Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Verfassungswidrigkeit der Besteuerung von Nachtarbeitszuschlägen
Leitsatz (NV)
Es ist ernstlich zweifelhaft, ob § 3b Abs. 2 Nr. 4, 2. Alternative EStG, der die Steuerbefreiung für nichttarifliche Nachtarbeitszuschläge auf 15 v. H. des Grundlohns beschränkt, in den Jahren 1980 bis 1982 mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar war.
Normenkette
GG Art. 3 Abs. 1; EStG § 3b Abs. 2 Nr. 4, 2. Alternative
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Antragstellerin und Beschwerdeführerin (Antragstellerin), gewährte ihren Arbeitnehmern in den Streitjahren 1980 bis 1982 in Anlehnung an den für ihre Branche einschlägigen örtlichen Tarifvertrag Zuschläge für regelmäßige Nachtarbeit in Höhe von 25 und 30 v. H. des Grundlohnes, die sie steuerfrei beließ. Der Antragsgegner und Beschwerdegegner (das Finanzamt - FA -) forderte nach einer Lohnsteuer-Außenprüfung mit Nachforderungsbescheid vom 13. August 1982 u.a. Lohnsteuer für die gezahlten Nachtarbeitszuschläge nach, soweit diese 15 v. H. des Grundlohns überstiegen (vgl. § 3b Abs. 2 Nr. 4 des Einkommensteuergesetzes - EStG -).
Das FA gab dem Einspruch mit Änderungsbescheid vom 18. November 1982 im Streitpunkt teilweise statt. Hinsichtlich des Restes ist eine Einspruchsentscheidung noch nicht ergangen. Ein den geänderten Bescheid betreffender Aussetzungsantrag beim FA hatte keinen Erfolg.
Mit Schriftsatz vom 1. Dezember 1982 beantragte die Antragstellerin beim Finanzgericht (FG), die Vollziehung des Änderungsbescheids hinsichtlich der Nachtarbeitszuschläge auszusetzen (§ 69 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Zur Begründung trug sie vor, es bestünden ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes, da die Ungleichbehandlung gesetzlicher bzw. tariflicher Zuschläge gegenüber solchen, die auf anderen Rechtsgründen beruhten, gegen Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) verstoße. Deshalb müsse das FG das Verfahren aussetzen und gemäß Art. 100 Abs. 1 GG eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) einholen. Infolge der Entwicklung der Tariflöhne und der in § 3b Abs. 2 Nr. 4 EStG beibehaltenen Obergrenze von 15 v. H. in anderen Fällen sei eine eklatante Ungleichbehandlung eingetreten.
Das FA ist dem Aussetzungsbegehren entgegengetreten. Es trug vor, der Höchstsatz von 15 v. H. habe auch in den Streitjahren noch im Rahmen der zulässigen Bandbreite gelegen, die dem Gesetzgeber bei Schaffung der strittigen Vorschrift zugestanden habe.
Das FG lehnte die Aussetzung der Vollziehung ab. Zwar bestünden ernste verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Gültigkeit des § 3b Abs. 2 EStG. Diese kämen jedoch nicht zum Tragen, da im Verfahren zur Hauptsache eine Richtervorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG nicht zulässig sei. Denn bei einem Verfassungsverstoß durch Unterlassen des Gesetzgebers seien verschiedene Möglichkeiten der Beseitigung dieses Verstoßes gegeben und auch das BVerfG könne insoweit nicht in die Entschließungsfreiheit des Gesetzgebers eingreifen. Ob in derartigen Fällen vorläufiger Rechtsschutz nach § 114 FGO gewährt werden könne, müsse dahinstehen, da die Antragstellerin ausdrücklich den Weg der Aussetzung der Vollziehung nach § 69 FGO gewählt habe.
Mit der vom FG zugelassenen Beschwerde verfolgt die Antragstellerin ihr Aussetzungsbegehren unter Verweisung auf ihr bisheriges Vorbringen sowie ein vorgelegtes umfangreiches Rechtsgutachten weiter. In dem Gutachten wird ausgeführt, daß § 3b Abs. 2 EStG bereits in den Jahren 1975 bis 1977 verfassungswidrig gewesen sei. Nach Ansicht der Antragstellerin gelte Gleiches in verstärktem Maße für die Streitjahre 1980 bis 1982.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Pauschalierungsänderungsbescheides in beantragter Höhe.
1. Nach § 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 FGO hat das Gericht der Hauptsache auf Antrag die Vollziehung ganz oder teilweise auszusetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen. Ernstliche Zweifel in diesem Sinne sind u.a. anzunehmen, wenn eine summarische Prüfung ergibt, daß neben für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfragen auslösen; dabei braucht der Erfolg nicht wahrscheinlicher zu sein als der Mißerfolg (Beschluß des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 18. Mai 1984 VI B 156/83, BFHE 141, 145, BStBl II 1984, 567 m.w.N.).
Diese Grundsätze sind auch dann anzuwenden, wenn die Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes mit verfassungsrechtlichen Bedenken gegen eine dem Bescheid zugrunde liegende Norm begründet werden. In diesem Falle sind keine strengeren Anforderungen zu stellen als im Falle des Geltendmachens fehlerhafter Rechtsanwendung. Bei Annahme ernstlicher Zweifel braucht das Gericht das Verfahren zur Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nicht gemäß Art. 100 Abs. 1 GG auszusetzen, da es keine Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der betreffenden Norm trifft, sondern lediglich im Rahmen der Rechtmäßigkeitsprüfung verfassungsrechtlicher Bedenken zum Ausdruck bringt (BFH-Beschluß vom 10. Februar 1984 III B 40/83, BFHE 140, 396, BStBl II 1984, 454).
2. Eine überschlägige Überprüfung ergibt im Streitfall ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von § 3b Abs. 2 Nr. 4 2. Alternative EStG.
Das BVerfG hat es mit Art. 3 Abs. 1 GG für nicht vereinbar erklärt, daß § 34a EStG i.d.F. vor 1971 die Steuerfreiheit u.a. von Nachtarbeitszuschlägen davon abhängig gemacht hat, auf welcher Rechtsgrundlage sie beruhen (Beschluß vom 15. Januar 1969 1 BvR 723/65, BVerfGE 25, 101, BStBl II 1969, 253). Es hat keinen vernünftigen, aus der Natur der Sache sich ergebenden oder sonstwie einleuchtenden Grund dafür finden können, auf einer Betriebsvereinbarung beruhende oder einzelvertraglich ohne entsprechenden Tarifvertrag vereinbarte Zuschläge gegenüber gesetzlichen oder tariflichen Zuschlägen schlechter zu behandeln. Insbesondere war es der Auffassung, der Gesichtspunkt der verfahrensmäßigen Praktikabilität rechtfertige die Ungleichbehandlung nicht, wenn sie für bestimmte Arbeitnehmer einen wesentlichen, von den Betroffenen nicht abwendbaren steuerlichen Nachteil mit sich bringe und nicht nur für eine ganz untergeordnete Zahl von Steuerpflichtigen von Bedeutung sei.
Aufgrund dieser Entscheidung hat der Gesetzgeber in § 34a EStG 1971 Zuschläge für regelmäßige Nachtarbeit bei Gewährung auf anderer als gesetzlicher oder tarifvertraglicher Grundlage bis zu 15 v. H. des Grundlohnes für steuerfrei erklärt, wenn der Arbeitslohn 24 000 DM im Kalenderjahr nicht übersteigt. Die eingeführten Höchstgrenzen haben sich im guten Schnitt der damals tarifvertraglich vereinbarten Zuschläge gehalten (BFH-Urteil vom 28. Juli 1975 VI R 162/66, BFHE 116, 369, BStBl II 1975, 820). Diese zunächst befristete Regelung (§ 52 Abs. 23 EStG 1971), die später (Art. 1 Nr. 5b des Steueränderungsgesetzes - StÄndG - 1973 vom 26. Juni 1973, BGBl I 1973, 676, BStBl I 1973, 545) Dauercharakter erhielt, ging - ohne betragsmäßige Begrenzung des Grundlohnes - in den in den Streitjahren maßgebenden § 3b Abs. 2 Nr. 4 EStG ein.
Es ist ernstlich zweifelhaft, ob der an die veränderten Verhältnisse nicht angepaßte Höchstbetrag des § 3b Abs. 2 Nr. 4, 2. Alternative EStG in den Streitjahren 1980 bis 1982 mit dem Gleichheitssatz zu vereinbaren ist, da die eingetretene Ungleichbehandlung betragsmäßig wesentlich erscheinen kann und eine nicht untergeordnete Zahl von Steuerpflichtigen betrifft. Zwischen den Beteiligten ist in tatsächlicher Hinsicht lediglich streitig, ob die Anzahl derjenigen Arbeitnehmer, deren Nachtarbeitszuschläge 15 v. H. des Grundlohnes überschritten haben, seit 1977 noch zugenommen hat. Ungeachtet dessen, daß im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes eine Ungewißheit auf tatsächlichem Gebiet eine Stattgabe des beantragten Begehrens nicht ausschließt, kann bei überschlägiger Prüfung bereits die bis 1977 eingetretene und auch in den Streitjahren fortwirkende Ungleichbehandlung einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG begründen. Nach den Feststellungen des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung (BMA) haben 1977 72 v. H. der Arbeitnehmer tarifvertragliche Zuschläge für regelmäßige Nachtarbeit erhalten, die über dem gesetzlichen Höchstbetrag für die Steuerbefreiung in anderen Fällen lag. Da bei gewährten durchschnittlichen Zuschlägen von 25 v. H. der gesetzliche Höchstbetrag des § 3b Abs. 2 Nr. 4, 2. Alternative EStG um 66,66 v. H. und bei Zuschlägen von 30 v. H. sogar um 100 v. H. überschritten wird, ist es ernstlich zweifelhaft, ob hier nicht ein wesentlicher steuerlicher Nachteil vorliegt, der nicht durch sachliche Erwägungen, insbesondere nicht solche der Verwaltungspraktikabilität, zu rechtfertigen ist (BVerfGE 25, 101, BStBl II 1969, 253). Wie auch das FA nicht in Zweifel zieht, tritt die Ungleichbehandlung nicht lediglich in äußerst seltenen und deshalb zu vernachlässigenden Fällen auf.
Einer Aussetzung der Vollziehung steht nicht entgegen, daß dem Gesetzgeber, der sich bei Neuregelung eines komplexen Sachverhaltes zunächst mit einer gröber typisierenden und generalisierenden Regelung begnügt, eine Übergangsfrist einzuräumen sein kann, innerhalb welcher er nach Sammlung entsprechender Erfahrungen eine Anpassung an sich ändernde Verhältnisse vorzunehmen hat (BVerfG-Beschluß vom 26. März 1980 1 BvR 121, 122/76, BVerfGE 54, 11, 37 m.w.N.). Der Finanzausschuß des Bundestages hat bereits bei Neufassung des § 34a EStG durch das StÄndG 1971 vom 23. Dezember 1970 (BGBl I 1970, 1856, BStBl I 1971, 8) ,,die zeitliche Bedingtheit der gefundenen Lösung" erkannt und war ,,sich darüber im klaren, daß eine Anpassung der Prozentsätze nach § 34a Abs. 2 erfolgen müßte, wenn die künftige Entwicklung bei den Tarifverträgen wesentlich geänderte Prozentsätze für die Zuschläge ergäbe" (BTDrucks VI/1477 S. 3). Eine zwischenzeitliche Überprüfung ist jedoch nicht erkennbar. Wie dargelegt, ergeben sich bereits anhand des für die Jahre bis 1977 vorliegenden Zahlenmaterials ernstliche Zweifel an der Verfassungskonformität des § 3b Abs. 2 Nr. 4, 2. Alternative EStG. Gründe, die ein weiteres Untätigbleiben auch in den Streitjahren und bis heute gleichwohl rechtfertigen könnten, sind nicht ersichtlich.
3. Eine Aussetzung der Vollziehung kann schließlich nicht mit der Begründung versagt werden, der Rechtsbehelf im Hauptverfahren könne keinen Erfolg haben, da dem Gericht in Fällen wie dem zu beurteilenden eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG versagt sei. Die Richtigkeit dieser Auffassung ist zumindest ernstlich zweifelhaft, was sich aus dem BFH-Beschluß vom 12. Mai 1978 III R 18/76 (BFHE 125, 188, 191, BStBl II 1978, 446) und dem BFH-Urteil vom 23. Januar 1981 VI R 214/77 (BFHE 132, 293, 298, BStBl II 1981, 316) ergibt.
Fundstellen
Haufe-Index 414092 |
BFH/NV 1986, 54 |