Kindergeld trotz Wohnsitz beider Elternteile im EU-Ausland

Bei der kindergeldrechtlichen Wohnsitzfunktion lagen Gerichtsentscheidungen bisher stets Sachverhalte zugrunde, in denen jeweils ein Elternteil seinen Wohnsitz im Inland und der andere seinen Wohnsitz in einem anderen EU-Mitgliedstaat hatte und das Wohnsitzerfordernis des § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG damit zumindest von einem Elternteil erfüllt wurde.

Das Schleswig-Holsteinische FG hat nun in einem Fall Kindergeld gewährt, in dem beide Elternteile ihren Wohnsitz im EU-Ausland hatten.

Wohnsitzfunktion laut BFH

Für Kinder i. S. des § 63 EStG hat Anspruch auf Kindergeld, wer im Inland einen Wohnsitz oder einen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist oder als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird (§ 62 Abs. 1 EStG).

Nach einer Entscheidung des BFH (Urteil v. 4.2.2016, III R 17/13) kann eine im EU-Ausland lebende Mutter - trotz Nichterfüllung der Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 EStG - vorrangig anspruchsberechtigt sein. Hierfür sorgt Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der seit dem 1.5.2010 geltenden VO Nr. 987/2009, wonach die Situation der gesamten Familie in der Weise zu berücksichtigen ist, als würden alle Beteiligten Personen unter die Rechtsordnung des Mitgliedsstaates fallen und dort wohnen (Wohnsitzfunktion).

Zu den "beteiligten Personen" gehören die Familienangehörigen, das sind neben den Eltern alle Personen, die nach nationalem Recht berechtigt sind, Anspruch auf Familienleistungen zu erheben. Ein Wohnsitz wird dann unionsrechtlich nach Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 i. V. m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 fingiert.

Fall des Schleswig-Holsteinischen FG

In dem vom Schleswig-Holsteinischen FG entschiedenen Fall sind A und B die Eltern dreier minderjähriger Kinder. B zog im August 2015 mit A und den drei Kindern nach Brüssel. A wurde von seinem im Inland ansässigen Arbeitgeber zunächst vom 1.08.2015 bis zum 31.7.2017 in dessen Büro nach Brüssel entsandt.

Anlässlich der Verlängerung der Entsendung wurde eine Ausnahmevereinbarung gemäß Art. 16 Abs. 1 der Verordnung (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO Nr. 883/2004) abgeschlossen, nach der für A für den Zeitraum vom 1.8.2017 bis zum 31.7.2019 weiterhin die deutschen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit galten. Kindergeld wurde mit Einverständnis von A immer an B gezahlt.

In 2017 hob die Familienkasse zunächst das Kindergeld rückwirkend ab September 2015 auf. Aufgrund einer u. a. Weiterleitungsbestätigung des gezahlten Kindergelds an A ging es aber im Klageverfahren nur noch um den Verlängerungszeitraum ab 1.8.2017. Hier war die Familienkasse der Auffassung, dass die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 EStG für einen Anspruch auf Kindergeld nicht erfüllt seien, da B weder einen Wohnsitz noch einen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland gehabt habe. Aufgrund der Entsendung des Vaters der Kinder nach Belgien könne nach der VO Nr. 883/2004 eine Festsetzung des Kindergelds nur gegenüber dem Vater erfolgen.

FG gewährt B Kindergeld

Das FG hat aber zugunsten von B entschieden und ihr Kindergeld gewährt (Urteil v. 30.09.2020, 4 K 77/19). Nach Art. 12 Abs. 1 VO Nr. 883/2004 unterliegt eine Person, die in einem Mitgliedstaat für Rechnung eines Arbeitgebers, der gewöhnlich dort tätig ist, eine Beschäftigung ausübt und die von diesem Arbeitgeber in einen anderen Mitgliedstaat entsandt wird, um dort eine Arbeit für dessen Rechnung auszuführen, weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit vierundzwanzig Monate nicht überschreitet.

Nach Art. 16 VO Nr. 883/2004 können die Mitgliedstaaten, die zuständigen Behörden dieser Mitgliedstaaten oder die von diesen Behörden bezeichneten Einrichtungen im gemeinsamen Einvernehmen Ausnahmen von den Artikeln 11 bis 15 im Interesse bestimmter Personen oder Personengruppen vorsehen.

Im Streitfall wurde A von seinem Arbeitgeber zunächst für den Zeitraum von 24 Monaten nach Brüssel entsandt. Für den anschließenden Zeitraum vom 1.8.2017 bis zum 31.7.2019 liegt eine Ausnahmevereinbarung i. S. des Art. 16 VO Nr. 883/2004 vor, nach der sich die Gewährung des Kindergeldes weiterhin nach deutschen Rechtsvorschriften richtet. Die Anwendung der deutschen Rechtsvorschriften aufgrund der Ausnahmevereinbarung beruht auf der Beschäftigung des A und ist damit nach Art. 68 Abs. 1 Buchst. a VO Nr. 883/2004 vorrangig vor einem möglichen Kindergeldanspruch von B nach belgischen Rechtsvorschriften. Das FG ist der Auffassung, dass sich durch die Anwendung der deutschen Rechtsvorschriften ergibt, dass die Wohnsitzfiktion aus Art. 67 S. 1 VO Nr. 883/2004 i. V. m. Art. 60 Abs. 1 S. 2 VO Nr. 987/2009 dazu führt, dass nicht nur für A, sondern auch für B und die gemeinsamen Kinder ein inländischer Wohnsitz fingiert wird, so dass für den streitigen Zeitraum das Wohnsitzmerkmal des § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG auch im Hinblick auf B erfüllt ist.

Zunächst Revisionsverfahren dann Rücknahme

Gegen die Entscheidung des FG lief zunächst ein Revisionsverfahren vor dem BFH. Das FG hatte die Revision zugelassen, weil der BFH noch nicht entschieden hat, ob die Anwendung der Wohnsitzfiktion auch dann möglich ist, wenn beide Elternteile im Ausland wohnen. Darüber hinaus fehle es an höchstrichterlicher Rechtsprechung zum Verhältnis zwischen dem steuerrechtlichen Kindergeldanspruch nach den §§ 62 ff. EStG und dem sozialrechtlichen Kindergeldanspruch nach dem BKGG (diesen erfüllt aufgrund des Versicherungspflichtverhältnisses im Inland nur A, § 1 Abs. 1 Nr. 1 BKGG). Mittlerweile wurde die Revision aber wieder zurückgenommen (BFH, Beschluss v. 16.2.2021, III R 58/20), sodass das Urteil rechtskräftig ist. In vergleichbaren Fällen sollte sich daher auf die Entscheidung des FG Schleswig-Holstein bezogen werden.


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