Entscheidungsstichwort (Thema)
Verjährung des Anspruchs auf Änderung einer Steuerfestsetzung nach Vorschriften der Reichsabgabenordnung
Leitsatz (NV)
1. Die Ansprüche des Steuerpflichtigen auf Festsetzung einer negativen Steuerschuld für 1970 oder auf Änderung des Umsatzsteuerbescheids für 1970 unterliegen keiner Verjährung nach den Vorschriften der Reichsabgabenordnung.
2. Der Anspruch auf Änderung des Umsatzsteuerbescheids für 1970 kann aber durch Ablauf der in § 225 Satz 2 RAO geregelten Ausschlußfrist entfallen sein.
Normenkette
RAO § 225; AO 1977 § 164; EGAO 1977 Art. 97 § 9; EGAO 1977 § 10
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) beantragte mit Schreiben vom 21. März 1979 die Änderung der ,,nach § 100 Reichsabgabenordnung" vorläufigen Umsatzsteuerfestsetzungen für 1970 und 1971 vom 23. Februar 1972. Er begehrte die Berücksichtigung von Einfuhrumsatzsteuer als Vorsteuer. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) lehnte die Änderung durch Bescheid vom 18. Juli 1979 ab, weil die vorläufigen Umsatzsteuerfestsetzungen für 1970 und 1971 durch einen mit einfachem Brief am 11. November 1976 zur Post gegebenen Bescheid für endgültig erklärt worden und unanfechtbar geworden seien. Die nach erfolglosem Einspruchsverfahren dagegen gerichtete Klage hatte nur Erfolg, soweit sie sich gegen die Ablehnung richtete, die Umsatzsteuerfestsetzung für 1971 zu ändern. Das Finanzgericht (FG) führte aus, das FA habe nicht nachgewiesen, daß dem Kläger der Bescheid vom 11. November 1976 über die Endgültigerklärung der vorläufigen Umsatzsteuerfestsetzungen für 1970 und für 1971 zugegangen sei. Das FA sei aber nur verpflichtet, die demnach noch vorläufige Umsatzsteuerfestsetzung für 1971 zu ändern, weil insoweit noch keine Verjährung eingetreten sei. Dagegen sei die Klage unbegründet, soweit das FA auch zur Änderung der noch vorläufigen Steuerfestsetzung für 1970 verpflichtet werden solle, denn die Umsatzsteuer für dieses Jahr sei verjährt. Die fünfjährige Verjährungsfrist habe mit Ablauf des Jahres 1973, in dem die Steuererklärung abgegeben worden sei, begonnen und sei demnach vor Eingang des Änderungsantrags bei dem FA am 21. März 1979 mit dem 31. Dezember 1978 abgelaufen. Das FG ging auf die Ausführungen des FA nicht ein, daß der Kläger nur zum Teil Originalbelege vorgelegt habe und daß für 1970 daraus nur 39 576,20 DM Einfuhrumsatzsteuer - davon in Höhe von 8 078,58 DM ohne Zollbestätigung - hervorgehe.
Mit der Revision begehrt der Kläger die Aufhebung der Vorentscheidung, soweit sie die Verpflichtung des FA zur Änderung der Umsatzsteuer 1970 betrifft. Er begehrt die Aufhebung des Ablehnungsbescheids des FA vom 18. Juli 1979, der dazu ergangenen Einspruchsentscheidung vom 11. März 1981, die Verpflichtung des FA zur Änderung des Umsatzsteuerbescheids für 1970 und die Berücksichtigung weiterer Einfuhrumsatzsteuer als Vorsteuerbeträge in Höhe von 69 664,01 DM. Der Kläger rügt die Verletzung von Art. 97 § 9, 10 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung (EGAO 1977) sowie des § 144 der Reichsabgabenordnung (AO) und des § 164 Abs. 4 der Abgabenordnung (AO 1977).
Er meint, der Umsatzsteueranspruch für 1970 sei zwar mit Ablauf des 31. Dezember 1978 verjährt. Der Ablauf der Verjährungsfrist hindere eine Änderung der Umsatzsteuerfestsetzung für 1970 nach § 225 AO nicht. Das Gesetz schließe gemäß § 225 Satz 3 AO nach Eintritt der Verjährung nur eine Änderung zum Nachteil des Steuerpflichtigen, nicht aber eine Änderung zu seinen Gunsten aus. Mit Inkrafttreten der AO 1977 sei die Änderung eines gemäß § 100 Abs. 2 AO vorläufigen Steuerbescheids nach § 164 Abs. 2 und 3 AO 1977 durchzuführen. (Art. 97 § 9 Satz 3 EGAO 1977). Die Anwendung des § 164 Abs. 4 AO 1977, wonach nach Ablauf der Festsetzungsfrist der Vorbehalt der Nachprüfung entfalle, sei ebensowenig anwendbar wie § 169 AO 1977, wonach die Änderung einer Steuerfestsetzung nach Ablauf der Festsetzungsfrist nicht mehr zulässig sei. Sonach könne die Umsatzsteuerfestsetzung für 1970 nach § 164 Abs. 2 AO 1977 zwar nicht zum Nachteil, jedoch noch zu seinen, des Klägers, Gunsten geändert werden.
Das FA ist der Revision entgegengetreten.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung, soweit sie den Umsatzsteuerbescheid für 1970 betrifft, und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Das FG hat in zutreffender Anwendung der Vorschriften über die Verjährung (§§ 144 ff. AO, §§ 169 ff. AO 1977) entschieden, daß das FA den Antrag des Klägers vom 21. März 1979 auf Änderung des Umsatzsteuerbescheids für 1970 vom 23. Februar 1972 durch den angefochtenen Bescheid vom 18. Juli 1979 rechtmäßig abgelehnt hat.
1. Einer Verpflichtung des FA, den Umsatzsteuerbescheid des Klägers für 1970 nach § 164 Abs. 2 AO 1977 zu ändern, steht im Streitfall die Verjährung des Anspruchs auf Umsatzsteuer für 1970 nicht entgegen.
a) Der Umsatzsteuerbescheid für 1970 vom 23. Februar 1972 darf nach dem 31. Dezember 1976 nur nach den Vorschriften der AO 1977 geändert werden (Art. 97 § 9 Sätze 1 und 2 EGAO 1977). Als Grundlage für eine Verpflichtung des FA zur Änderung des bezeichneten Bescheids kommt § 164 Abs. 2 AO 1977 in Betracht. Diese Vorschrift ist gemäß Art. 97 § 9 Satz 3 EGAO 1977 auf Steuerbescheide nach § 100 Abs. 2 AO anzuwenden. Da das FA die Umsatzsteuer für 1970 gegen den Kläger mit Bescheid vom 23. Februar 1972 nach Erklärung festgesetzt hat und dieser Bescheid außer dem Hinweis ,,vorläufig nach § 100 AO" keine weiteren Angaben über Grund und Umfang der Vorläufigkeit enthält, ergibt die Auslegung des Inhalts dieser Nebenbestimmung, daß das FA die Umsatzsteuerfestsetzung gegen den Kläger für 1970 nach § 100 Abs. 2 AO - als der gegenüber § 100 Abs. 1 AO umfassenderen Vorschrift - für vorläufig erklärt hat.
b) Der bezeichnete Umsatzsteuerbescheid für 1970 war zwischenzeitlich auch nicht wirksam für endgültig erklärt worden. Zu dieser Feststellung ist das FG gelangt, weil nach seiner Auffassung das FA nicht nachgewiesen hat, daß dem Kläger eine Endgültigerklärung bekanntgegeben worden ist, selbst wenn ein solcher Bescheid nach den Steuerakten am 11. November 1976 zur Post gegeben worden sein sollte. Diese Feststellung bindet das Revisionsgericht (§ 118 Abs. 2 FGO). Sie ist mit zulässigen Rügen nicht angegriffen worden.
c) Der Vorbehalt der Nachprüfung, unter dem die Umsatzsteuerfestsetzung für 1970 steht, ist noch wirksam. Er ist nicht durch Ablauf der Festsetzungsfrist entfallen, denn § 164 Abs. 4 Satz 1 AO 1977 ist bei der Änderung von vorläufigen Steuerbescheiden (§ 100 Abs. 2 AO) nach dem 31. Dezember 1976 nicht anwendbar (vgl. Art. 97 § 9 Satz 3 EGAO 1977).
Die AO enthält keine Vorschriften über den Wegfall des Vorläufigkeitsvermerks nach § 100 Abs. 2 AO durch Ablauf der Verjährungsfrist.
d) Die Anwendung des § 164 Abs. 2 AO 1977 als Grundlage für die Änderung der Umsatzsteuerfestsetzung gegen den Kläger für 1970 vom 23. Februar 1972 nach dem 31. Dezember 1976 wird auch durch die Vorschriften der AO über die Verjährung (Art. 97 § 10 Abs. 1 Satz 2 EGAO 1977) nicht eingeschränkt (vgl. zur zeitlichen Zulässigkeit der Änderung: Höllig in Koch, Abgabenordnung, 3. Aufl., Vor § 169 Rdnr. 10). Der Verjährung unterliegen nach § 143 Satz 1 AO nur Ansprüche des ,,Abgabenberechtigten" aus Steuergesetzen. Dies sind Ansprüche auf Geldleistungen oder geldwerte Leistungen, die dem Abgabenberechtigten aufgrund der Steuergesetze zustehen (Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 143 AO Tz.2). Ansprüche des Steuerpflichtigen auf Festsetzung einer negativen Steuerschuld oder auf Änderungsveranlagung, um dadurch die Voraussetzungen zur Erstattung des überzahlten Steuerbetrages zu schaffen, unterliegen keiner Verjährung nach Vorschriften der AO (vgl. dazu Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 4. Juni 1959 IV 186/58 U, BFHE 69, 279, BStBl III 1959, 367; Oberfinanzdirektion - OFD - Bremen, Verfügung vom 10. August 1977, Steuererlasse in Karteiform, § 164, Abgabenordnung, Nr. 2; Kühn/Kutter/Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 15. Aufl., Art. 97 § 10 EGAO 1977 Anm. 2).
e) Damit ergeben die Entscheidungsgründe des finanzgerichtlichen Urteils eine Verletzung des bestehenden Rechts. Ob sich die Vorentscheidung aus anderen Gründen als richtig darstellt (§ 126 Abs. 4 FGO), kann der Senat jedoch nicht entscheiden. Das FG hat keine Feststellungen getroffen, die dem Senat eine Beurteilung der weiteren rechtserheblichen Fragen ermöglichen.
2. Das FG hat - nach seiner Beurteilung zu Recht - keine Feststellungen darüber getroffen, ob der Anspruch des Klägers auf Änderung des Umsatzsteuerbescheids für 1970 vom 23. Februar 1972 nach § 164 Abs. 2 AO 1977 zu seinen Gunsten nicht durch Ablauf der in § 225 Satz 2 AO geregelten Ausschlußfrist entfallen ist (vgl. dazu BFH-Urteil vom 15. Mai 1963 I 395, 396/60, Steuerrechtssprechung in Karteiform, Reichsabgabenordnung, § 225, Rechtsspruch 7, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1963, 374; Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 225 AO, Anm.5a; Mattern/Meßmer, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, 1964, § 225, Rdnr. 1766). Für vor dem 1. Januar 1977 entstandene Ansprüche gelten die Vorschriften der AO über die Ausschlußfristen weiter, soweit sie für die Änderung einer Steuerfestsetzung von Bedeutung sind (Art. 97 § 10 Abs. 1 Satz 2 EGAO 1977).
Außerdem hat das FG nicht festgestellt, ob sich aus den von dem Kläger eingereichten Urkunden ergibt, daß Einfuhrumsatzsteuer für Gegenstände entrichtet worden ist, die für sein Unternehmen eingeführt worden sind (§ 15 Abs. 1 Nr. 2 des Umsatzsteuergesetzes 1967).
Fundstellen