Entscheidungsstichwort (Thema)
Divergenz; Verfahrensrügen; Brieflaufzeiten im Ausland kein gerichtsbekannter oder offenkundiger Wiedereinsetzungsgrund
Leitsatz (NV)
1. Legt das FG einen von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Rechtsgrundsatz zugrunde und zieht daraus lediglich nicht die von einem Beteiligten für richtig gehaltenen Schlußfolgerungen, liegt darin keine Abweichung von einer Entscheidung des BFH, sondern allenfalls eine fehlerhafte Rechtsanwendung.
2. Ein Verfahrensmangel kommt in Betracht, wenn das FG offenkundige oder gerichtsbekannte Tatsachen nicht von Amts wegen im Rahmen der Prüfung der Wiedereinsetzung berücksichtigt.
3. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Klagefrist ist auch ohne Vortrag der die Wiedereinsetzung begründenden Tatsachen innerhalb der gesetzlichen Antragsfrist von Amts wegen zu gewähren, wenn ein Wiedereinsetzungsgrund offenkundig, gerichtsbekannt oder aktenkundig ist.
4. Die Dauer einer Briefbeförderung im Inland ist nach den amtlichen Verlautbarungen der Deutschen Bundespost und dem Erfahrungswissen der Gerichte grundsätzlich gerichtsbekannt. Eine derartige gesicherte Kenntnis besteht hingegen, zumal im Hinblick auf die sehr unterschiedlichen Verhältnisse in den einzelnen Ländern, nicht in gleicher Weise auch für Auslandsbeförderungen.
Normenkette
FGO § 56 Abs. 2 Sätze 1, 4, § 76 Abs. 1 S. 1, § 115 Abs. 2 Nrn. 2-3, Abs. 3 S. 3
Gründe
Die Beschwerde ist unzulässig.
1. Die Beschwerde legt bereits keine Divergenz i. S. von § 115 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3 Satz 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) dar.
Sie zitiert zwar eine Divergenzentscheidung (Urteil des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 26. November 1976 III R 125/74, BFHE 121, 15, BStBl II 1977, 246). Indessen arbeitet sie die angeblich voneinander abweichenden Rechtssätze des angefochtenen Urteils und der mutmaßlichen Divergenzentscheidung nicht heraus und stellt sie gegenüber (vgl. BFH-Beschluß vom 13. Mai 1992 II B 131/91, BFH/NV 1992, 762, ständige Rechtsprechung).
Das Finanzgericht (FG) hat hinsichtlich der Brieflaufzeiten überdies bei einer Beförderung im Ausland das Vorliegen von gerichtsbekannten oder offenkundigen Erfahrungstatsachen verneint. Legt das FG indessen einen von der Rechtsprechung entwickelten Rechtsgrundsatz zugrunde, zieht es hieraus aber lediglich nicht die vom Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) für richtig gehaltenen Schlußfolgerungen, so liegt hierin keine Abweichung von einer Entscheidung des BFH, sondern allenfalls eine fehlerhafte Rechtsanwendung (BFH- Beschluß vom 3. April 1992 V B 3/92, BFH/NV 1992, 828).
2. Die Beschwerde bezeichnet ebensowenig Verfahrensmängel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 3 Satz 3 FGO).
Ein Verfahrensmangel ist nur ordnungsgemäß gerügt, wenn die zur Begründung vorgetragenen Tatsachen, ihre Richtigkeit unterstellt, den Mangel ergeben (vgl. BFH- Beschluß vom 10. November 1992 VII R 51/91, BFH/NV 1994, 29 m. w. N., ständige Rechtsprechung).
a) Ein Verfahrensmangel könnte darin liegen, daß das FG offenkundige oder gerichtsbekannte Tatsachen nicht von Amts wegen im Rahmen der Prüfung der Wiedereinsetzung berücksichtigt hat.
Grundsätzlich kann Wiedereinsetzung auch ohne besonderen Antrag gewährt werden, wenn die versäumte Rechtshandlung innerhalb der Antragsfrist nachgeholt worden ist (§ 56 Abs. 2 Satz 4 FGO). Auch in einem solchen Falle sind jedoch die Tatsachen, die die Wiedereinsetzung begründen können, innerhalb der Antragsfrist nach § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO vorzutragen (BFH- Beschluß vom 17. Februar 1994 VIII B 114/93, BFH/NV 1994, 810, m. w. N., ständige Rechtsprechung). Ist dies nicht geschehen, wovon das FG in dem angefochtenen Urteil rügelos ausgeht, kann Wiedereinsetzung nur gewährt werden, wenn ein Wiedereinsetzungsgrund offenkundig, gerichtsbekannt oder aktenkundig ist (vgl. BFH-Beschlüsse vom 20. Februar 1990 VII R 125/89, BFHE 159, 573, BStBl II 1990, 546, 548; vom 17. September 1987 III R 259/84, BFH/NV 1988, 681, 682; Urteile vom 16. November 1984 VI R 176/82, BFHE 143, 27, BStBl II 1985, 266, 268; in BFHE 121, 15, BStBl II 1977, 246; Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts -- BVerwG -- vom 9. Juli 1975 VI C 18/75, Steuerrechtsprechung in Karteiform -- StRK --, Finanzgerichtsordnung, § 56, Rechtsspruch 290; Koch/Gräber, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 56 Rz. 58).
In Fällen der Postlaufzeiten bei Inlandsbeförderung kann der Bürger darauf vertrauen, daß die von der Deutschen Bundespost nach ihren organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen für den Normalfall festgelegten Postlaufzeiten auch eingehalten werden. Versagen diese Vorkehrungen, dürfen Verzögerungen der Briefbeförderung nicht dem Rechtschutzsuchenden als Verschulden angerechnet werden (Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts -- BVerfG -- vom 3. November 1982 2 BvR 1145/81, BVerfGE 62, 216, 221, m. w. N.; vom 1. Dezember 1982 1 BvR 607/82, BVerfGE 62, 334, 337, m. w. N.; BFH-Beschluß vom 15. Juli 1992 X B 13/92, BFH/NV 1992, 763, 764; Urteil vom 21. Dezember 1990 VI R 10/86, BFHE 163, 400, BStBl II 1991, 437, 438). Die Dauer einer Inlandsbeförderung ist nach den amtlichen Verlautbarungen der Deutschen Bundespost und dem Erfahrungswissen der Gerichte grundsätzlich gerichtsbekannt (vgl. BFH-Urteile vom 24. Juni 1988 III R 177/85, BFH/NV 1989, 351, 352; in BFHE 121, 15, BStBl II 1977, 246).
Eine solche gesicherte Kenntnis kann hingegen, zumal angesichts der sehr unterschiedlichen Verhältnisse in den einzelnen Ländern, nicht in gleicher Weise auch für Auslandsbeförderungen gelten.
Offenkundig ist eine Tatsache, wenn sie einem größeren Kreis von Personen allgemein bekannt ist und der Richter die Überzeugung von der Wahrheit aus der Allgemeinkunde schöpft (BFH-Urteil vom 24. August 1990 VI R 178/85, BFH/NV 1991, 140, 141; Greger/Zöller, Zivilprozeßordnung, 19. Aufl., § 291 Rz. 1). Daß in diesem Sinne die üblichen Postlaufzeiten zwischen Palma de Mallorca und Berlin für eine Expreßbriefbeförderung offenkundig sein sollen, behauptet die Beschwerde selber nicht.
Gerichtskundig ist eine Tatsache, wenn zumindest die Mehrheit des zur Entscheidung berufenen Spruchkörpers sie aus der gegenwärtigen oder auch aus der früheren Tätigkeit sicher kennt und sich nicht erst durch Beiziehen von Akten oder die Einholung von Auskünften u. a. kundig machen muß (BVerwG-Beschluß vom 22. August 1989 9 B 207/89, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1990, 551, 552; ferner BVerfG-Beschluß vom 19. April 1978 1 BvR 596/77, BVerfGE 48, 206, 209; Greger/Zöller, a. a. O., § 291 Rz. 1; Baumbach/Lauterbach/Hartmann/Albers, Zivilprozeßordnung, 53. Aufl., § 291 Rz. 3; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 15. Aufl., § 81 Rz. 3; Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, 10. Aufl., § 98 Rz. 24).
Die im Zusammenhang mit der Divergenzrüge vorgetragene Behauptung, aus zwei von zahlreichen weiteren Verfahren bereits aus dem Jahre 1987 sei dem Senat bekannt gewesen oder hätte bekannt sein müssen, daß die Postlaufzeiten in diesen Fällen von Palma de Mallorca nach Berlin mit normaler Post 5--6 Tage betragen habe, legt jedenfalls eine Gerichtskundigkeit oder gar Aktenkundigkeit hinsichtlich der normalen und üblichen Postlaufzeiten nicht schlüssig dar. Die Beschwerde trägt bereits nicht vor, daß dieselben Richter wie im Streitfall und gegebenenfalls welche an der Entscheidung über jene Fälle überhaupt konkret beteiligt gewesen sind und wie diese Fälle erledigt worden sind, z. B. durch eine streitige Entscheidung oder durch Zurücknahme. Allein aus der Laufzeit von Postgut in zwei Fällen kann auch nicht ohne weiteres auf eine übliche Postlaufzeit geschlossen werden. Müßte sich überdies der Spruchkörper erst durch Einsichtnahme in jene Akten kundig machen, ist schon die Laufzeit in jenen beiden Fällen nicht als gerichtsbekannt anzusehen.
b) Da die Kläger die Antragfrist für den auch bei einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand von Amts wegen notwendigen Tatsachenvortrag nicht gewahrt hatten (vgl. dazu BFH-Beschlüsse vom 24. Februar 1993 VI R 35/92, BFH/NV 1993, 615, 616; vom 19. Januar 1993 X R 82/92, BFH/NV 1993, 611) mußte sich schon aus diesem Grunde dem FG eine weitere Sachaufklärung nicht aufdrängen.
Es kann dahingestellt bleiben, ob nicht auch deshalb für Amtsermittlungen im Verfahren wegen Wiedereinsetzung kein Raum ist (vgl. BFH-Urteil vom 20. November 1987 III R 208/84, III R 210--211/84, BFH/NV 1989, 370, 371; Koch/Gräber, a. a. O., § 56 Rz. 53, 52), weil die Kläger von sich aus die Tatsachen durch präsente Beweismittel glaubhaft zu machen haben, z. B. durch eine amtliche Postauskunft (BFH-Urteil vom 31. Mai 1990 V R 21/86, BFH/NV 1991, 131, 132).
Einer weiteren Begründung bedarf es nicht (Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs).
Fundstellen
Haufe-Index 420686 |
BFH/NV 1996, 137 |