Leitsatz (amtlich)
1. Ist vom Arbeitslohn eines Arbeitnehmers aufgrund der Kirchensteuerordnung der Evangelisch-lutherischen Kirche im Hamburgischen Staate Lohnkirchensteuer der Ehefrau einbehalten worden, so ist für den Erstattungsanspruch der Finanzrechtsweg auch gegeben, wenn der Arbeitnehmer einer kirchensteuererhebungsberechtigten Religionsgemeinschaft nicht angehört. Dann unterliegen im Revisionsverfahren auch die Vorschriften der Kirchensteuerordnung der Nachprüfung.
2. Eine Entscheidung des BVerfG ist kein anspruchsbegründendes Ereignis im Sinne der Rechtsprechung des BFH zu § 152 Abs. 3 AO.
Normenkette
Hamburgisches AGFGO vom 17. Dezember 1965 § 5; Hamburgisches Abgabengesetz vom 13. April 1962 § 1 Abs. 1 Nr. 5; BVerfGG § 79 Abs. 2 S. 1; FGO § 33 Abs. 1 Nr. 4, § 118 Abs. 1; AO § 152 Abs. 2 Nr. 1
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte ist verheiratet und Beamter der Freien und Hansestadt Hamburg. Er ist nicht Mitglied einer steuererhebungsberechtigten Religionsgemeinschaft. Seine Ehefrau gehört der Evangelischlutherischen Kirche im Hamburgischen Staate an. Vom Kläger wurde im Steuerabzugsverfahren für die Jahre 1957 bis 1963 Kirchensteuer mit der Hälfte des Betrages erhoben, der zu zahlen gewesen wäre, wenn beide Ehegatten Mitglieder einer erhebungsberechtigten Religionsgemeinschaft gewesen wären. Mit Schreiben vom 19. Januar 1965 beantragte der Kläger beim FA Erstattung der einbehaltenen Lohnkirchensteuer. Das FA lehnte dies jedoch ab mit der Begründung, daß die in § 152 Abs. 3 AO gesetzte Antragsfrist nicht gewahrt worden sei. Auch der Einspruch blieb ohne Erfolg.
Das FG gab der Klage statt.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Nach der Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache hatte der Senat nur noch nach billigem Ermessen über die Kosten zu entscheiden; dabei war der bisherige Rechts- und Streitstand zu berücksichtigen (vgl. § 138 Abs. 1 FGO).
Die Kosten des gesamten Verfahrens waren dem Kläger aufzuerlegen, weil die Revision des FA zulässig und begründet war und zur Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils sowie zur Abweisung der Klage geführt haben würde.
1. Der Evangelisch-lutherischen Kirche in Hamburg steht das Besteuerungsrecht kraft Gewohnheitsrechts zu (BVerfG-Urteil 1 BvR 571/60 vom 14. Dezember 1965, BStBl I 1966, 201). Bei dem Kläger ist die Kirchensteuer seiner Ehefrau im Wege des Lohnkirchensteuerabzugs erhoben worden (§§ 7, 8, 10 der Kirchensteuerordnung der Evangelisch-lutherischen Kirche im Hamburgischen Staate vom 18. März 1947 in den Fassungen vom 12. März 1959 - BStBl II 1959, 97 - und vom 3. Dezember 1962 - BStBl II 1963, 36 -). Nach § 13 der Kirchensteuerordnung finden, soweit in der Kirchensteuerordnung nichts anderes gesagt ist, die für die Einkommensteuer jeweilig geltenden Vorschriften sowie die Bestimmungen der AO und des StAnpG entsprechende Anwendung. Ein Erstattungsanspruch wegen zu Unrecht entrichteter Kirchensteuer, wie ihn der Kläger verfolgt, ist in der Kirchensteuerordnung nicht geregelt; deshalb ist die Vorschrift des § 152 Abs. 2 Nr. 1 AO entsprechend anwendbar.
Der Finanzrechtsweg ist durch § 5 des Gesetzes zur Ausführung der Finanzgerichtsordnung vom 17. Dezember 1965 (HGVBl I 1965, 225) in Verbindung mit § 33 Abs. 1 Nr. 4 FGO eröffnet.
Der Anwendung der Kirchensteuerordnung, die zur Eröffnung des Finanzrechtswegs führt, steht nicht entgegen, daß der Kläger einer kirchensteuererhebungsberechtigten Religionsgemeinschaft nicht angehört. Nachdem er aufgrund der Kirchensteuerordnung einer solchen Religionsgemeinschaft in Anspruch genommen worden ist, muß auch die Frage, ob diese Inanspruchnahme rechtmäßig war und ob oder gegebenenfalls in welcher Form sie rückgängig gemacht werden kann, in dem in dieser Kirchensteuerordnung vorgesehenen Verfahren (einschließlich des Rechtswegs) überprüft werden.
2. Die nach Zulassung durch das FG zulässige Revision konnte außer auf Verletzung von Bundesrecht (§ 118 Abs. 1 Satz 1 FGO) auch darauf gestützt werden, daß das Urteil des FG die dem Landesrecht zuzurechnenden Vorschriften der Kirchensteuerordnung verletze. Nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 des Hamburgischen Gesetzes über die Anwendung der Reichsabgabenordnung und anderer Abgabengesetze vom 13. April 1962 (HGVBl I 1962, 105) in der Fassung des Gesetzes vom 17. Dezember 1965 (a. a. O.) findet auf Steuern, die der Landesgesetzgebung unterliegen und die von Landesfinanzbehörden verwaltet werden, die FGO Anwendung. Die uneingeschränkte Anwendung der FGO auf die nach §§ 8 Abs. 1, 13 der Kirchensteuerordnung von den FÄ verwaltete Lohnkirchensteuer kann nur in dem Sinne gedeutet werden, daß dem BFH als Revisionsgericht die Entscheidung in Sachen zugewiesen wird, bei denen es sich um die Anwendung der Kirchensteuerordnung als Landesrecht handelt (ebenso BFH-Beschluß II B 2/68 vom 24. Juni 1969, BFH 96, 155, BStBl II 1969, 663). Zu einer derartigen Maßnahme war die Freie und Hansestadt Hamburg schon aufgrund des Art. 99 GG befugt. Es kann deshalb dahingestellt bleiben, ob die Möglichkeit, die Revision auf die Verletzung von Landesrecht zu stützen, auch aus § 118 Abs. 1 Satz 2 FGO (in Verbindung mit § 5 des Hamburgischen Gesetzes vom 17. Dezember 1965, a. a. O., oder § 1 Abs. 1 Nr. 5 des Hamburgischen Abgabengesetzes, a. a. O.) hergeleitet werden kann.
3. Zutreffend ist das FG davon ausgegangen, daß nach § 152 Abs. 2 Nr. 1 AO ein gezahlter Steuerbetrag zu erstatten ist, wenn die Steuer für Rechnung des Steuerpflichtigen ohne seine Mitwirkung zu Unrecht entrichtet worden ist, sofern der Anspruch auf Erstattung noch nicht aufgrund des § 152 Abs. 3 AO erloschen ist. Der Senat kann es dahingestellt lassen, ob es sich bei den streitigen Lohnkirchensteuern im Sinne des § 152 Abs. 2 Nr. 1 AO um "zu Unrecht" einbehaltene Steuern handelt; denn jedenfalls können Erstattungsansprüche nach § 152 Abs. 3 AO nicht mehr geltend gemacht werden. Nach dieser Vorschrift erlischt der Anspruch auf Erstattung, falls nichts anderes bestimmt ist, wenn er nicht bis zum Ablauf des Kalenderjahres, das auf die Entrichtung folgt, geltend gemacht wird. Eine von dieser Vorschrift abweichende Regelung ist nicht vorhanden. Zur Auslegung des § 152 Abs. 3 AO hält der Senat an den Grundsätzen fest, wie sie zuletzt in der Entscheidung des Senats VI R 97/68 vom 19. Februar 1971 (BFH 101, 527, BStBl II 1971, 428) dargestellt sind. Danach beginnt der Lauf der Ausschlußfrist erst, wenn der Erstattungsberechtigte die anspruchsbegründenden Ereignisse erkennen konnte oder mußte; denn erst von diesem Zeitpunkt an ist er in der Lage, die Tragweite dieser Ereignisse zu beurteilen. Diese vom Wortlaut des Gesetzes abweichende Auslegung zugunsten eines Erstattungsberechtigten erscheint zulässig und geboten, weil nur dadurch ein unsinniges Ergebnis bei den ohne Mitwirkung des Steuerpflichtigen für seine Rechnung erhobenen Steuern vermieden werden kann, wenn ein Erstattungsberechtigter ohne eigenes Verschulden erst spät Kenntnis von den anspruchsbegründenden Ereignissen erlangt hat und darum den Erstattungsanspruch nicht früher geltend machen konnte. Entscheidend ist jedoch nur die Kenntnis der tatsächlichen, den Anspruch begründenden Ereignisse, nicht aber die Kenntnis der Rechtslage oder deren zutreffende Beurteilung. Deshalb kann eine Entscheidung des BFH in einer anderen Sache, durch die eine Rechtsfrage geklärt wird, nicht als anspruchsbegründendes Ereignis in diesem Sinne angesehen werden (Urteil VI R 97/68, a. a. O.). Anders ist es indessen zu beurteilen, wenn durch ein rückwirkend in Kraft tretendes Gesetz bisher steuerpflichtige Bezüge rückwirkend von der Besteuerung freigestellt werden. Hier gehört die Inkraftsetzung des Gesetzes zu den anspruchsbegründenden Ereignissen. So war etwa im Falle des Urteils VI R 27/66 vom 12. April 1967 (BFH 88, 402, BStBl III 1967, 434) ein Doppelbesteuerungsabkommen, welches den Steuerpflichtigen von der Lohnbesteuerung im Inland freistellte, für mehrere Jahre rückwirkend in Kraft getreten. Der Senat erkannte an, daß die Tatsache der Inkraftsetzung des Doppelbesteuerungsabkommens zu den einen Erstattungsanspruch begründenden Ereignissen gehört, da die Abführung der Lohnsteuer erst von diesem Zeitpunkt an unrechtmäßig geworden sei.
Mit den Fragen, die sich im Zusammenhang mit einer vom BVerfG wie im Streitfall für nicht anwendbar erklärten Vorschrift ergeben, hatte der Senat sich noch nicht zu befassen. Er ist der Auffassung, daß eine solche Entscheidung des BVerfG nicht als eine anspruchsbegründende Tatsache, die die Frist des § 152 Abs. 3 AO in Gang setzt, sondern als Klärung einer Rechtsfrage, die auf den Lauf der Frist keinen Einfluß hat, anzusehen ist. Die Entscheidung kann insbesondere nicht mit dem Inkrafttreten eines rückwirkend anwendbaren Gesetzes verglichen werden. Denn durch ein solches Gesetz wird die Rechtslage rückwirkend verändert; die Entscheidung des BVerfG dagegen stellt lediglich einen gegebenen Rechtszustand verbindlich fest. Es kommt hinzu, daß der einzelne Steuerpflichtige auf die Verabschiedung eines Gesetzes keinen unmittelbaren Einfluß hat, während er das BVerfG - nach Erschöpfung des Rechtswegs - selbst unmittelbar anrufen kann (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG in Verbindung mit §§ 13 Nr. 8 a, 90 BVerfGG). Wer aber von der Möglichkeit, den Rechtsweg zu beschreiten, keinen Gebrauch macht und sich dadurch auch nicht die Möglichkeit der Anrufung des BVerfG eröffnet, muß an diese seine eigene Entscheidung gebunden bleiben. Es wäre mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit, denen durch die Fristenregelung in § 152 Abs. 3 AO Rechnung getragen werden soll, unvereinbar, wenn ein solcher Steuerpflichtiger aufgrund der von einem anderen Steuerpflichtigen herbeigeführten Entscheidung des BVerfG erneut die Möglichkeit erlangen würde, einen Erstattungsantrag nach § 152 Abs. 2 Nr. 1 AO zu stellen.
Wendet man die dargelegten Grundsätze auf den Streitfall an, so ist davon auszugehen, daß anspruchsbegründende Ereignisse nur die Einbehaltungen der Lohnkirchensteuer der Ehefrau vom Arbeitslohn des Klägers waren. Der Kläger bestreitet nicht, daß er wußte, daß die Lohnkirchensteuer einbehalten wurde. Da die Entscheidung des BVerfG über die Unanwendbarkeit des § 3 der Kirchensteuerordnung bei Beurteilung des Fristbeginns außer Betracht bleiben muß, sind die Fristen für die Stellung von Erstattungsanträgen nach § 152 Abs. 3 AO durch die jeweiligen Lohnzahlungen bzw. Steuereinbehaltungen in Gang gesetzt worden. Die Fristen für Erstattungsanträge wegen der Lohnkirchensteuer 1963 waren deshalb mit dem Ende des Jahres 1964, also schon vor der Antragstellung am 19. Januar 1965, abgelaufen. Für die früheren Kalenderjahre waren die Fristen bereits entsprechend früher abgelaufen gewesen.
Hiernach waren die Kosten des gesamten Verfahrens dem Kläger aufzuerlegen (§ 138 Abs. 1 FGO).
Fundstellen
Haufe-Index 70287 |
BStBl II 1973, 170 |