Dipl.-Kfm. Jens Schönfeld
Rz. 607
Abgrenzungen. Hinsichtlich der zeitlichen Vorgaben sind mehrere Fragen getrennt zu betrachten:
- Der zeitliche Anwendungsbereich, s. hierzu ausf. Rz. 76 ff.;
- Die praktische Bedeutsamkeit des § 50d Abs. 3 EStG im Verfahren (vgl. Rz. 582);
- Der Zeitpunkt, für den die Voraussetzungen des § 50d Abs. 3 EStG zu prüfen sind, d.h. der Zeitpunkt, in dem die Voraussetzungen vorliegen müssen (vgl. Rz. 608). Dieser Zeitpunkt kann unterschiedlich sein, je nachdem, ob man § 50d Abs. 3 EStG für sich oder durch gesonderte gesetzliche Anordnung im Freistellungsverfahren prüft;
- Schließlich können die Tatbestandsmerkmale selbst, auch wenn sie zu einem bestimmten Zeitpunkt vorliegen müssen, für die Beurteilung einen abweichenden Zeitpunkt oder Zeitraum als maßgebend erklären (vgl. Rz. 612).
Rz. 608
Materiell-rechtlich maßgeblicher Zeitpunkt. Da § 50d Abs. 3 EStG tatbestandlich an einen bestimmten Entlastungsanspruch anknüpft und dessen Entstehen hindert, ist § 50d Abs. 3 EStG für denselben Zeitpunkt zu prüfen, zu dem auch der Entlastungsanspruch materiell-rechtlich entsteht: Das ist der Zeitpunkt, zu dem Kapitalertragsteuer bzw. Abzugsteuer nach § 50a EStG durch Zufluss der Kapitalerträge (vgl. § 44 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 bis 4 EStG) bzw. Vergütungen (vgl. § 50a Abs. 5 Satz 1 EStG) entsteht. Die Voraussetzungen des § 50d Abs. 3 EStG sind daher für den Zuflusszeitpunkt zu prüfen. Da der Gesetzeswortlaut nicht mehr auf die Bruttoerträge "im betreffenden Wirtschaftsjahr" abstellt, ist § 50d Abs. 3 EStG daher insgesamt zeitpunktbezogen zu prüfen. Gleichwohl wird man schon aus rein praktischen Gründen nur auf die zuletzt verfügbaren Daten (insb. Jahresabschlüsse) abstellen können. Auch die Voraussetzungen des Gegenbeweises sind für diesen Zeitpunkt zu prüfen, wobei aber deren Berücksichtigung von dem (praktisch ggf. erst später geführten) Nachweis der Körperschaft abhängt. Der später erbrachte Gegenbeweis ist auf den Zuflusszeitpunkt bezogen und wirkt daher auf diesen Zeitpunkt zurück. Es ist nicht so (und wäre auch systemwidrig), dass der Gegenbeweis erst ab dem Zeitpunkt, zu dem er tatsächlich erbracht wird, in die Zukunft wirkt.
Rz. 609
Praktische Anwendung. Die Regelung des § 50d Abs. 3 EStG wird in der Praxis stets in einem Verfahren bedeutsam. Dies ist in aller Regel das Freistellungsverfahren nach § 50c Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG und das Erstattungsverfahren nach § 50c Abs. 3 EStG (vgl. näher Rz. 613 ff.). Darüber hinaus kann § 50d Abs. 3 EStG in Ausnahmefällen auch im Rahmen eines Veranlagungsverfahrens Anwendung finden. Das Freistellungsverfahren ist auf die Erteilung einer Freistellungsbescheinigung gerichtet, mit der der Schuldner der Kapitalerträge bzw. Vergütungen den Steuerabzug bereits an der Quelle unterlassen kann. Das Erstattungsverfahren ist auf eine nachträgliche Erstattung der einbehaltenen und abgeführten Kapitalertragsteuer bzw. Abzugssteuer nach § 50a EStG gerichtet. In beiden Fällen ist zu prüfen, ob § 50d Abs. 3 EStG dem in den Verfahren geltend gemachten Entlastungsansprüchen nach einem DBA, § 43b, § 44a Abs. 9 oder § 50g EStG entgegensteht. Der Zeitpunkt, auf den § 50d Abs. 3 EStG dabei zu prüfen ist, unterscheidet sich aber:
Rz. 610
Prüfung im Erstattungsverfahren und Veranlagungsverfahren. Im Erstattungsverfahren ist zu prüfen, ob in der Vergangenheit eine Steuer auf Einkünfte einbehalten und abgeführt wurde, deren Besteuerung ein DBA, § 43b, § 44a Abs. 9 oder § 50g EStG entgegensteht. Ist dies zu bejahen, besteht ein Anspruch auf Erteilung eines Freistellungsbescheids. Dieser Anspruch besteht aber nicht, wenn § 50d Abs. 3 EStG die genannten Ansprüche versagt. Dabei ist § 50d Abs. 3 EStG für den Zeitpunkt zu prüfen, in dem die geltend gemachten Entlastungsansprüche (mutmaßlich) entstanden sind (= Zuflusszeitpunkt, vgl. Rz. 608). Dass die Voraussetzungen des § 50d Abs. 3 EStG zum Zeitpunkt der Erteilung des Freistellungsbescheids vorliegen oder nicht vorliegen, ist unerheblich. Gleiches gilt im Veranlagungsverfahren.
Rz. 611
Prüfung im Freistellungsverfahren. Im Freistellungsverfahren ist hingegen noch kein Entlastungsanspruch entstanden, weil auch noch keine Einkünfte erzielt wurden. Es soll nämlich präventiv eine Freistellungsbescheinigung für zukünftig zufließende Einkünfte erteilt werden. Die Freistellungsbescheinigung ist – im Gegensatz zum Freistellungsbescheid – zukunftsorientiert. Daher kann auch § 50d Abs. 3 EStG noch nicht auf real erzielte Einkünfte angewendet werden. Nach § 50c Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG besteht ein Anspruch auf Erteilung einer Freistellungsbescheinigung, wenn "§ 43b, § 50g EStG oder ein DBA der Besteuerung der Einkünfte entgegensteht", womit die abstrakt in dem Antrag bezeichneten zukünftigen Einkünfte gemeint sind, die nach § 50c Abs. 1 Satz 1 EStG ungeachtet der genannten Entlastungsnormen dem Steuerabzug unterlägen. Bei der Prüfung, ob ein Anspruch auf Erteilung einer Freistellungsbescheinigung besteht...