Entscheidungsstichwort (Thema)
Wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB. Umfassende Interessenabwägung bei einer fristlosen Kündigung. Erforderlichkeit einer Abmahnung vor Ausspruch einer Kündigung
Leitsatz (amtlich)
Einzelfall einer unwirksamen außerordentlichen Kündigung wegen grober Beleidigungen des Vertretungsorgans der Arbeitgeberin und von Kolleg*innen, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Klägerin aufgrund vorheriger menschenunwürdiger Arbeitsbedingungen (verschimmelter Kellerraum, 11 Grad Celsius, Mäuse, Mäusekot) der Blick für die Bedeutung ihrer Äußerungen verstellt gewesen sein könnte. Deshalb war hier eine Abmahnung nicht von vornherein aussichtslos und daher nicht entbehrlich.
Leitsatz (redaktionell)
1. Bei einer fristlosen Kündigung ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände "an sich", d. h. typischerweise, als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der Umstände des Falles jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist oder nicht.
2. In einer Gesamtwürdigung ist das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Zu berücksichtigen sind regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf.
3. Beruht die Pflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann. Die außerordentliche und ordentliche Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung setzen deshalb regelmäßig eine Abmahnung voraus.
Normenkette
BGB § 626
Verfahrensgang
ArbG Nordhausen (Entscheidung vom 29.06.2022; Aktenzeichen 3 Ca 1153/19) |
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Nordhausen vom 26.03.2021 - 3 Ca 1153/19 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung vom 29.11.2019 des ohnehin aufgrund einer nicht angegriffenen vorhergehenden Kündigung mit Ablauf des 29.02.2020 endenden Arbeitsverhältnisses.
Die am 28.03.1957 geborene, verheiratete Klägerin war seit dem 01.02.2003 bei der Beklagten als Ökonomin beschäftigt.
Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis schon am 24.11.2016 aus betriebsbedingten Gründen. Diese Kündigung wurde vom Thüringer Landesarbeitsgericht mit Urteil vom 10.04.2019 (2 Sa 150/18) rechtskräftig für unwirksam erklärt. Im Anschluss an diese Kündigung stritten die Parteien über verschiedene Zahlungsansprüche u. a. aus Annahmeverzug.
Nachdem die Klägerin an ihren Arbeitsplatz zurückkehren wollte, wurde sie zunächst in einem Keller, in dem Schimmel, Mäuse, Mäusekot und Mäusedreck waren bei einer Temperatur von 11 °C mit Archivierungsarbeiten beschäftigt. Zum Zeitpunkt der hier der streitigen außerordentlichen Kündigung zugrunde liegenden Vorfälle hatte sie ein Büro zugewiesen bekommen. Um die ihr übertragenen Archivierungsarbeiten durchzuführen, musste sie über den Hof gehen. Sie musste die schweren Akten transportieren.
Dabei wurde sie auch von ihren Kolleg*innen beobachtet.
Mit der Klägerin am 02.09.2019 zugegangenem Schreiben kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit Wirkung zum 29.02.2020. Hiergegen hat sich die Klägerin nicht zur Wehr gesetzt.
Am 28.11.2019 telefonierte die Klägerin mit ihrem privaten Handy während der Arbeitszeit mit einer ehemaligen Arbeitskollegin. Die Klägerin hatte auf ihrem Handy den Lautsprecher angestellt. Zwei Kolleginnen, Frau Jander und Frau Schröter, hörten den Inhalt dieses Gesprächs, der im Übrigen streitig ist.
Mit der Klägerin am 29.11.2019 zugegangenem Schreiben kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis außerordentlich fristlos. Hiergegen richtet sich die am 11.12.2019 beim Arbeitsgericht Nordhausen eingegangene Kündigungsschutzklage.
Die Beklagte hat behauptet, die Klägerin habe der Beklagten zugunsten eines Wettbewerbers wirtschaftlichen Schaden zugefügt und sich wegen Verletzung eines Geschäftsgeheimnisses strafbar gemacht. Sie habe sich über den Geschäftsführer der Beklagten dahingehend geäußert, dass der Flur stinke, nachdem er, der Beklagtengeschäftsführer, diesen beschritten habe. Sie habe die Mitarbeiterin .... als "fette ....", die Kollegin Frau ... als "blöde ...." bezeichnet und im Hinblick auf die Mitarbeiterin Frau ...... geäußert "die ... latscht und pfeift wie ein Kerl über den Flur."
Wegen des Weiteren unstreitigen und streitigen Vorbringens der Parteien im ersten Rechtszug sowie der dort gestellten Anträge wi...