Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Einspruchsfrist bei Steuerbescheid, der von der Steuererklärung abweicht; Streitgegenstand
Leitsatz (NV)
1. Die Regelung des § 126 Abs. 3 Satz 1 AO 1977, wonach die Versäumung der Rechtsbehelfsfrist als nicht verschuldet gilt, wenn einem Verwaltungsakt die erforderliche Begründung fehlt oder die erforderliche vorherige Anhörung eines Beteiligten unterblieben ist, setzt voraus, daß das Unterbleiben der Anhörung ursächlich für die Versäumung der Rechtsbehelfsfrist war (Anschluß an BFH-Urteil vom 13. Dezember 1984 VIII R 19/81, BFHE 143, 106, BStBl II 1985, 601). Diese Ursächlichkeit ist nicht gegeben, wenn das Finanzamt im Einkommensteuerbescheid auf die Abweichung von der Steuererklärung hinreichend hingewiesen hat.
2. Der nach § 121 Abs. 1 AO 1977 vorgeschriebenen schriftlichen Begründung des Einkommensteuerbescheids kann dadurch genügt sein, daß das Finanzamt auf die Erfassung des Nutzungswerts eines Einfamilienhauses hinweist.
3. Wird mit der Klage beim FG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Einspruchsfrist gegen einen Steuerbescheid begehrt, so ist Streitgegenstand dieses Verfahrens nicht auch, ob der bestandskräftig gewordene Bescheid wegen neuer Tatsachen zu Gunsten des Steuerpflichtigen im Sinne von § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 geändert werden könnte.
Normenkette
AO 1977 § 91 Abs. 1, § 110 Abs. 1-2, §§ 121, 126 Abs. 3, § 157 Abs. 1 S. 1, § 173 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; EStG 1980 § 21 Abs. 2, § 21a Abs. 3
Tatbestand
Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Eheleute, die zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden. Für ihr im Jahre 1970 errichtetes selbstgenutztes Einfamilienhaus nahmen sie bis 1977 erhöhte Absetzungen nach § 7 b des Einkommensteuergesetzes (EStG) in Anspruch. In ihrer Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 1978, die sie ohne Mitwirkung eines Angehörigen der steuerberatenden Berufe angefertigt hatten, gaben sie keine Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung an. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) führte die Veranlagung durch seine Übernahmestelle ohne Beiziehung der Einkommensteuerakten durch. Entsprechend den gespeicherten ,,Grunddaten Einfamilienhaus" wurden Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung in Höhe von 1 199 DM angesetzt. In dem Einkommensteuerbescheid vom 5. Juni 1979 heißt es hierzu: ,,Der Nutzungswert des selbstgenutzten Einfamilienhauses wurde mit 1 v. H. des um 40 v. H. erhöhten Einheitswertes nach den Wertverhältnissen zum 1. 1. 1964 berechnet . . . Der Begünstigungszeitraum ist bereits abgelaufen, so daß erhöhte Absetzungen nicht mehr in Betracht kommen. Der Einheitswert beträgt 85 700 DM."
Am 13. Februar 1980 legten die Kläger gegen diesen Bescheid Einspruch ein mit der Bitte um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Fristversäumnis. Zur Begründung machten sie geltend, bei der Erarbeitung der Besteuerungsgrundlagen für 1979 hätten sie festgestellt, daß im Steuerbescheid für das Streitjahr die Höhe der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung unzutreffend angesetzt worden sei. Denn es seien im Streitjahr gezahlte Schuldzinsen in Höhe von rd. 3 000 DM nicht berücksichtigt worden. Die richtige Höhe der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung wäre daher null DM gewesen. Der steuerlich unerfahrene und damals noch nicht beratene Kläger habe den Einkommensteuerbescheid 1978 seinerzeit hingenommen, weil gemäß seiner Erwartung ein - allerdings geringfügiger - Steuerbetrag erstattet worden sei. Er habe die Richtigkeit des Bescheids vermutet und sich auch darauf verlassen können, daß die Steuerbehörde den Sachverhalt vollständig aufkläre und einen richtigen Steuerbescheid erteile.
Das FA verwarf den Einspruch als unzulässig. Dagegen gab das Finanzgericht (FG) der Klage statt. Es führte im wesentlichen aus: Das FA habe den Klägern zu Unrecht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand versagt. Denn die Versäumung der Einspruchsfrist durch die Kläger gelte gemäß § 126 Abs. 3 Satz 1 der Abgabenordnung (AO 1977) als nicht verschuldet, wenn die rechtzeitige Einlegung des Rechtsbehelfs versäumt wurde, weil dem Verwaltungsakt die erforderliche Begründung gefehlt habe oder die erforderliche Anhörung eines Beteiligten vor Erlaß des Verwaltungsakts unterblieben sei. So liege der Fall hier. Das FA sei, ohne den Klägern Gelegenheit zur vorherigen Stellungnahme zu geben (§ 91 Abs. 1 Satz 2 AO 1977), von dem in der Steuererklärung erklärten Sachverhalt insofern wesentlich zuungunsten der Kläger abgewichen, als nicht erklärte Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung von immerhin 1 199 DM in die Veranlagung einbezogen worden seien. Daß die Versäumung der Rechtsbehelfsfrist auf der unterbliebenen Anhörung der Kläger beruhe, unterliege keinem Zweifel. Denn die Kläger hätten, wären sie auf die beabsichtigte Anwendung von § 21 a Abs. 1 Satz 2 EStG hingewiesen worden, die Schuldzinsen wie in den Vorjahren als Werbungskosten geltend gemacht.
Ob der angefochtene Bescheid mit einer ausreichenden Begründung versehen sei, könne dahingestellt bleiben, weil die beiden Alternativen des § 126 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 voneinander unabhängig seien. Die unterbliebene Anhörung werde deshalb nicht durch eine ausreichende Begründung des Verwaltungsakts kompensiert. Vielmehr sei der Verstoß gegen § 91 Abs. 1 AO 1977 gemäß § 126 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 lediglich dann unbeachtlich, wenn die unterbliebene Anhörung nachgeholt werde. Die unterbliebene Anhörung sei jedoch erst im Rahmen des Einspruchsverfahrens und damit verspätet nachgeholt worden.
Mit der hiergegen eingelegten Revision rügt das FA Verletzung der §§ 91, 110 und 126 AO 1977.
Das FA beantragt, das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen sinngemäß, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Sie schließen sich der Vorentscheidung an und machen außerdem geltend: Die Grundsätze zur Anhörung der an einem Verwaltungsverfahren Beteiligten seien in § 91 AO 1977 abschließend geregelt. Aus der Vorschrift lasse sich keine Einschränkung auf Abweichungen in erheblicher Höhe ableiten.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und Klageabweisung (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Das FG ist zu Unrecht davon ausgegangen, daß den Klägern Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren war.
Nach § 110 Abs. 1 AO 1977 kann auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Fehlt einem Verwaltungsakt die erforderliche Begründung oder ist die erforderliche Anhörung eines Beteiligten vor Erlaß des Verwaltungsakts unterblieben und ist dadurch die rechtzeitige Anfechtung des Verwaltungsakts versäumt worden, so gilt die Versäumung der Rechtsbehelfsfrist als nicht verschuldet (§ 126 Abs. 3 Satz 1 AO 1977). Das für die Wiedereinsetzungsfrist nach § 110 Abs. 2 AO 1977 maßgebende Ereignis tritt im Zeitpunkt der Nachholung der unterlassenen Verfahrenshandlung ein (§ 126 Abs. 3 Satz 2 AO 1977). Das FG hat zu Unrecht das Vorliegen der Voraussetzungen des § 126 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 bejaht.
Es kann entgegen der Vorentscheidung offenbleiben, ob das FA die Kläger vor Erlaß des Einkommensteuerbescheids gemäß § 91 Abs. 2 AO 1977 hätte anhören sollen und ob es sich hier um eine wesentliche Abweichung von der Steuererklärung handeln würde, wie sie das FG ohne weiteres angenommen hat. Denn das Unterbleiben der Anhörung muß ursächlich für die Versäumung der Rechtsbehelfsfrist sein (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 13. Dezember 1984 VIII R 19/81, BFHE 143, 106, BStBl II 1985, 601 mit weiteren Nachweisen). Das ist hier nicht der Fall, weil das FA im Einkommensteuerbescheid auf die Abweichung hinreichend hingewiesen hat. Durch einen Hinweis auf die Abweichung kann der ursächliche Zusammenhang zwischen unterbliebener Anhörung und Versäumung der Einspruchsfrist unterbrochen (BFH-Urteil in BFHE 143, 106, BStBl II 1985, 601; vgl. auch Anwendungserlaß des BMF zur AO 1977 - AEAO - vom 24. September 1987 IV A 5 - S 0062 - 38/87, zu § 91, Tz. 3, BStBl I 1987, 664) oder doch überlagert werden (vgl. FG Hamburg, Urteil vom 2. Dezember 1981 VI 217/78, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1982, 274 und Tipke/Kruse, Abgabenordnung- Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., § 126 AO 1977 Tz. 4).
Soweit das FG demgegenüber lediglich darauf abstellt, daß die Kläger bei einem vorherigen Hinweis des FA auf die Erfassung des Nutzungswerts des Einfamilienhauses die Schuldzinsen als Werbungskosten geltend gemacht hätten, hat es zu Unrecht offengelassen, ob der angefochtene Bescheid mit einer ausreichenden Begründung versehen war, und sich rechtsirrig auf den Standpunkt gestellt, daß eine unterlassene Anhörung nicht durch eine ausreichende Begründung des Verwaltungsakts geheilt werden könne.
Nach § 121 Abs. 1 AO 1977 ist der Steuerbescheid als schriftlicher Verwaltungsakt zu begründen, soweit dies zu seinem Verständnis erforderlich ist (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 30. Juli 1980 I R 148/79, BFHE 131, 270, BStBl II 1981, 3). Dies ist hier mit dem Hinweis des FA auf die Erfassung des Nutzungswerts des Einfamilienhauses geschehen, da es sich um eine den Steuerpflichtigen bekannte, seit mehreren Jahren bestehende Sachverhaltsgestaltung handelte. Aus diesem Hinweis ergab sich der Ansatz eines von den Klägern nicht erklärten Nutzungswerts des selbstgenutzten Einfamilienhauses mit einem Bruchteil des Einheitswerts ohne Berücksichtigung von erhöhten Absetzungen nach § 7 b EStG.
Das FA brauchte sich zu der Nichtberücksichtigung von Schuldzinsen jedenfalls deshalb nicht zu äußern, weil solche nicht geltend gemacht worden waren. Außerdem war aus dem Hinweis auf die Erfassung des Nutzungswerts des Einfamilienhauses und seine Berechnung auch für die Kläger zu entnehmen, daß abweichend von den Vorjahren keine Schuldzinsen als Werbungskosten bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung berücksichtigt worden waren. Da die Kläger in den von ihnen selbst gefertigten Einkommensteuererklärungen für die Vorjahre jeweils solche Schuldzinsen in Höhe des Bruttonutzungswerts geltend gemacht hatten, muß ihnen die beschränkte Abziehbarkeit solcher Werbungskosten bekannt gewesen sein. Nach ihrer eigenen Darstellung haben sie jedoch den für das Streitjahr ergangenen Einkommensteuerbescheid schon deshalb nicht weiter geprüft, weil sich entsprechend ihrer Erwartung eine - allerdings geringe - Steuererstattung ergeben hatte.
Die Sache ist spruchreif. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 110 Abs. 1 AO 1977 kann den Klägern auch im übrigen nicht gewährt werden, weil sie nicht ohne Verschulden gehindert waren, die Einspruchsfrist einzuhalten. Die Kläger haben nach ihrem eigenen Vorbringen die Richtigkeit des Steuerbescheids nicht überprüft, obwohl ihnen aufgrund der Rechtsbehelfsbelehrung bekannt war, daß der Bescheid nach Ablauf der Einspruchsfrist unanfechtbar werden würde.
Der Senat hat nicht darüber zu befinden, ob der bestandskräftig gewordene Bescheid nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 geändert werden könnte, da diese Frage nicht Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens war.
Fundstellen