Beleidigungen rechtfertigen nicht ausnahmslos eine fristlose Kündigung
Das LAG Thüringen hatte in der Berufungsinstanz über eine Kündigungsschutzklage einer Arbeitnehmerin zu entscheiden. Konkret ging es um die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung vom 29. November 2019. Das Arbeitsverhältnis zwischen den Arbeitsvertragsparteien hätte ohnehin aufgrund einer nicht angegriffenen vorhergehenden Kündigung drei Monate später mit Ablauf des 29. Februar 2020 geendet.
Arbeitsverhältnis war bereits ordentlich gekündigt
Die gekündigte Arbeitnehmerin war seit dem 2003 bei ihrem Arbeitgeber als Ökonomin beschäftigt. Der Arbeitgeber kündigte das Arbeitsverhältnis schon am 24. November 2016 aus betriebsbedingten Gründen. Diese damalige Kündigung wurde vom Thüringer Landesarbeitsgericht im April 2019 rechtskräftig für unwirksam erklärt. Im Anschluss an diese Kündigung kam es zu weiteren Rechtsstreitigkeiten zwischen den Arbeitsvertragsparteien über verschiedene Zahlungsansprüche.
Nachdem die Arbeitnehmerin nach gewonnenem Kündigungsschutzprozess wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren wollte, wurde sie zunächst in einem Keller, in dem sich Schimmel, Mäuse, Mäusekot und Mäusedreck befanden, bei einer Temperatur von 11 Grad Celsius mit Archivierungsarbeiten beschäftigt. Erst später wurde ihr ein Büro zugewiesen, von dem aus sie jedoch, um die ihr übertragenen Archivierungsarbeiten durchführen zu können, über den Hof gehen musste. Dabei musste sie schwere Akten transportieren und war dabei den Blicken ihrer Kolleginnen und Kollegen ausgesetzt.
Als der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis im September 2019 erneut kündigte, hat sich die Arbeitnehmerin hiergegen nicht mehr zur Wehr gesetzt.
Außerordentliche Kündigung wegen wettbewerbswidrigem Verhalten und Beleidigung
Im November 2019 telefonierte die Klägerin mit ihrem privaten Handy während der Arbeitszeit mit einer ehemaligen Arbeitskollegin. Zwei Kolleginnen, Frau Jander und Frau Schröter, hörten den Inhalt dieses Gesprächs, welches der Arbeitgeber zum Anlass nahm, eine fristlose Kündigung auszusprechen.
Der Arbeitgeber behauptet, die Arbeitnehmerin habe ihm zugunsten eines Wettbewerbers wirtschaftlichen Schaden zugefügt und sich wegen Verletzung eines Geschäftsgeheimnisses strafbar gemacht. Außerdem habe sie über den Geschäftsführer gesagt, dass der Flur stinke, nachdem der Geschäftsführer diesen beschritten habe. Eine Mitarbeiterin sei von ihr als fett und eine weitere als blöd bezeichnet worden. Über eine dritte Kollegin habe sie geäußert, diese latsche und pfeife wie ein Kerl über den Flur.
Gegen diese Kündigung klagte die Arbeitnehmerin und war mit ihrer Klage vor dem Arbeitsgericht erfolgreich. Das Arbeitsgericht sah für einen Wettbewerbsverstoß und einen Verstoß gegen das Gesetz zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen keine Anhaltspunkte, der Sachvortrag des Arbeitgebers liefere dafür keine verwertbaren Beweise. Die Beleidigungen gegenüber dem Geschäftsführer sowie den Kolleginnen könnten zwar grundsätzlich geeignet sein, einen Grund für eine außerordentliche Kündigung abzugeben. Die Verfehlungen seien allerdings nicht so schwer, als dass sie ohne vorherigen Ausspruch einer Abmahnung in diesem Einzelfall schon für den Ausspruch einer Kündigung taugten.
Arbeitgeber bestreitet Erforderlichkeit einer Abmahnung
Das wollte der Arbeitgeber nicht hinnehmen und legte Berufung ein. Das Arbeitsgericht sei fehlerhaft zu der Auffassung gekommen, dass die Kündigung unverhältnismäßig und zuvor eine Abmahnung erforderlich gewesen sei. Bei den Äußerungen der Arbeitnehmerin habe es sich neben der Störung des Betriebsfriedens um massive Beleidigungen gegenüber dem Geschäftsführer und weiteren Arbeitskolleginnen, mithin um Straftaten gehandelt. Der Arbeitnehmerin hätte erkennbar sein müssen, dass sie dadurch jegliches Vertrauen beim Arbeitgeber verspielt habe. Ihr habe auch klar sein müssen, dass diese Verfehlungen dermaßen schwer seien, dass sie gekündigt werde.
Die Beleidigungen seien nicht im Affekt oder in einer direkten Konfrontation erfolgt. Sie seien gegenüber einer außenstehenden Dritten geäußert worden. Die Arbeitnehmerin habe in ihrem Telefonat ihrer ehemaligen Arbeitskollegin auch mitgeteilt, dass sie nur noch zwei Monate durchhalten müsse und für Nichtstun einen Haufen Geld bekäme. Damit habe sie ihre Planungen offenbart, die letzten sechs Wochen bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses Urlaub zu nehmen oder arbeitsunfähig zu sein. Bei dieser Sachlage sei es ausgeschlossen, dass eine Abmahnung die Arbeitnehmerin zu einem anderen Verhalten veranlasst hätte.
Besondere Umstände sind zu berücksichtigen
Diese Sichtweise vermochte das LAG Thüringen indes nicht zu überzeugen: Es gab der Arbeitnehmerin recht und erklärte die fristlose Kündigung für unwirksam. Der Sichtweise des Arbeitgebers, die beleidigenden Äußerungen der Arbeitnehmerin seien dermaßen gravierend gewesen, dass sie Straftaten darstellten, und es ihr hätte klar sein müssen, dass der Arbeitgeber dies nicht so hinnehmen und deshalb das Arbeitsverhältnis beenden werde, vermochte das LAG nicht zu folgen.
Es könne offenbleiben, ob die als beleidigend titulierten Äußerungen grundsätzlich geeignet sind, im Normalfall eine Kündigung ohne vorherige Abmahnung zu rechtfertigen. Hier könne aufgrund besonderer Umstände, die im Wesentlichen der Arbeitgeber zu vertreten habe, nicht festgestellt werden, dass der Arbeitnehmerin klar gewesen sein muss, dass der Arbeitgeber dieses Verhalten nicht hinnehmen würde, und es sei auch nicht davon auszugehen, dass die Arbeitnehmerin nach einem entsprechenden Hinweis mit Kündigungsandrohung ihr Verhalten nicht umgestellt und die restliche Zeit des Arbeitsverhältnisses störungsfrei bewältigt hätte.
Erniedrigung und Schikane können subjektive Wahrnehmung des Beschäftigten verzerren
Nachdem die Arbeitnehmerin rechtskräftig im Rechtsstreit über die Kündigung aus dem Jahr 2016 obsiegt hatte, habe sie nach ihrer Rückkehr ins Arbeitsverhältnis zunächst in einem verschimmelten und verdreckten Keller bei 11 Grad Celsius arbeiten müssen. Sie musste sich auch offensichtlich unstreitige Ansprüche wie Urlaubsentgelt vor Gericht erstreiten. Später musste sie von ihrem Büro aus über den Hof gehen und schwere Unterlagen tragen, um die ihr angewiesenen Archivarbeiten zu bewältigen, obwohl es einen weniger anstrengenden Zugang zum Archiv gegeben hätte. Diese Situation habe die Arbeitnehmerin als erniedrigend und schikanös empfunden und sie habe sich von einigen Kollegen schlicht ausgelacht gefühlt. In einer solchen Situation könne nicht ausgeschlossen werden, sondern sei vielmehr naheliegend, dass einem Arbeitnehmer der Blick dafür verstellt sei, welche Bedeutung es hat, wenn er sich in der behaupteten Art gegenüber einer ehemaligen Kollegin über die Arbeit, die Vorgesetzten und Kolleginnen äußert. Aufgrund dieser besonderen Situation stehe nicht mit der erforderlichen Sicherheit fest, dass eine Abmahnung ohne Wirkung geblieben wäre, so das LAG Thüringen.
Mobbing des Arbeitgebers erhöht Maß des Zumutbaren
Zudem seien die als Beleidigungen apostrophierten Äußerungen der Arbeitnehmerin auch nicht derart ungeheuerlich und schwerwiegend, dass allein deshalb dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung unzumutbar gewesen wäre. Im Rahmen dieser Zumutbarkeitserwägungen sei auch das Verhalten des Arbeitgebers zu berücksichtigen. Dieser hat die Arbeitnehmerin menschenunwürdig in einem kalten, verdreckten und gesundheitsgefährdenden, weil verschimmelten, Keller beschäftigt. Auch wenn das keine Rechtfertigung für Beleidigungen ist, stellt es eine Zumutung dar. Entsprechend erhöht ist das Maß an Zumutbaren, welches der Arbeitgeber hinzunehmen hat.
Zugunsten der Arbeitnehmerin ist zu berücksichtigen, dass durch eine solche Behandlung verständlicherweise die Unzufriedenheit im Arbeitsverhältnis extrem groß ist und dass dies auch zu einer emotionalen außergewöhnlichen Situation führt. Dass ein Arbeitnehmer in einer solchen Situation unter Umständen bei Äußerungen über seinen Arbeitgeber übers Ziel hinausschießt und die Grenzen des Anstandes überschreitet und auch (ungerechter Weise) schlecht über Arbeitskollegen redet, ist nicht sanktionslos hinnehmbar, führt aber in einer solchen Ausnahmesituation nicht zum Ausspruch einer Kündigung.
Zu berücksichtigen war ferner die lange Betriebszugehörigkeit der Klägerin von 16 Jahren, ihr Lebensalter und der Umstand, dass das Arbeitsverhältnis ohnehin nur noch drei Monate gedauert hätte. Dass die Arbeitnehmerin womöglich vorgehabt haben könne, die letzten Wochen des Arbeitsverhältnisses durch Urlaub und Krankheit zu überbrücken, sei rein spekulativ und rechtfertige keine andere Beurteilung der Sachlage.
Hinweis: Thüringer Landesarbeitsgericht, Urteil vom 29. Juni 2022, Az. 4 Sa 212/21
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