Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Steuerrecht. Gemeinsames Mehrwertsteuersystem -Zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuern. Guter Glaube des Ausstellers der Rechnung. Gefährdung des Steueraufkommens. Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, die Möglichkeit einer Berichtigung zu Unrecht in Rechnung gestellter Steuer vorzusehen. Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 203
Beteiligte
Dyrektor Izby Skarbowej w B |
Verfahrensgang
Naczelny Sąd Administracyjny (Polen) (Beschluss vom 15.11.2019; ABl. EU 2020, Nr. C 191/6) |
Tenor
Art. 203 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem und die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Neutralität der Mehrwertsteuer sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die es einem im guten Glauben handelnden Steuerpflichtigen nicht erlaubt, nach Einleitung eines Steuerprüfverfahrens Rechnungen zu berichtigen, in denen zu Unrecht Mehrwertsteuer ausgewiesen wird, obwohl der Empfänger dieser Rechnungen einen Anspruch auf Erstattung dieser Steuer gehabt hätte, wenn die Umsätze, die Gegenstand dieser Rechnungen waren, ordnungsgemäß erklärt worden wären.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) mit Entscheidung vom 15. November 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Januar 2020, in dem Verfahren
UAB „P.”
gegen
Dyrektor Izby Skarbowej w B.
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, der Vizepräsidentin des Gerichtshofs R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) und des Richters M. Safjan,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der UAB „P.”, vertreten durch D. Kosacka, doradca podatkowy,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch N. Gossement und J. Szczodrowski als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 203 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der UAB „P.” (im Folgenden: P.) und dem Dyrektor Izby Skarbowej w B. (Direktor der Finanzkammer B., Polen) wegen der Zahlung von zu Unrecht in Rechnung gestellter Mehrwertsteuer.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 203 der Richtlinie 2006/112 bestimmt:
„Die Mehrwertsteuer wird von jeder Person geschuldet, die diese Steuer in einer Rechnung ausweist.”
Polnisches Recht
Rz. 4
Art. 108 Abs. 1 des Ustawa o podatku od towarów i uslug (Gesetz über die Steuer auf Gegenstände und Dienstleistungen) vom 11. März 2004 (Dz. U. 2004, Nr. 54, Pos. 535) in der auf den Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (Dz. U. 2016, Pos. 710) (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) bestimmt:
„Wenn eine juristische Person, eine Organisationseinheit ohne Rechtspersönlichkeit oder eine natürliche Person eine Rechnung ausstellt, in der sie den Steuerbetrag ausweist, ist sie verpflichtet, diesen abzuführen.”
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
Rz. 5
P. ist eine Gesellschaft mit Sitz in Litauen, die litauischen Transportunternehmen Tankkarten zur Verfügung stellte, die es diesen Unternehmen ermöglichten, sich bei bestimmten Tankstellen in Polen mit Kraftstoff zu versorgen.
Rz. 6
Da P. der Ansicht war, ihre Geschäftstätigkeit bestehe darin, Kraftstoff von polnischen Tankstellen zu erwerben, um ihn anschließend mittels Tankkarten an litauische Transportunternehmen weiterzuverkaufen, stellte sie Rechnungen über die Lieferung von Kraftstoff an diese Unternehmen aus, in denen sie einen Mehrwertsteuerbetrag auswies.
Rz. 7
Mit Bescheid vom 27. Juni 2014 stellte der Naczelnik Urzedu Skarbowego w Bialymstoku (Leiter des Finanzamts Bialystok, Polen) eine Mehrwertsteuerschuld von P. für den Zeitraum von März bis Dezember 2011, eine Überzahlung für den Zeitraum von März bis Juni 2011 sowie einen nach Art. 108 des Mehrwertsteuergesetzes zu entrichtenden Mehrwertsteuerbetrag fest. Außerdem war er der Ansicht, dass P. nicht zum Abzug der Vorsteuer aus den Rechnungen, die ihr von Tankstellenbetreibern für den Einkauf von Kraftstoff ausgestellt worden seien, berechtigt sei.
Rz. 8
P. legte gegen diesen Bescheid Einspruch beim Dyrektor Izby Skarbowej w B. (Direktor der Finanzkammer B., Polen) ein.
Rz. 9
Mit Bescheid vom 2. Oktober 2014 hob der Direktor der Finanzkammer B. die Entscheidung des Leiters des Finanzamts Bialystok vom 27. Juni 2014 mit der Begründung auf, dass dieser den Ort der Besteuerung de...