Prof. Dr. Stefan Müller, Dr. Jens Reinke
Rz. 12
Anlage A von ESRS 1 enthält die Aufstellung der Nachhaltigkeitsaspekte, die bei der Wesentlichkeitsanalyse eines berichtspflichtigen Unternehmens mind. zu würdigen sind (§ 3). Die für ESRS S4 einschlägige Aufstellung von Themen, Unterthemen und Unter-Unterthemen zeigt Tab. 1:
Thema |
Unterthema |
Unter-Unterthemen |
Verbraucher und Endnutzer |
Informationsbezogene Auswirkungen für Verbraucher und/oder Endnutzer |
- Datenschutz
- Meinungsfreiheit
- Zugang zu (hochwertigen) Informationen
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Persönliche Sicherheit von Verbrauchern und/oder Endnutzern |
- Gesundheitsschutz und Sicherheit
- Persönliche Sicherheit
- Kinderschutz
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Soziale Inklusion von Verbrauchern und/oder Endnutzern |
- Nichtdiskriminierung
- Zugang zu Produkten und Dienstleistungen
- Verantwortliche Vermarktungspraktiken
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Tab. 1: Nachhaltigkeitsaspekte gem. ESRS S4 (ESRS 1.AR16)
Wie bei den anderen ESRS-Sozialstandards steht auch beim ESRS S4 die Achtung der Menschenrechte im Vordergrund. ESRS S4.BC2 verdeutlicht die Bedeutung der Achtung der Menschenrechte, wie sie auch in der Charta der Grundrechte der EU und in internationalen Instrumenten wie den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte sowie den OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen verankert sind. So sind die CSRD und ihre Vorgängerin, die NFRD, sowie die Verordnung über die Offenlegung von Informationen über nachhaltige Finanzierungen (SFDR) und die Verordnung über die EU-Taxonomie jeweils zentrale Bestandteile der Anforderungen an die Nachhaltigkeitsberichterstattung, welche die Ziele der EU-Strategie für nachhaltige Finanzen sowohl untermauern als auch voranbringen sollen und welche allesamt die Bedeutung der Achtung der Menschenrechte anerkennen.
Aufgrund dieser Relevanz sind Auswirkungen von Wirtschaftsaktivitäten auf Menschenrechtsbelange sehr häufig als wesentlich zu klassifizieren, so dass diese im Weiteren wiederum regelmäßig wesentliche Chancen und Risiken für das Unternehmen darstellen (können).
Bereits aktuell sind die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen, die 2023 zuletzt aktualisiert wurden, nicht nur freiwillig zu beachten. Jede Person oder Organisation kann eine Beschwerde über einen vermeintlichen Verstoß eines Unternehmens gegen die OECD-Leitsätze bei der zuständigen Nationalen Kontaktstelle (NKS) einreichen. Zuständig ist die NKS des Landes, in dem der mögliche Verstoß stattgefunden hat. Gibt es dort keine NKS, richtet man sich an die NKS des Landes, in dem das Unternehmen seinen Hauptsitz hat. In Deutschland ist die NKS beim BMWK eingerichtet.
Ist die Beschwerde zulässig, bietet die NKS den Parteien ihre Unterstützung bei der Erarbeitung einer einvernehmlichen gemeinsamen Lösung an. Bei erfolgreicher Vermittlung veröffentlicht die NKS eine gemeinsame Abschlusserklärung der Parteien zum Verlauf und zum Ergebnis des Verfahrens. Konnte keine Einigung erreicht werden, so verfasst und publiziert die NKS eine eigene, einseitige Abschlusserklärung zum vorgetragenen Sachverhalt und zum Verlauf des Verfahrens, die erforderlichenfalls Handlungsempfehlungen zur besseren Umsetzung der OECD-Leitsätze enthält, was bei dem benannten Unternehmen zu erheblichem Reputationsschaden führen kann. Das Verfahren vor der NKS ist kein gerichtliches Verfahren. Aufgrund des rechtlich nicht bindenden Charakters der OECD-Leitsätze kann auch der Inhalt einer Abschlusserklärung nicht direkt gerichtlich durchgesetzt werden. Sollten in dem Verfahren aber auch Verstöße der gesetzlich fixierten Sorgfaltspflichten offensichtlich werden, steht in diesen Fällen auch der Rechtsweg offen. Durch diese rechtliche Würdigung der Stellung der OECD-Leitsätze erübrigt sich u. E. auch die juristische Diskussion, ob die 2023er Aktualisierung für die Nachhaltigkeitsberichterstattung gelten kann, da CSRD und ESRS als europäische Rechtsnormen eigentlich nur statisch (auf die vorherige Version) verweisen können. Die Auslegung als dynamischer Verweis auf die jeweils aktuelle Fassung ist hier sinnvoll und von der praktischen Anforderung her auch notwendig.
Die Themen des ESRS S4 zu Verbrauchern und Endnutzern sind bei der Erstellung der Nachhaltigkeitsberichterstattung entsprechend ausführlich nach den in ESRS 2 dargelegten Verfahren zur Bewertung der Wesentlichkeit zu analysieren (ESRS S4.5, ESRS S4.BC10). Gerade bei Menschenrechtsbelangen ist in der Berichterstattung zwischen "potenziellen Auswirkungen" und "tatsächlichen Auswirkungen" sowie den Brutto- und Nettowahrscheinlichkeiten zu unterscheiden.
Bei einem Produzenten von Flugzeugreifen könnten daraus folgende Überlegungen resultieren:
- Ein Reifen könnte beim Start oder der Landung des Flugzeugs platzen und dadurch könnten Menschen leiblichen Schaden erleiden (potenzielle Auswirkung, Bruttowahrscheinlichkeit).
- Aufgrund der Qualitätsanforderungen und auch der Qualitätskontrolle bei Flugzeugreifen kann ein Platzen allerdings immer noch passieren, ist aber nicht wahrscheinlich (potenzielle Auswirkung, Nettowahrscheinlichkeit).
- Die gute Qualität...