Leitsatz (amtlich)
1. Die Anordnung einer Ausschlußfrist für das Einreichen der Prozeßvollmacht (Art. 3 § 1 VGFG-EntlG), deren Dauer im Hinblick auf glaubwürdig geltend gemachte vorübergehende Hinderungsgründe für die Beibringung der Vollmacht zu kurz bemessen ist, verletzt den Anspruch des prozeßbeteiligten Vollmachtgebers auf rechtliches Gehör.
2. Die Ausschlußfrist gemäß Art. 3 § 1 VGFG-EntlG kann auf Antrag verlängert werden (§ 54 Abs. 2 FGO; § 224 Abs. 2 ZPO).
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; VGFG-EntlG Art. 3 § 1; FGO § 54 Abs. 2; ZPO § 224 Abs. 2
Tatbestand
Die Revision richtet sich gegen die Urteile des Finanzgerichts vom 17. Januar 1979 zu V 320/77 U (Umsatzsteuer 1968 bis 1974), zu V 316/77 E (Einkommensteuer 1968 bis 1974) und zu V 318/77 H (Lohnsteuerhaftung 1972 bis 1975); über sie war einheitlich zu entscheiden.
Der Steuerbevollmächtigte X hat am 7. Juni 1977 im Namen des Klägers gegen die Umsatzsteuer- und Einkommensteuerbescheide 1968 bis 1974 vom 16. Dezember 1976 sowie den Lohnsteuer-Haftungsbescheid für 1972 bis 1975 vom 7. Januar 1977 nach erfolglosem Einspruchsverfahren Klagen erhoben, ohne dabei seine Vollmacht nachzuweisen. Gleichzeitig mit den Anfechtungsklagen hatte X beim Finanzgericht die Aussetzung der Vollziehung der angefochtenen Bescheide beantragt. Am 20. Juli 1978 fand in der Aussetzungssache ein Erörterungstermin vor dem nach § 79 der Finanzgerichtsordnung (FGO) bestimmten Richter (Berichterstatter) statt, in dem dieser X auf das Fehlen einer schriftlichen Vollmacht hinwies. Auf diesen Hinweis hat X erklärt, der Kläger halte sich im Ausland auf und sei zur Zeit nicht erreichbar. Unmittelbar anschließend hat der Berichterstatter dem Steuerbevollmachtigten X mit einer am 1. August 1978 zugestellten Verfügung gemäß Art. 3 § 1 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit (VGFG-EntlG) vom 31. März 1978 (BGBl I 1978, 446) in jedem der drei Klageverfahren eine Frist von zwei Wochen für das Einreichen der Vollmacht gesetzt.
Vor Ablauf dieser Frist, am 14. August 1978, hat X schriftlich mitgeteilt, er könne den Kläger wegen dessen Auslandsaufenthaltes derzeit nicht erreichen, werde die Vollmacht aber nach Rückkehr des Klägers unverzüglich vorlegen. Am 18. September 1978 ist dem Finanzgericht eine zwei Tage vorher ausgestellte Prozeßvollmacht übergeben worden. In der am 17. Januar 1979 durchgeführten mündlichen Verhandlung über die Anfechtungsklagen hat der Kläger hinsichtlich der versäumten Frist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt.
Das Finanzgericht hat die Klagen durch drei gesonderte Urteile als unzulässig abgewiesen und dem Kläger die Kosten der Verfahren auferlegt: Zwar enthalte das Schreiben des Steuerbevollmächtigten X vom 14. August 1978 einen Antrag auf Verlängerung der Frist für das Einreichen der Vollmacht, jedoch schließe Art. 3 § 1 VGFG-EntlG eine Verlängerung der gesetzten Frist aus. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand komme nicht in Betracht, da der Auslandsaufenthalt des Klägers nicht glaubhaft gemacht worden sei. Im übrigen habe der Bevollmächtigte des Klägers, obwohl ihn das Gericht dazu aufgefordert habe, in der mündlichen Verhandlung nicht darlegen können, daß der Kläger die Vollmacht innerhalb von zwei Wochen nach seiner Rückkehr vorgelegt und so die für die Statthaftigkeit der Wiedereinsetzung maßgebende Frist (§ 56 Abs. 2 Satz 3 FGO) gewahrt habe.
Mit der gegen diese Urteile eingelegten Revision macht der Kläger geltend, das Finanzgericht habe Art. 3 § 1 VGFG-EntlG fehlerhaft angewendet. Die Einhaltung der richterlichen Frist sei nicht möglich gewesen, worauf K rechtzeitig hingewiesen habe. Deshalb sei eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand geboten.
Der Kläger beantragt, die angefochtenen Urteile aufzuheben und die Sachen zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Finanzgericht zurückzuverweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Urteile und zur Zurückverweisung der Sache an das Finanzgericht (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
1. Gemäß § 62 Abs. 1 Satz 1 FGO können sich die Beteiligten vor dem Finanzgericht durch Bevollmächtigte vertreten lassen. Dazu ordnet Absatz 3, soweit hier einschlägig, an: "Die Vollmacht ist schriftlich zu erteilen. Sie kann nachgereicht werden ...". Daraus folgt, daß die Vollmachtsurkunde dem Gericht vorzulegen ist (so ausdrücklich § 80 Abs. 1 der Zivilprozeßordnung - ZPO -). Das Gericht kann zwar einen Prozeßbevollmächtigten einstweilen zur Prozeßführung zulassen; es darf aber das Endurteil erst erlassen, wenn die Genehmigung (Vollmacht) beigebracht ist (§ 155 FGO, § 89 Abs. 1 ZPO).
Gemäß Art. 3 § 1 Satz 1 VGFG-EntlG kann der Vorsitzende oder der von ihm gemäß § 79 FGO bestimmte Richter für das Einreichen der Vollmacht eine Frist mit (die Vollmachtsvorlage) ausschließender Wirkung setzen. Wird die Vollmacht nicht innerhalb der Frist beigebracht, sind die Prozeßhandlungen des Bevollmächtigten als unwirksam anzusehen; die von diesem eingereichte Klage muß durch Prozeßurteil abgewiesen werden. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der richterlichen Frist ist jedoch in sinngemäßer Anwendung des § 56 FGO möglich (Art. 3 § 1 Satz 2 VGFG-EntlG).
2. Demzufolge war es zwar richtig, daß der Berichterstatter des Finanzgerichts den ohne Nachweis seiner Vollmacht auftretenden Steuerbevollmächtigten auf den Mangel der Vollmacht hingewiesen und zur Vorlage seiner Vollmacht aufgefordert hat. Das Finanzgericht hat aber den späteren Nachweis der Vollmacht zu Unrecht durch zu knapp bemessene Fristsetzung gemäß Art. 3 § 1 VGFG-EntlG ausgeschlossen.
a) Die gesetzte Frist ist nur dann in Lauf gesetzt worden, wenn die dem Steuerbevollmächtigten X übersandte Ausfertigung der Verfügung des Berichterstatters vom 27. Juli 1978 die Unterschrift des die Ausfertigung beglaubigenden Urkundsbeamten der Geschäftsstelle trägt. Nimmt man dies an, wurde zwar die Frist in Lauf gesetzt; das Gericht hat aber mit der Setzung einer Frist von nur 14 Tagen und dem Versagen einer Verlängerung dieser Frist den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes - GG -). Dabei kann offenbleiben, inwieweit eine Fristsetzung als nicht mit der Beschwerde anfechtbare prozeßleitende Verfügung (§ 128 Abs. 2 FGO) gemäß § 155 FGO, § 548 ZPO der Beurteilung des Revisionsgerichts unterliegt. Denn jedenfalls können durch prozeßleitende Verfügungen verursachte Verfahrensfehler, die wie im Fall des Art. 103 GG dem Gericht selbst zuzurechnen sind (vgl. § 119 Nr. 3 FGO), auf Rüge hin überprüft werden (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 9. Aufl., Band II, § 128 FGO Anm. 3; Gräber, Finanzgerichtsordnung, 1977, § 128 Anm. 9). Das Vorbringen des Klägers, die Fristsetzung nach Art. 3 § 1 VGFG-EntlG sei rechtswidrig, da die Frist - wie dem Berichterstatter bekannt gewesen sei - nicht habe eingehalten werden können, enthält die Rüge, der Anspruch auf rechtliches Gehör sei verletzt.
b) Die Rüge des Klägers ist begründet. Der nach § 79 FGO bestimmte Richter des Finanzgerichts hat von dem ihm durch Art. 3 § 1 VGFG-EntlG eingeräumten Ermessen zur Festsetzung einer Ausschlußfrist für die Vollmachtsvorlage einen pflichtwidrigen Gebrauch gemacht. Das Finanzgericht hat diese Fristsetzung ungeprüft (vgl. § 337 ZPO) seiner Entscheidung zugrunde gelegt. Bereits der die Ausschlußfrist setzende Richter des Finanzgerichts hätte jedoch das Vorbringen des damaligen Bevollmächtigten im Erörterungstermin vom 20. Juli 1978, der Kläger befinde sich im Ausland und sei derzeit nicht erreichbar, berücksichtigen und dabei bedenken müssen, daß die Zweiwochenfrist unter den vorgetragenen Umständen zur Beibringung der Vollmacht nicht ausreichen und zum Verlust der Klage führen könnte. Unabhängig davon ist nicht zu ersehen, welche Dringlichkeit die kurze Ausschlußfrist von 14 Tagen hätte erfordern können. Für das Mißtrauen gegen die tatsächlichen Angaben des Bevollmächtigten X, welches das Finanzgericht im Zusammenhang mit der Behandlung des Wiederaufnahmegesuchs zum Ausdruck bringt, war nach dem Inhalt des angefochtenen Urteils und der vom Finanzgericht verwerteten Akten kein Anhaltspunkt gegeben; nach der aus den Verwaltungsakten ersichtlichen langjährigen Tätigkeit des Bevollmächtigten X für den Kläger war es vielmehr glaubhaft, daß X an der Vollmachtsvorlage nur durch die Abwesenheit des Klägers gehindert war.
Es ist auch nicht ersichtlich, wie X innerhalb der ihm gesetzten Frist den Auslandsaufenthalt des Klägers zusätzlich hätte belegen sollen. Wenn das Finanzgericht gleichwohl die Angaben des Steuerbevollmächtigten X bezweifelte, wäre es mit Rücksicht auf den drohenden Klageverlust verpflichtet gewesen, dem Zweifel nachzugehen. Das wäre aus seiner Sicht schon deshalb geboten gewesen, weil es der Auffassung war, eine nach Art. 3 § 1 VGFG-EntlG gesetzte Frist könne nicht verlängert werden.
3. Diese Auffassung ist unzutreffend. Die gemäß Art. 3 § 1 VGFG-EntlG gesetzte Frist kann vielmehr als richterliche (vom Richter gesetzte) Frist gemäß § 54 Abs. 2 FGO, § 224 Abs. 2 ZPO verlängert werden (so auch Haarmann in Deutsche Steuer-Zeitung A 1978, S. 203, [206], DStZ A 1978, 203, [206]; Lohse, Deutsches Steuerrecht 1978 S. 429, DStR 1978, 429; Späth in DStR 1978, 433, Fußnote 9; Meyer-Ladewig, Neue Juristische Wochenschrift 1978 S. 857, [860], NJW 1978, 857 [860]; Urteil des Finanzgerichts Hamburg vom 28. November 1978 VI 97/78, Entscheidungen der Finanzgerichte 1979 S. 192 - EFG 1979, 192 -; anderer Ansicht: Rößler, DStZ A 1978, 333, sowie Urteil des Finanzgerichts München vom 26. September 1978 II 93/78 E, EFG 1979, 96). Der Verlängerung steht - entgegen der Ansicht des Finanzgerichts - nicht entgegen, daß Art. 3 § 1 VGFG-EntlG für den Fall der Fristversäumung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zuläßt. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 56 FGO) findet vielmehr auch gegen die Versäumung der gesetzlichen Revisionsbegründungsfrist statt, obwohl diese Frist verlängert werden kann (§ 120 Abs. 1 Satz 2 FGO). § 233 ZPO läßt die Wiedereinsetzung ausdrücklich auch bei Versäumung gesetzlicher Fristen, die verlängert werden können (§ 519 Abs. 2 Satz 3, § 554 Abs. 2 Satz 2 ZPO), zu. Der Richter, der die Ausschlußfrist gesetzt hatte, hat demnach zu Unrecht dem Antrag des Steuerbevollmächtigten X auf Verlängerung der ihm zur Vorlage der Vollmacht gesetzten Frist nicht entsprochen. Die angefochtenen Urteile beruhen auf diesem Verstoß.
4. Die klageabweisenden Prozeßurteile können keinen Bestand haben, da die fehlerhafte Fristsetzung und Verweigerung der zulässigen und gebotenen Fristverlängerung zur Versagung des rechtlichen Gehörs geführt haben (Art. 103 Abs. 1 GG). Weil eine mit dem Grundsatz rechtlichen Gehörs vereinbarte und insofern zulässige Fristsetzung nicht vorliegt, bedarf der Kläger keiner Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Da die Vollmacht für den früheren Prozeßbevollmächtigten am 18. September 1978 nachgereicht wurde, kann das Finanzgericht die Handlungsfähigkeit des damaligen Bevollmächtigten und die Zulässigkeit der von ihm für den Kläger eingereichten Klagen nicht mehr unter dem Gesichtspunkt des zeitweiligen Mangels der Vollmacht in Zweifel ziehen. Die Sachen waren daher unter Aufhebung der angefochtenen Urteile zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Finanzgericht zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
Fundstellen
Haufe-Index 73535 |
BStBl II 1980, 457 |
BFHE 1980, 240 |