Leitsatz (amtlich)
Der Senat bleibt bei seiner Auffassung, daß die Versagung von an eine ordnungsmäßige Buchführung geknüpften Steuervergünstigungen im Falle eines Verlustes von Buchführungsunterlagen durch höhere Gewalt eine Unbilligkeit im Sinne des § 131 Abs. 1 AO darstellen kann.
Normenkette
AO § 131 Abs. 1 S. 1, § 160 Abs. 1 S. 1, § 162 Abs. 8; EStG §§ 5, 10d
Tatbestand
Die Sache befindet sich im II. Rechtsgang. Im I. Rechtsgang hatte der erkennende Senat das Urteil des FG durch - nicht veröffentlichte - Entscheidung vom 15. März 1972 I R 246/71 aus verfahrensrechtlichen Gründen aufgehoben und die Sache an das FG zurückverwiesen.
Der Betrieb der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), einer GmbH, die ...erzeugnisse herstellt und vertreibt, brannte infolge einer Brandstiftung im April 1968 ab. Deshalb konnte die Klägerin bei den Betriebsprüfungen, die in den Jahren 1969 und 1970 durchgeführt wurden, für die Zeit bis zur Brandstiftung keine Buchführungs- und sonstigen Unterlagen vorlegen. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (FA) berichtigte daraufhin den ursprünglichen, in vollem Umfang für vorläufig erklärten Körperschaftsteuerbescheid für 1967 und erließ für 1968 erstmals einen Körperschaftsteuerbescheid. Dabei legte es die von der Klägerin erklärten Gewinne zugrunde, erkannte jedoch die geltend gemachten Verlustabzüge (§ 6 Abs. 1 KStG, § 10d EStG) nicht an. Die Einsprüche der Klägerin hatten keinen Erfolg.
In seinem im II. Rechtsgang erlassenen Urteil wies das FG die Klage ab. Es führte aus: Voraussetzung für den Verlustabzug sei es, daß der Steuerpflichtige seinen Gewinn aufgrund ordnungsmäßiger Buchführung ermittelt habe. Er habe Aufzeichnungen, Bücher und Geschäftspapiere sowie Urkunden, die für die Festsetzung der Steuer von Bedeutung sind, innerhalb des Aufbewahrungszeitraums (§ 162 Abs. 8 AO) auf Verlangen zur Einsicht und Prüfung vorzulegen. Gingen die Unterlagen innerhalb dieses Zeitraums verloren, so werde dadurch die Buchführung ordnungswidrig, ohne daß es auf die Ursachen hierfür und darauf ankomme, ob den Steuerpflichtigen am Verlust der Unterlagen ein Verschulden treffe (Urteil des BFH vom 25. März 1966 VI 313/65, BFHE 86, 301, BStBl III 1966, 487). Werde die Anwendung einer Steuerbefreiungs- oder Steuerermäßigungsvorschrift erstrebt, so treffe den Kläger die Feststellungslast für die Tatsachen, die die Voraussetzung für die Anwendung dieser Norm bildeten (BFH-Urteil vom 5. November 1970 V R 71/67, BFHE 101, 156, BStBl II 1971, 220). Nach diesen Grundsätzen gehe es zu Lasten der Klägerin, wenn wegen der Vernichtung des Betriebs keine Möglichkeit mehr bestanden habe, die Buchführung auf ihre Ordnungsmäßigkeit zu überprüfen.
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin Verletzung förmlichen und sachlichen Rechts. Sie erblickt eine Verletzung des Verfahrensrechtes "durch das Finanzamt aber auch durch das Finanzgericht" darin, daß ihr im Schriftsatz vom 6. August 1970 beim FA gestellter Antrag, die aus der Nichtanerkennung der Verlustabzüge resultierende Körperschaftsteuer auf der Grundlage des § 131 AO zu erlassen, nicht ausdrücklich beschieden worden sei. Materiell habe das FG insbesondere Art. 3 Abs. 1 GG und § 131 AO verletzt. Da die Geschäftsunterlagen im Streitfall durch Brandstiftung von dritter Seite vernichtet worden seien, wäre es eine ungleichmäßige Besteuerung und eine unbillige Härte, wenn ihr die Steuervergünstigung des § 10d EStG versagt würde.
Die Klägerin beantragte zunächst, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Einspruchsentscheidung die Sache zur anderweitigen Entscheidung an das FG zurückzuverweisen. Während des im II. Rechtsgang schwebenden Revisionsverfahrens prüfte das FA die Voraussetzungen einer unbilligen Härte nach § 131 AO im Streitfall. Nach einer vom FA herbeigeführten Verfügung der OFD verneinte das FA die Voraussetzungen einer Billigkeitsmaßnahme. Wegen einer Vielzahl von Unwägbarkeiten sei es nicht gerechtfertigt, den beanspruchten Verlustabzug zuzubilligen. Es bestünden beträchtliche Zweifel, ob die Verluste tatsächlich in der ausgewiesenen Höhe entstanden seien. Das FA beantragte, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Mit Schriftsatz vom 3. Mai 1974 nahm die Klägerin hierzu Stellung und erweiterte ihren zunächst gestellten Revisionsantrag "auf die Überprüfung der für rechtsfehlerhaft gehaltenen Entscheidung über die Ablehnung der beantragten Billigkeitsmaßnahme mit dem Ziel, daß der beantragte Erlaß vom BFH ausgesprochen bzw. die Finanzverwaltung verpflichtet werde, den Erlaß auszusprechen".
Entscheidungsgründe
Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG.
1. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Erweiterung des Revisionsantrags im Schriftsatz der Klägerin vom 3. Mai 1974 eine nach § 123 FGO im Revisionsverfahren unzulässige Klageänderung darstellt. Die Aufhebung der Vorentscheidung und die Zurückverweisung der Sache an das FG ist bereits durch den ursprünglichen und im Schreiben der Klägerin vom 3. Mai 1974 weiterhin aufrechterhaltenen Revisionsantrag gedeckt.
2. Zu Recht ist das FG in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BFH davon ausgegangen, daß für das Merkmal der ordnungsmäßigen Buchführung, wie es § 10d EStG für die Gewährung der Steuervergünstigung des Verlustabzugs voraussetzt, der objektive Zustand der Buchführung entscheidend und daß es dabei grundsätzlich unerheblich ist, ob den Steuerpflichtigen für das Fehlen oder die Mängel seiner Buchführung ein Verschulden trifft (BFH-Urteil vom 28. Juni 1972 I R 182/69, BFHE 106, 427, BStBl II 1972, 819). Das FG hat jedoch nicht beachtet, daß im Streitfall schon im Veranlagungsverfahren hätte geprüft werden müssen, ob die Vernichtung der Buchführungsunterlagen durch Brand Veranlassung zu einer Billigkeitsmaßnahme nach § 131 Abs. 1 Satz 2 AO geben könnte (BFH-Urteile vom 6. Mai 1971 IV R 59/69, BFHE 102, 493, BStBl II 1971, 664; I R 182/69).
Der Streitfall unterscheidet sich von dem mit Urteil des VIII. Senats des BFH vom 25. Juli 1972 VIII R 59/68 (BFHE 106, 486, BStBl II 1972, 918) entschiedenen Fall dadurch, daß hier der Verlust der Buchführungsunterlagen auf höherer Gewalt beruht, nicht dagegen auf einem Ereignis, das zwar unverschuldet ist, das sich der Steuerpflichtige indes zurechnen lassen muß. Den Entscheidungsgründen des BFH-Urteils VIII R 59/68 kann nicht der allgemeine Grundsatz entnommen werden, daß auch der Verlust von Buchungsunterlagen durch Ereignisse höherer Gewalt keinen Billigkeitserlaß nach § 131 Abs. 1 AO rechtfertige. Der VIII. Senat des BFH hat auf Anfrage keine Bedenken gegen diese Rechtsauffassung erhoben.
3. Da es mithin noch tatsächlicher Feststellungen über die vom FG nach § 102 FGO zu treffende Ermessensentscheidung bedarf, die das Revisionsgericht von sich aus nicht vornehmen darf (§ 118 Abs. 2 FGO), muß das FG als Tatsacheninstanz erneut mit der Sache befaßt werden. Der Senat sieht bei dem im Streitfall vorliegenden Sachverhalt - anders als in seiner Entscheidung I R 182/69 - im gegenwärtigen Verfahrensstadium keinen Grund, auch die Einspruchsentscheidung des FA aufzuheben. Da das FA inzwischen die Voraussetzungen für eine Billigkeitsmaßnahme nach § 131 Abs. 1 AO im einzelnen geprüft und verneint hat, wird das FG die nachgeschobene Begründung des FA bei seiner erneuten Entscheidung im Rahmen des § 102 FGO berücksichtigen.
Fundstellen
Haufe-Index 71041 |
BStBl II 1974, 728 |
BFHE 1975, 120 |