Begutachtungsleitlinien für Berufsfahrer mit Schwindel und Gleichgewichtsstörungen
Etwa 3 von 10 Menschen erkranken im Verlauf ihres Lebens an Gleichgewichtsstörungen. Bei den meisten tritt der Schwindel allerdings nur phasenweise in Form von Schwindelattacken auf. In der übrigen Zeit sind die Betroffenen beschwerdefrei und dürfen auch uneingeschränkt Autofahren.
Kriterien für Fahrtüchtigkeit
2022 sind die überarbeiteten Begutachtungsleitlinien für die Kraftfahreignung der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) erschienen. Die Leitlinien stellen Kriterien für die medizinische und psychologische Beurteilung der Kraftfahreignung auf. Sie bieten den Gutachtern die Grundlage, um zu beurteilen, ob und wenn der körperliche oder geistige Zustand einer Person erwarten lässt, dass sie beim Führen eines Kraftfahrzeugs eine Verkehrsgefährdung darstellt. In der novellierten Fassung ergeben sich eine Reihe von Änderungen im Vergleich zur letzten Fassung von 2014, allerdings kaum in Hinsicht auf Schwindel und Gleichgewichtsstörungen.
Gleichgewichtsstörungen: Restriktionen für betroffene Fahrer
2014 wurde die Begutachtungsleitlinie um eine Liste von Schwindelformen und Gleichgewichtsstörungen ergänzt („Störungen des Gleichgewichtssinnes“). Seitdem gelten viele Restriktionen für betroffene Fahrer. Allerdings erlaubt die Leitlinie Personen mit einem Führerschein der Klassen A, A1, A2, B, BE, AM, L und T, dass sie nach einer fachärztlichen Untersuchung und einer gesicherten Diagnose zumindest in den schwindelfreien Phasen ein Kraftfahrzeug steuern dürfen – und das in den meisten Fällen auch ohne weitere Einschränkungen. Eine fehlende Fahreignung ist zudem in der Regel nicht gleichbedeutend mit einem Führerscheinentzug.
Einschränkungen und Verbote
Die seit 2014 geltenden Regelungen bedeuten für viele Privatfahrer schon deutliche Einschränkungen, da sie in nicht beschwerdefreien Zeiten nicht fahren dürfen und sich grundsätzlich einer fachärztlichen Untersuchung unterziehen müssen. Für Berufsfahrer (Fahrerlaubnisklasse Gruppe 2) ergeben sich aufgrund ihrer gesellschaftlichen Verantwortung, zum Beispiel die Beförderung von Personen in Bussen, aber noch größere Herausforderungen. Denn für sie gilt bei ernsthafteren Schwindelformen und Gleichgewichtsstörungen generell keine Fahreignung, auch wenn durch Einzeluntersuchungen eventuell Ausnahmen möglich gemacht werden können. Dies betrifft vor allem Fahrer, die an bilateraler Vestibulopathie oder an zentral-vestibulären Schwindelformen bzw. Okulomotorikstörungen wie Downbeat- oder Upbeat-Nystagmussyndromen leiden. Auch bei funktionellen (psychogenen) Schwindelformen sowie Morbus Menière müssen Berufsfahrer in der Regel ihren Job aufgeben, weil sie sich mit diesen Beschwerden nicht mehr hinter das Steuer setzen dürfen (für Privatfahrer dagegen gelten zum Beispiel bei Morbus Menière lediglich Karenzzeiten von bis zu zwei Jahren nach Abklingen der Akutsymptomatik).
Überarbeitung der Kriterien gefordert
Nach Ansicht der Neurologen Doreen Huppert und Thomas Brandt vom Deutschen Schwindel- und Gleichgewichtszentrum (DSGZ) an der Universität München sind die Leitlinien aber zumindest in Bezug auf die harmloseren Schwindelformen deutlich zu streng und bedürften daher einer Überarbeitung. In einem 2019 in der Fachzeitschrift Laryngo-Rhino-Otologie erschienenem Artikel kritisieren sie, dass Fahrer mit Schwindelerkrankungen grundsätzlich länger beschwerdefrei sein müssen als solche mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Epilepsien. Dabei könne es vor allem bei Epileptikern zu einer plötzlichen Bewusstlosigkeit kommen, was bei Fahrern, die an Schwindelattacken leiden, in der Regel nicht vorkäme. Die Fahrtüchtigkeit von Autofahrern mit Gleichgewichtsstörungen sei, so die Mediziner, zwar eingeschränkt, aber nicht grundsätzlich aufgehoben.
Urteil zu Morbus Menière
Ein weiteres Problem kommt für betroffenen Fahrer hinzu, wenn sie in einen Unfall verwickelt wurden, der ein Gerichtsverfahren zu Folge hat. Das Göttinger Verwaltungsgericht gab 2015 der zuständigen Führerscheinbehörde recht, die einem Autofahrer, der an der Schwindelform Morbus Menière litt, die Fahrerlaubnis entzogen hatte. Dass der Autofahrer eigenen Angaben zufolge seit gut 3 Jahren keine akuten Schwindelattacken mehr hatte, spielte für das Urteil keine Rolle. Betroffene müssen nach diesem Urteil nun vielmehr eindeutig nachweisen, dass sich zum Zeitpunkt des Unfalls kein Schwindelanfall ereignet hat. Dazu braucht die betroffene Person aber unbedingt eine fachärztliche Begutachtung, welche genau dies attestiert. Personen mit Schwindelattacken sind nach dem Göttinger Urteil also von vornherein benachteiligt.
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