Prof. Dr. rer. pol. Karsten Paetzmann, Sean Needham
Rz. 9
Die Wesentlichkeitsanalyse ist ein zentrales Element der Nachhaltigkeitsberichterstattung nach den ESRS. Der ESRS 1 Allgemeine Vorschriften definiert das Konzept der doppelten Wesentlichkeit (double materiality), das der nichtfinanziellen Berichterstattung zugrundegelegt wird. Unterschieden wird zwischen einer impact materiality und einer financial materiality.
Impact materiality (inside-out Perspektive): Ein nachhaltigkeitsbezogener Aspekt oder eine nachhaltigkeitsbezogene Information ist dann wesentlich, wenn damit von dem Unt signifikante die Nachhaltigkeit betreffende Auswirkungen auf die Menschen oder die Umwelt ausgehen, wobei diese Auswirkungen kurz-, mittel- oder langfristiger Natur sein können. Die Auswirkungen müssen dabei nicht unmittelbar durch das Unt verursacht sein, sondern es genügt eine direkte Verbundenheit (directly linked) der Auswirkungen mit der Wertschöpfungskette des Unt.
Financial materiality (outside-in Perspektive): Zum Zwecke der Erstellung eines Nachhaltigkeitsberichts ist ein nachhaltigkeitsbezogener Aspekt eines Unt wesentlich, sofern er aufseiten dieses Unt finanzielle Auswirkungen verursacht, indem er Risiken oder Chancen befördert, die kurz-, mittel- oder langfristig künftige Cash Flows und darüber den Wert des Unt beeinflussen oder beeinflussen können – das Verfahren zur Bewertung entspricht dem, welches auch im Abschluss zur Anwendung kommt. Die aufgegriffenen Nachhaltigkeitsaspekte können sowohl negativer Natur sein als auch positive Auswirkungen und Chancen beinhalten.
Zur Beurteilung, ob Auswirkungen im Hinblick auf ein Nachhaltigkeitsthema wesentlich sind, sind im Unt zu implementierende Sorgfaltspflichten durchzuführen. Die CSRD definiert Sorgfaltspflichten als Verfahren, mithilfe derer die wesentlichen tatsächlichen und potenziellen nachteiligen Auswirkungen zu ermitteln, zu überwachen, zu verhüten, zu mildern, wiedergutzumachen oder zu beseitigen sind. Bei der Nachhaltigkeitsberichterstattung ist über die Diligence-Prozesse zu berichten.
Rz. 10
Es gilt der Grundsatz, dass eine Berichterstattung nur dann zu erfolgen hat, wenn ein Nachhaltigkeitsthema als wesentlich erachtet wird. Im Zuge der unternehmensindividuellen Wesentlichkeitseinschätzung kann eine Fokussierung auf die spezifisch relevanten Aspekte gelingen. Dies fördert Transparenz und hält den Aufwand bei der Berichterstattung potentiell klein.
Zugleich ist dabei, auch mit dem Ziel einer möglichst hohen Transparenz, der Prozess der Wesentlichkeitsanalyse, einschl. gewählter Methoden, Schwellenwerte und Wesentlichkeitsgrenzen, zugrundeliegender Annahmen und involvierter Stakeholder, offenzulegen.
Wird ein Nachhaltigkeitsaspekt auf Grundlage der Wesentlichkeitsanalyse als wesentlich erachtet, sind die entsprechenden Berichtsanforderungen zu erfüllen. Jedoch entfällt eine Berichtspflicht für Kennzahlen (metrics), sofern diese als unwesentlich eingestuft werden und das Ziel der Berichtsanforderungen durch das Weglassen nicht beeinträchtigt wird.
Eine Berichterstattung unabhängig von Wesentlichkeitserwägungen hat zu erfolgen für die Berichtsanforderungen nach ESRS 2 und für sämtliche Berichtsanforderungen und Datenpunkte in Bezug auf ESRS 2 IRO-1 (Description of the process to identify and assess material impacts, risks and opportunities), wenn diese in den umweltbezogenen Standards (ESRS E1 bis E5) oder ESRS G1 Unternehmensführung aufgeführt sind.
Dagegen stehen diverse Berichtsanforderungen im Zusammenhang mit einer Reihe von europäischen Rechtsakten, einschl. der Offenlegungsverordnung (2019/2088) im Zusammenhang mit den wichtigsten nachteiligen Auswirkungen (principal adverse indicators), mit den technischen Durchführungsstandards der EBA zu aufsichtlichen Offenlegungen von ESG-Risiken nach Art. 449a der Kapitaladäquanzverordnung (575/2013), mit Offenlegungspflichten für Benchmark-Administratoren nach der Benchmark-Verordnung (2020/1816) sowie mit dem Europäischen Klimagesetz (2021/1119), zunächst doch unter dem Wesentlichkeitsvorbehalt der ESRS, obwohl eine Berichterstattung aus den zugrunde liegenden Regulierungen nötig ist.
Die EFRAG publizierte am 31.5.2024 einen Leitfaden zur Wesentlichkeitsanalyse (EFRAG IG 1: Materiality Assessment Implementation Guidance) als einen von drei (unverbindlichen) Umsetzungsleitlinien (daneben: EFRAG IG 2: Value Chain und EFRAG IG3 Detailed Data Points and accompanying Explanatory Note). Mit EFRAG IG 1 soll Unterstützung bei der Umsetzung der Wesentlichkeitsanalyse, insb. bei der Beurteilung der doppelten Wesentlichkeit geboten werden. EFRAG IG 1 führt selbst keine neuen Bestimmungen in die ESRS ein, sondern liefert Umsetzungsleitlinien zur Veranschaulichung und zur Erleichterung der praktischen Umsetzung.