Entscheidungsstichwort (Thema)
Freistellung des Familienexistenzminimums; Tarifspreizung für Freiberufler?
Leitsatz (NV)
- Die Frage, ob die in den Jahren 1995 und 1996 geltenden Einkommensteuertarife den Anforderungen genügen, die das BVerfG zur steuerlichen Freistellung des Existenzminimums aufgestellt hat, hat keine grundsätzliche Bedeutung mehr.
- Die Frage, ob der Gesetzgeber durch das Gesetz zur Familienförderung die Vorgaben des BVerfG zutreffend umgesetzt hat, kann solange nicht geklärt werden, als das FA dieses Gesetz noch nicht in einem (Änderungs-)Bescheid angewendet hat.
- Die Behauptung, eine Norm sei verfassungswidrig, genügt allein noch nicht, um die grundsätzliche Bedeutung i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO ausreichend darzulegen.
- Der X. Senat des BFH hat in seinem Vorlagebeschluss vom 24. Februar 1999 X R 171/96, BFHE 188, 69, BStBl II 1999, 450 nicht den Rechtssatz aufgestellt, dass aus verfassungsrechtlichen Gründen auch Freiberufler in den Genuss der Tarifspreizung nach § 32c EStG kommen müssen.
- Die Frage, ob der Kinderfreibetrag bzw. das Kindergeld zur Deckung des Existenzminimums eines Kindes ausreicht, ist eine Tat- und keine Rechtsfrage.
- Hat das FG den Vortrag eines Beteiligten missverstanden, so liegt jedenfalls dann keine Verletzung des rechtlichen Gehörs vor, wenn es trotz des Missverständnisses in einer Hilfsbegründung auf den Einwand des Beteiligten tatsächlich eingegangen ist.
Normenkette
FGO § 115 Abs. 2 Nrn. 1, 3, Abs. 3 S. 3; GG Art. 103 Abs. 1; EStG §§ 32, 32c, 32d
Gründe
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist teils unzulässig, teils unbegründet, so dass sie insgesamt als unbegründet zurückzuweisen ist.
1. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) hat keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufgeworfen. Überwiegend entspricht die Beschwerdebegründung auch nicht den von § 115 Abs. 3 Satz 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gestellten Anforderungen.
a) Die vom Kläger aufgeworfene Rechtsfrage, ob die in den Streitjahren 1995 und 1996 geltenden Einkommensteuertarife den Anforderungen genügen, die das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zur steuerlichen Freistellung des Familienexistenzminimums aufgestellt hat, hat keine grundsätzliche Bedeutung i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO. Das BVerfG hat entschieden, dass bei der Besteuerung einer Familie das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei bleiben müsse. Es hat ferner Rechtsgrundsätze aufgestellt, nach denen das steuerfrei zu belassende Familienexistenzminimum zu berechnen ist (BVerfG-Beschluss vom 10. November 1998 2 BvL 42/93, BStBl II 1999, 174). Insoweit besteht kein Klärungsbedarf mehr (zur Notwendigkeit des Klärungsbedarfs vgl. z.B. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., § 115 Rdnr. 9, m.w.N.). Auch der Kläger hat keine Gründe vorgetragen, die eine nochmalige Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) oder des BVerfG notwendig erscheinen lässt.
b) Die sich an den Vortrag des Klägers anschließende Frage, ob der Gesetzgeber im Gesetz zur Familienförderung vom 22. Dezember 1999 (BGBl I 1999, 2552, BStBl I 2000, 4) die Rechtsprechung des BVerfG für das Streitjahr 1995 zutreffend umgesetzt hat, kann im Streitfall nicht geklärt werden (vgl. zur Klärungsfähigkeit z.B. Gräber/Ruban, a.a.O., § 115 Rdnr. 10, m.w.N.). Nach den Feststellungen des Finanzgerichts (FG) sind die angefochtenen Einkommensteuerbescheide zwar hinsichtlich der Kinderfreibeträge vorläufig ergangen (§ 165 Abs. 1 der Abgabenordnung ―AO 1977―). Keiner der Beteiligten hat aber mitgeteilt, dass der Einkommensteuerbescheid für 1995 mittlerweile aufgrund des Gesetzes zur Familienförderung geändert wurde. Dementsprechend liegt auch keine Erklärung des Klägers nach § 68 FGO vor. Solange aber das Gesetz zur Familienförderung in einem angefochtenen Bescheid noch keinen Niederschlag gefunden hat, kann es auch nicht anhand der Vorgaben des BVerfG gerichtlich überprüft werden.
c) Soweit der Kläger geprüft wissen will, ob das Existenzminimum für Kinder durch § 32 des Einkommensteuergesetzes (EStG) i.d.F. des Jahressteuer-Ergänzungsgesetzes 1996 (JStErgG 1996) in ausreichendem Umfang steuerlich freigestellt wurde, ist seine Beschwerde nicht in zulässiger Form erhoben. Für eine ordnungsgemäße Beschwerdebegründung gemäß § 115 Abs. 3 Satz 3 FGO genügt es nicht, die Verfassungswidrigkeit einer gesetzlichen Regelung zu behaupten (vgl. z.B. Gräber/Ruban, a.a.O., § 115 Rdnr. 62, m.w.N.). Der Kläger hätte daher näher darauf eingehen müssen, aus welchen Gründen die ab 1996 erhöhten Freibeträge den verfassungsgerichtlichen Vorgaben nicht entsprechen könnten. Daran fehlt es.
d) Entsprechendes gilt für die vom Kläger aufgeworfene Rechtsfrage, ob § 32d EStG den Vorgaben des BVerfG entspricht. Auch insoweit hat der Kläger die Verfassungswidrigkeit der Norm nur behauptet. Er hätte auch insoweit näher darauf eingehen müssen, aus welchen Gründen § 32d EStG dem Beschluss des BVerfG vom 25. September 1992 2 BvL 5/91 u.a. (BVerfGE 87, 153, BStBl II 1993, 413) nicht entsprechen sollte und deshalb unter Berücksichtigung der Rechtsprechung der FG und der Meinungen in der Literatur Klärungsbedarf besteht. Im Streitjahr 1996 galt § 32d EStG ohnehin nicht mehr (§ 52 Abs. 1 EStG i.d.F. des Jahressteuergesetzes 1996 vom 11. Oktober 1995, BGBl I 1995, 1250, BStBl I 1995, 438; vgl. zu ausgelaufenem Recht auch Gräber/ Ruban, a.a.O., § 115 Rdnr. 12).
e) Unzulässig ist die Beschwerde auch, soweit der Kläger die Verfassungswidrigkeit der §§ 31 und 32c EStG behauptet (s.o.).
Insbesondere genügt im Streitfall der bloße Hinweis auf den Vorlagebeschluss des BFH vom 24. Februar 1999 X R 171/96 (BFHE 188, 69, BStBl II 1999, 450) nicht. Zwar hat der X. Senat in der bezeichneten Entscheidung verfassungsrechtliche Bedenken an der Tarifspreizung des § 32c EStG erhoben. Diese betreffen aber unmittelbar nur die Versagung der Tarifbegrenzung bei Beteiligungseinkünften nach § 32c Abs. 2 EStG und den (teilweisen) Ausschluss von der Tarifbegrenzung nach § 32c Abs. 4 und 5 EStG. Um vergleichbare verfassungsrechtliche Probleme geht es aber im Streitfall nicht, denn der Kläger möchte offenbar als nicht Gewerbesteuerpflichtiger in den Genuss der Tarifspreizung bzw. Tarifsenkung kommen (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 4. November 1999 IV R 40/99, BFHE 190, 408, BStBl II 2000, 186).
2. Die Revision kann auch nicht wegen Divergenz zugelassen werden.
a) Die Revision ist nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO nur zuzulassen, wenn das Urteil des FG von einer Entscheidung des BFH oder des BVerfG abweicht und auf dieser Abweichung beruht. Der erkennende Senat kann offen lassen, ob der von der Vorinstanz aufgestellte Rechtssatz, § 32c EStG sei unter Berücksichtigung der Gewerbesteuerpflicht für gewerbliche Gewinne mit der Verfassung vereinbar, den vom X. Senat des BFH für Beteiligungseinkünfte aufgestellten Rechtsgrundsätzen widerspricht (vgl. BFH-Beschluss in BFHE 188, 69, BStBl II 1999, 450, unter V. Nr. 1, VI.). Auf einer solchen Abweichung würde die vorinstanzliche Entscheidung nicht beruhen i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO.
Eine Abweichung ist nur dann erheblich, wenn zumindest die Möglichkeit besteht, dass das Urteil des FG bei Zugrundelegung der divergierenden Ansicht des BFH anders ausgefallen wäre. Dabei ist vom Rechtsstandpunkt des FG auszugehen (vgl. z.B. Gräber/ Ruban, a.a.O., § 115 Rdnrn. 21, 22). Das FG hätte im Streitfall aber, selbst wenn es die Verfassungswidrigkeit der Tarifspreizung bejaht hätte, nicht anders geurteilt. Dies ergibt sich aus der von ihm gegebenen Hilfsbegründung (vgl. S. 7 des Urteils), dass es selbst bei einer eventuellen Verfassungswidrigkeit des § 32c EStG bei der normalen tariflichen Belastung verbleiben müsse.
Dieser vom FG aufgestellte Rechtssatz weicht auch nicht von der Entscheidung des BFH in BFHE 188, 69, BStBl II 1999, 450 ab. Der X. Senat des BFH hat nämlich einen Rechtssatz, wonach auch Freiberufler und Landwirte in den Genuss der Tarifspreizung kommen müssen, nicht aufgestellt. Er hält im Gegenteil den Entlastungsmechanismus des § 32c EStG für nicht sachgerecht (unter VI. Nr. 2 a) und lehnt auch einen positiven investitions- und arbeitsmarktpolitischen Effekt der Tarifspreizung ab. Soweit der X. Senat des BFH darauf hinweist, dass auch Freiberufler und Landwirte Arbeitsplätze schaffen (vgl. unter VI. Nr. 4), sagt er nur, dass die Schaffung von Arbeitsplätzen kein sachlicher Grund für einen niedrigeren Einkommensteuersatz für gewerbesteuerpflichtige Betriebe ist.
b) Das FG ist auch mit seiner Auffassung, dass der in den Streitjahren 1995 und 1996 von Gesetzes wegen vorgesehene Kinderfreibetrag bzw. das Kindergeld zur Deckung des Existenzminimums der Kinder ausgereicht habe, nicht von der Entscheidung des BVerfG in BStBl II 1999, 174 abgewichen. Eine Abweichung setzt voraus, dass das FG in einer Rechtsfrage eine andere Auffassung vertreten hat als der BFH oder das BVerfG (vgl. Gräber/Ruban, a.a.O., § 115 Rdnr. 17, m.w.N.). Das FG ist jedoch im Streitfall, wie das BVerfG, davon ausgegangen, dass das Existenzminimum für Kinder steuerfrei zu belassen ist. Wenn es in tatsächlicher Hinsicht die in den Streitjahren geltenden Kinderfreibeträge und das Kindergeld als der Höhe nach ausreichend angesehen hat, liegt darin keine Divergenz i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO und zwar selbst dann nicht, wenn es die Ausführungen des BVerfG zum Bedarf eines Kindes nicht richtig angewendet haben sollte (vgl. Gräber/Ruban, a.a.O., § 115 Rdnr. 63, m.w.N).
3. Das FG hat auch nicht den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 FGO) verletzt.
a) Die Behauptung des Klägers, das FG sei auf seine Argumente zur unzureichenden steuerlichen Berücksichtigung des Familienexistenzminimums und einer von Verfassungs wegen gebotenen Erhöhung des Kinderfreibetrages um 6 000 DM nicht eingegangen, widerspricht den Tatsachen. Das FG hat sich unter Nr. 5 der Entscheidungsgründe mit diesem Anliegen des Klägers auseinandergesetzt. Insbesondere hat es auch darauf hingewiesen, dass insoweit die Bescheide noch nach § 165 Abs. 1 AO 1977 geändert werden können.
b) Zutreffend weist der Kläger allerdings darauf hin, dass das FG seinen Vortrag zur Verfassungswidrigkeit der Tarifspreizung missverstanden hat. Ein Missverständnis allein muss aber nicht zwangsläufig zur Verletzung des rechtlichen Gehörs führen. Dies ist nur der Fall, wenn bei der Urteilsfindung ―entscheidungserhebliche― rechtliche Gesichtspunkte aufgrund des Missverständnisses unberücksichtigt geblieben sind. Das ist hier aber nicht der Fall. Das FG hat nämlich (vgl. Nr. 6 des Urteils) die vom Kläger behauptete ―und von ihm missverstandene― Verfassungswidrigkeit des § 32c EStG in einer Hilfsbegründung unterstellt und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die Verfassungswidrigkeit der Tarifspreizung die Anwendung des normalen Einkommensteuertarifs im Streitfall nicht hindern würde. Damit hat es die Bedenken des Klägers trotz des Missverständnisses in seine Erwägungen miteinbezogen.
Im Übrigen ergeht die Entscheidung nach Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs ohne Begründung.
Fundstellen
Haufe-Index 426283 |
BFH/NV 2000, 1206 |