenden Sachverhalts nicht eine Teilbestandskraft herbeiführen. Dies ergebe sich aus der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH), insbesondere aus dem Beschluss des Großen Senats vom 23. Oktober 1989 GrS 2/87 (BFHE 159, 4, BStBl II 1990, 327) und aus dem Urteil vom 5. Februar 1992 I R 76/91 (BFHE 168, 1, BStBl II 1992, 995).
Die Kläger beantragen, das angefochtene Urteil sowie die Einspruchsentscheidung vom 14. März 1997 aufzuheben und den Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr in seiner Fassung vom 7. Februar 1990 dahin zu ändern, dass negative Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung in Höhe von 14 568 DM zu berücksichtigen sind.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet und führt nach § 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung. Das FG hat unzutreffend eine Änderung des Einkommensteuerbescheides nach § 164 Abs. 2 AO 1977 wegen Ablaufs der Festsetzungsfrist abgelehnt.
1. Nach § 164 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 kann die Steuerfestsetzung, solange der Vorbehalt nach § 164 Abs. 1 AO 1977 ―wie hier― wirksam ist, aufgehoben oder geändert werden. Der Steuerpflichtige kann die Aufhebung oder Änderung der Steuerfestsetzung gemäß § 164 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 jederzeit beantragen, und zwar nach § 132 AO 1977 auch im Rechtsbehelfsverfahren. Nach § 164 Abs. 4 AO 1977 entfällt der Vorbehalt der Nachprüfung, wenn die Festsetzungsfrist abläuft.
2. Entgegen der Auffassung des FG ist im Streitfall die Festsetzungsfrist noch nicht abgelaufen, so dass die Voraussetzungen des § 164 Abs. 4 AO 1977 nicht gegeben sind und der Vorbehalt der Nachprüfung nicht entfallen ist. Denn der Ablauf der Festsetzungsfrist wurde durch den Einspruch vom 4. Januar 1990 gehemmt.
a) § 171 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Satz 1 AO 1977 a.F. lässt eine Ablaufhemmung der Festsetzungsfrist nur insoweit zu, als der Steuerbescheid angefochten worden ist. Zwar kann es folglich zu einer Teilfestsetzungsverjährung kommen (BFH-Urteil vom 7. Februar 1992 III R 61/91, BFHE 167, 279, BStBl II 1992, 592), allerdings nur in Ausnahmefällen. Satz 2 des § 171 Abs. 3 AO 1977 stellt ―anders als Satz 1― nicht auf den Antrag, sondern auf den Umfang der Anfechtung ab (BFH-Urteil vom 7. September 2000 III R 33/96, BFH/NV 2001, 415), der indessen wiederum vom Umfang des Rechtsbehelfsantrags abhängt (vgl. BFH-Urteile vom 10. März 1993 I R 93/92, BFHE 175, 481, BStBl II 1996, 165, und in BFHE 167, 279, BStBl II 1992, 592). Als Prozesserklärung ist der Rechtsbehelfsantrag durch Auslegung entsprechend § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuches ―BGB― (vgl. BFH-Beschluss vom 15. Mai 2002 I B 8/02, I S 13/01, BFH/NV 2002, 1312; Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ―BVerfG― vom 29. Oktober 1975 2 BvR 630/73, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung ―HFR― 1976, 70; BFH-Urteil vom 8. Juni 2000 IV R 37/99, BFHE 193, 85, BStBl II 2001, 162) anhand der Grundsätze des Beschlusses des Großen Senats des BFH (in BFHE 159, 4, BStBl II 1990, 327) zu ermitteln.
b) Danach ist bei der Anfechtung eines Steuerbescheides, auch wenn dies wegen eines bestimmten Betrages oder eines bestimmten Sachverhalts geschieht, nicht von einer bloßen Teilanfechtung auszugehen (Beschluss des Großen Senats des BFH in BFHE 159, 4, BStBl II 1990, 327). Die Anfechtung umfasst in der Regel den gesamten Einkommensteuerbescheid und die Ablaufhemmung der Festsetzungsfrist tritt in vollem Umfang ein. Ein Ausnahmefall, in dem nur eine Teilanfechtung anzunehmen ist, setzt voraus, dass der Wille, von einem weiteren Begehren abzusehen, deutlicher zum Ausdruck kommt als in der bloßen Anfechtung des Steuerbescheides wegen eines bestimmten Streitpunktes. Nach der ständigen Rechtsprechung kann einem Rechtsbehelfsführer der Wille zu einer bindenden Beschränkung des Antrags ohne Vorliegen besonderer Umstände nicht unterstellt werden (vgl. u.a. BFH-Urteile in BFHE 168, 1, BStBl II 1992, 995, und in BFH/NV 2001, 415, m.w.N.).
c) Die Auslegung von prozessualen Willenserklärungen ist grundsätzlich Gegenstand der vom FG zu treffenden tatsächlichen Feststellungen, an die das Revisionsgericht gebunden ist (§ 118 Abs. 2 FGO), soweit im Revisionsverfahren keine zulässigen und begründeten Revisionsrügen erhoben werden. Das Revisionsgericht kann indes die Auslegung durch das FG daraufhin überprüfen, ob das FG die gesetzlichen Auslegungsregeln (vgl. oben zu a und b) beachtet und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen hat (BFH-Urteil vom 22. August 1990 I R 119/86, BFHE 162, 464, BStBl II 1991, 415, und in BFHE 168, 1, BStBl II 1992, 995; BFH-Beschluss vom 26. Juni 2002 IX B 119/01, BFH/NV 2002, 1469).
3. Nach diesen Maßstäben hat das FG unzutreffend allein aus dem Einspruchsschreiben der Kläger vom 4. Januar 1990 geschlossen, dass die Kläger ihren Rechtsbehelfsantrag beschränkt haben. Es hat nämlich entgegen der ständigen Rechtsprechung des BFH (vgl. zu 2. a und b) das Regel-Ausnahme-Verhältnis umgekehrt und bereits dann eine Einschränkung des Antrags gesehen, wenn ―wie hier― der Rechtsbehelfsführer im Einspruchsschreiben lediglich einige Streitpunkte aufführt. Für den Ausnahmefall einer Teilanfechtung müssen aber deutliche Anhaltspunkte gegeben sein, die darüber hinausgehen. Nur wenn die Kläger eindeutig zu erkennen gegeben haben, sie werden von einem weiter gehenden Begehren absehen, wird der Steuerbescheid im ausdrücklich nicht angefochtenen Teil bestandskräftig. Das FG hat derartige Umstände aber nicht festgestellt. Im Gegenteil: Der Zusammenhang mit den Einspruchsverfahren der Jahre 1985, 1987 und 1989 und die Nämlichkeit der Streitpunkte in Bezug auf das Objekt A-Straße sprechen eindeutig dafür, dass die Frage, wie das ZFH zu besteuern sei, auch Gegenstand des Rechtsbehelfsbegehrens für das Streitjahr werden sollte.
Ferner ergibt sich aus den vom FG in Bezug genommenen Vermerken über ein fernmündliches Gespräch des Klägers mit dem Sachbearbeiter des FA, dass auch das Objekt A-Straße Gegenstand des Gesprächs war. Die gegenteilige Würdigung des FG ist in sich widersprüchlich und verstößt damit bereits gegen Denkgesetze: Denn einerseits ist nach Auffassung des FG "nach diesem Vermerk über die Berücksichtigung eines Verlustes aus Vermietung und Verpachtung aus einem Objekt A-Straße nicht gesprochen worden". Andererseits hebt das FG im gleichen Urteilsabsatz hervor, der Sachbearbeiter habe hiernach (nach dem Vermerk) "geäußert, über Werbungskosten werde erst entschieden, wenn auch über den Verlust aus Vermietung und Verpachtung A-Straße entschieden würde". Es ist aber unerfindlich, warum das die Art und Weise der Besteuerung des Objekts A-Straße betreffende Verfahren vor dem 15. Senat des FG abgewartet werden sollte, wenn im Streitjahr gar nicht um diese Einkünfte gestritten wurde.
4. Ist das Urteil der Vorinstanz danach aufzuheben, so ist die Sache aber nicht spruchreif. Der BFH kann als Revisionsinstanz mangels zureichender Feststellungen des FG nicht entscheiden, ob der Anspruch der Kläger nach § 164 Abs. 2 AO 1977 besteht und die negativen Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung der Klägerin aus dem Objekt A-Straße in der beantragten Höhe angesetzt werden können. Dies wird das FG in einer neuen Verhandlung und Entscheidung nachzuholen haben.
Fundstellen
Haufe-Index 954354 |
BFH/NV 2003, 1140 |
DStRE 2003, 1121 |
HFR 2003, 941 |