Entscheidungsstichwort (Thema)
Anforderungen an die Begründung eines Wiedereinsetzungsantrags
Leitsatz (NV)
- Alle für die begehrte Wiedereinsetzung wesentlichen Umstände müssen bis zum Ablauf der Zweiwochenfrist des § 56 Abs. 2 FGO vorgetragen sein. Späteres Vorbringen kann allenfalls als Erläuterung beachtlich sein.
- Nach Ablauf der Zweiwochenfrist beschränken sich die Sachaufklärungspflicht ebenso wie die Beweiswürdigung auf das fristgerecht unterbreitete Tatsachenmaterial.
- Die Wiedereinsetzungsentscheidung basiert, abweichend von der Regel des § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO nicht auf Überzeugungsbildung, sondern auf einem mit Hilfe präsenter Beweismittel getroffenen Wahrscheinlichkeitsurteil.
- Zu den Anforderungen an den Vortrag zur Fristenüberwachung in einer Anwaltskanzlei.
Normenkette
FGO § 56
Verfahrensgang
FG des Saarlandes (EFG 1999, 1194) |
Tatbestand
I. Die Einspruchsentscheidung vom 3. Februar 1999, durch die der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ―FA―) im Streit um die Rechtmäßigkeit der in den angefochtenen Bescheiden vorgenommenen Hinzuschätzungen die Einsprüche der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) als unbegründet zurückwies, wurde den Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 9. Februar 1999 mit Postzustellungsurkunde zugestellt.
Nachdem die von den Prozessbevollmächtigten verfasste Klageschrift vom 8. März 1999 in einem Umschlag, der den "Freistempler"-Aufdruck der Kanzlei der Prozessbevollmächtigten vom gleichen Tag trägt, am 15. März 1999 beim Finanzgericht (FG) eingegangen war, übersandte die Geschäftsstelle des FG am 16. März 1999 mit einfacher Post Eingangsmitteilungen mit der Datumsangabe "15.3.99" an die Beteiligten und außerdem, auf telefonische Anforderung der Prozessbevollmächtigten, an diese am 5. Mai 1999 eine Fax-Bestätigung. Zuvor, mit Schriftsatz vom 19. April 1999, der am 22. April 1999 beim FG eingegangen und am 26. April 1999, einem Montag, an die Prozessbevollmächtigten zur Stellungnahme übersandt worden war, hatte das FA unter Beifügung einer Ablichtung der Einspruchsentscheidung und der Postzustellungsurkunde auf die Fristversäumnis hingewiesen und Klageabweisung durch Prozessurteil beantragt.
Mit Schriftsatz vom 12. Mai 1999, der am gleichen Tag beim FG eingegangen ist, beantragten die Prozessbevollmächtigten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand mit der Begründung, die Fristversäumnis sei nicht auf ihr Verschulden, sondern auf die übermäßig lange Postlaufzeit vom 8. bis 15. März 1999 zurückzuführen. Der Postausgang sei im Postausgangsbuch mit dem erforderlichen Frankierbetrag vermerkt und durch den anschließenden Vergleich mit der täglichen Anzeige des jeweiligen Porto-Gesamtbetrages bestätigt worden. Schließlich sei auch am 8. März 1999 die gesamte ausgehende Post von einer Kanzleimitarbeiterin zur Poststelle gebracht und dort vor 17 Uhr abgeliefert worden. Die normale Postlaufzeit von X, dem Sitz der Kanzlei, nach Y, dem Sitz des FG, betrage einen Tag. Wegen der Einzelheiten der Begründung des Wiedereinsetzungsantrags wird auf den Schriftsatz vom 12. Mai 1999 sowie auf die zugleich mit ihm eingereichten eidesstattlichen Versicherungen des mit der Sache befassten Rechtsanwalts und der für den Postausgang zuständigen Kanzleimitarbeiterinnen und wegen der Einzelheiten im Übrigen auf das in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1999, 1194 veröffentlichte Urteil der Vorinstanz Bezug genommen.
Positive Kenntnis von der Säumnis habe, so trägt die Klägerin vor, der von ihr bevollmächtigte Rechtsanwalt erst "am 30.4.1999/05.05.1999" erlangt, und zwar "durch die Zustellung am 30.04.1999, die den Schriftsatz des Beklagten vom 19.04.1999 enthielt". Ihr Rechtsanwalt habe daraufhin mit dem zuständigen Sachbearbeiter, Herrn S, Rücksprache gehalten und sich "umgehend an das Finanzgericht am 05.05.1999" gewandt. In der eidesstattlichen Versicherung des Rechtsanwalts heißt es hierzu:
"Am 30.04.1999 wurde ich von Herrn S auf den Fall noch einmal aufmerksam gemacht. Er hat sich anläßlich des Schreibens vom 23.04.1999 an mich gewendet. Ich habe mich dann um eine Klärung der Angelegenheit bemüht. Am 05.05.1999 wurde mir dann nach einem Telefonat von dem Finanzgericht der verspätete Eingang per Telefax mitgeteilt."
Nach entsprechender richterlicher Aufforderung vom 25. Mai 1999 legten die Prozessbevollmächtigten am 8. Juni 1999 beim FG das Original des Postausgangsbuchs vor: mit PC geschriebene, in einem DIN A 4 Ordner zusammengefasste Einzelblätter. Darin findet sich als letzter Eintrag zum 8. März 1999 vermerkt:
"Finanzgericht des Saarlandes C/FA Klage 3,00"
Nach den hierzu zu Protokoll gegebenen Erläuterungen einer Kanzleimitarbeiterin wird die Ausgangspost täglich erfasst und einmal wöchentlich ausgedruckt; die Datei hiernach jeweils im PC gelöscht.
Die Deutsche Post AG hat auf Anfrage des FG mitgeteilt, ein am 8. März 1999 vor 17 Uhr in X aufgegebener Brief hätte am 9. März 1999 bei den Justizbehörden in Y eingehen müssen. Über Unregelmäßigkeiten im Briefverkehr im hier interessierenden Zeitraum sei dort nichts bekannt.
Das FG hat die begehrte Wiedereinsetzung nicht gewährt und die Klage mit der Begründung als unzulässig abgewiesen, die Klägerin habe nicht in hinreichender Weise glaubhaft gemacht, dass die Verspätung auf Unregelmäßigkeiten bei der Postbeförderung zurückzuführen sei. Zum einen könne bei der Verwendung von "Freistemplern" aus dem aufgedruckten Datum nicht mit hinreichender Sicherheit auf das Datum der Absendung geschlossen werden. Zum anderen sei auch das Postausgangsbuch hier zu der erforderlichen Glaubhaftmachung ungeeignet, weil es im konkreten Fall keine hinreichende Sicherheit vor nachträglichen Korrekturen gegeben habe. Unzureichend seien insoweit auch die vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Veröffentlichung in EFG 1999, 1194 verwiesen.
Mit der Revision wiederholt die Klägerin im Wesentlichen ihr Vorbringen zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags. Sie ist der Meinung, dieses sei vom FG nicht richtig gewürdigt worden. Außerdem habe das FG, soweit es das Klagevorbringen für unzureichend gehalten habe, rechtzeitig auf diesen Umstand hinweisen und weitere eidesstattliche Versicherungen anfordern müssen, vor allem von Herrn S, der hierzu zum Zeitpunkt der Antragsbegründung krankheitshalber nicht in der Lage gewesen sei. Überhaupt hätte das FG den entscheidungserheblichen Sachverhalt von Amts wegen weiter aufklären müssen.
In der zur Revisionsbegründung nachgereichten eidesstattlichen Versicherung des Kanzleiangestellten S vom 12. November 1999 heißt es zur Wiedereinsetzung, er sei hierzu "im Vorfeld nur kurz befragt" worden, eine genauere Absprache sei indessen nicht möglich gewesen, weil er sich vom 10. bis 15. Mai 1999 stationär im Krankenhaus aufgehalten habe und dann noch bis zum 21. Mai 1999 krank geschrieben gewesen sei.
Die Klägerin beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Es ist unter Berufung auf das angefochtene Urteil weiterhin der Meinung, Wiedereinsetzung sei zu Recht nicht gewährt worden, zumal die Klägerin auch die Zweiwochenfrist des § 56 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) nicht eingehalten habe.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist unbegründet. Die Klage ist, was auch die Klägerin nicht in Zweifel zieht, verspätet erhoben worden (§ 47 Abs. 1 Satz 1 FGO). Im Ergebnis zu Recht hat das FG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gewährt.
1. Nach § 56 Abs. 1 und Abs. 2 FGO ist demjenigen, der ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten, auf Antrag Wiedereinsetzung zu gewähren; der Antrag ist binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu begründen. Das erfordert eine substantiierte, in sich schlüssige Darstellung aller entscheidungserheblichen Umstände innerhalb dieser Zweiwochenfrist (ständige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs ―BFH―; s. z.B. die Entscheidungen vom 19. Januar 1993 X R 82/92, BFH/NV 1993, 611; vom 25. Februar 1999 X R 102/98, BFH/NV 1999, 1221; vom 23. Januar 2001 VI B 62/99, BFH/NV 2001, 928, 929; Gräber, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., 1997, § 56 Rz. 48 ff., jeweils m.w.N.). Nach Ablauf dieser Frist können wesentliche Lücken in der Darstellung nicht mehr geschlossen, Widersprüche nicht mehr beseitigt, nachträglich vielmehr allenfalls Erläuterungen gegeben werden (s. Senatsbeschlüsse in BFH/NV 1993, 611, und vom 20. Juni 1996 X R 95/93, BFH/NV 1997, 40, m.w.N.). Dieser Begründungspflicht sind die Prozessbevollmächtigten hier in mehrfacher Hinsicht nicht nachgekommen; dies muss sich die Klägerin gemäß § 155 FGO i.V.m. § 85 Abs. 2 der Zivilprozeßordnung (ZPO) zurechnen lassen (BFH-Beschlüsse vom 29. Oktober 1999 VI R 36/99, BFH/NV 2000, 470; vom 18. Februar 2000 I B 136/99, BFH/NV 2000, 1108; Gräber, a.a.O., § 56 Rz. 6).
2. Die unter Anwendung dieser Grundsätze getroffene Entscheidung des FG ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
a) Bei ihren Einwänden hiergegen übersieht die Klägerin, dass sich zum einen Sachaufklärungspflicht und Beweiswürdigung des FG infolge der besonderen Begründungspflicht notwendigerweise auf das bis zum Ablauf der Zweiwochenfrist vorgetragene Tatsachenmaterial beschränken und dass zum anderen die Entscheidungsfindung nicht wie im Regelfall nach § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO Überzeugung, sondern nur Glaubhaftmachung verlangt (§ 56 Abs. 2 Satz 2 FGO i.V.m. § 294 Abs. 2 ZPO). Letzteres setzt voraus, dass auf Grund präsenter Beweismittel eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für einen bestimmten Geschehensablauf spricht (s. z.B. BFH-Beschlüsse vom 23. November 1994 X B 23/94, BFH/NV 1995, 625; vom 3. Juli 2000 VI B 223/99, BFH/NV 2000, 1491; Gräber, a.a.O., § 56 Rz. 55, § 96 Rz. 20). Weitere Konsequenz einer solchen verfahrensrechtlichen Konstellation ist, dass verbleibende Zweifel zu Lasten desjenigen gehen, der Wiedereinsetzung begehrt (Gräber, a.a.O., § 56 Rz. 69), dieser also z.B. mit einem Antrag nach § 56 FGO schon dann erfolglos bleibt, wenn ein Verschulden nicht auszuschließen ist (BFH-Beschluss in BFH/NV 1997, 40, 41, unter 6.; Gräber, a.a.O., § 56 Rz. 69, jeweils m.w.N.). Dem entspricht es, dass bei fachkundiger Vertretung hinsichtlich der Möglichkeit des § 56 FGO keine richterliche Hinweispflicht besteht (BFH-Beschluss vom 19. Mai 2000 VIII B 13/00, BFH/NV 2000, 1358).
b) In Übereinstimmung hiermit ist das FG bei seiner rechtlichen Würdigung der Wiedereinsetzungsbegründung zu dem Ergebnis gelangt, die Klägerin habe nicht in hinreichender Weise glaubhaft gemacht, dass die Versäumung der Klagefrist unverschuldet war. Wenn in der Urteilsbegründung wiederholt auf unzureichende Sicherheitsgewähr verschiedener in der Kanzlei der Prozessbevollmächtigten auch im Streitfall praktizierter Organisationsmaßnahmen abgestellt wird, so ist darin ―entgegen der Revisionsbegründung― nicht etwa die (konkrete) Unterstellung von "Manipulationen" zu sehen, sondern das für die Auslegung derartiger Prozessvorschriften im Interesse der Gleichbehandlung aller Prozessbeteiligten unerlässliche Bemühen, die abstrakten Anforderungen an bestimmte Arbeitsabläufe so vollständig und präzise zu fassen, dass Fehlerquellen und Unsicherheitsfaktoren nach Möglichkeit ausgeschlossen sind.
aa) Das gilt vor allem hinsichtlich der Beurteilung des "Freistempler"-Aufdrucks: Das FG hat ihm im Anschluss an den BFH-Beschluss vom 28. Februar 1985 VIII R 261/84 (BFH/NV 1986, 30) zu Recht einen geringeren Beweiswert beigemessen als dem Poststempel; es hat ihn ausdrücklich nicht ―wie die Klägerin meint― für völlig unbeachtlich gehalten, sondern nur die in solchen Fällen erforderliche weitere Darlegung und Glaubhaftmachung vermisst.
bb) Auch die Ausführungen der Vorinstanz zur Aussagefähigkeit des in der Kanzlei der Prozessbevollmächtigten verwendeten Postausgangsbuchs begegnen keinen Bedenken: Die besonderen Vorkehrungen, die organisatorisch zu treffen sind, damit auch bei Einsatz von EDV ―in gleicher Weise wie im manuellen Verfahren― sichergestellt ist, dass sich im konkreten Einzelfall die einzelnen Schritte der Fristenüberwachung verlässlich darstellen und nachvollziehen lassen, sind weder aus der Begründung des Wiedereinsetzungsantrags noch aus den vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen zu ersehen. Vor allem fehlt jegliche Darlegung zur Führung eines Fristenkalenders oder einer vergleichbaren Einrichtung im Allgemeinen und im Streitfall, insbesondere zu der erforderlichen Abstimmung mit dem Postausgangsbuch (näher dazu: BFH-Entscheidungen vom 7. Dezember 1988 X R 80/87, BFHE 155, 275, BStBl II 1989, 266; vom 14. Oktober 1998 X R 87/97, BFH/NV 1999, 621; Gräber, a.a.O., § 56 Rz. 25 und 28; speziell zur Darlegungspflicht in diesem Zusammenhang: BFH-Beschluss in BFH/NV 1997, 40). Diese Mängel ließen sich nachträglich nicht heilen. Daher gab es auch insoweit für das FG keine Veranlassung zur weiteren Sachaufklärung.
3. Unter diesen Umständen kann dahingestellt bleiben, inwieweit nicht weitere, den Wegfall des Hindernisses und damit den Fristbeginn i.S. des § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO betreffende Lücken im klägerischen Vorbringen geeignet sind, das angefochtene Urteil im Ergebnis zu bestätigen.
Fundstellen
BFH/NV 2002, 358 |
HFR 2002, 428 |
AO-StB 2002, 73 |