Leitsatz (amtlich)
Die Aufforderung zur "Einreichung der Klagebegründung" ist keine Aufforderung i. S. des Art. 3 § 3 Abs. 1 Nr. 1 VGFGEntlG "zur Angabe der Tatsachen, die nach Auffassung des Beteiligten bei der Entscheidung berücksichtigt werden müssen"; sie darf mit einer Fristsetzung und Zurückweisungsandrohung nach Art. 3 § 3 VGFGEntlG nicht verbunden werden.
Normenkette
VGFGEntlG Art. 3 § 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Nachdem das Finanzgericht (FG) die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) nach Eingang der Klageschrift zunächst erfolglos zur Begründung ihrer Klage aufgefordert hatte, richtete der Vorsitzende des erkennenden Senats des FG an den Prozeßbevollmächtigten der Klägerin ein Schreiben mit folgendem Inhalt:
"Ich fordere Sie hiermit letztmalig auf, bis zum 15. 10. 1978 die Klagebergründung hier vorzulegen.
Das Gericht kann Erklärungen und Beweismittel, die erst nach Ablauf der oben gesetzten Frist vorgelegt werden, zurückweisen und ohne weitere Ermittlungen entscheiden, wenn
1. ihre Zulassung nach der freien Überzeugung des Gerichts die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde und
2. der Beteiligte die Verspätung nicht genügend entschuldigt.
Erklärungen und Beweismittel, die vom Finanzgericht zu Recht zurückgewiesen worden sind, bleiben auch in einem Revisionsverfahren ausgeschlossen.
(Art. 3 § 3 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit vom 31. 3. 1978, Bundesgesetzblatt I, Seite 446)."
Das Schreiben wurde dem Prozeßbevollmächtigten am 30. September 1978 durch Niederlegung bei der Postanstalt zugestellt. Mit Schreiben vom 12. Oktober 1978 beantragte der Prozeßbevollmächtigte, die Frist zur Begründung der Klage stillschweigend um eine Woche zu verlängern. Am 31. Oktober 1978 wurde der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin zum Termin vor dem FG (20. November 1978) geladen. Am 9. November 1978 ging beim FG die Klagebegründung ein.
Das FG wies aufgrund mündlicher Verhandlung die Klage als unbegründet ab. Dabei wies es das Vorbringen der Klägerin in der Klagebegründung als verspätet zurück und entschied unter Hinweis auf Art. 3 § 3 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit vom 31. März 1978 (VGFGEntlG) ohne weitere Ermittlungen nach Lage der Akten. Die Entscheidungsgründe sind in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1979, 192 veröffentlicht.
Dagegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Revision. Sie rügt Verletzung des Art. 3 § 3 Abs. 1 Nr. 1 VGFGEntlG.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --).
Das FG hätte die von der Klägerin in ihrer Klagebegründung vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel nicht nach Art. 3 § 3 Abs. 2 VGFGEntlG als verspätet zurückweisen dürfen, sondern bei seiner Entscheidung berücksichtigen müssen.
1. Voraussetzung für eine Zurückweisung verspäteten Vorbringens nach Art. 3 § 3 Abs. 2 VGFGEntlG ist -- abgesehen von den in den Nrn. 1 bis 3 dieser Bestimmung enthaltenen Voraussetzungen --, daß dem betroffenen Beteiligten für sein Vorbringen eine dem Art. 3 § 3 Abs. 1 Nrn. 1 bis 3 VGFGEntlG entsprechende Frist gesetzt worden ist. Daran fehlt es im Streitfall.
a) Nach Art. 3 § 3 Abs. 1 Nr. 1 VGFGEntlG kann der Vorsitzende oder ein von ihm nach § 79 FGO bestimmter Richter einem Beteiligten eine Frist setzen zur Angabe der Tatsachen, die nach Auffassung des Beteiligten bei der Entscheidung berücksichtigt werden müssen.
Der Vorsitzende des FG hat mit Verfügung vom 28. September 1978 die Klägerin unter Fristsetzung bis zum 15. Oktober 1978 aufgefordert, die Klagebegründung vorzulegen, und die Klägerin wegen der Folgen einer Fristversäumung entsprechend Art. 3 § 3 Abs. 2 Nr. 3 VGFGEntlG belehrt. Diese Aufforderung zur "Einreichung der Klagebegründung" ist keine Aufforderung i. S. des Art. 3 § 3 Abs. 1 Nr. 1 VGFGEntlG "zur Angabe der Tatsachen, die nach Auffassung des Beteiligten bei der Entscheidung berücksichtigt werden müssen". Die Aufforderung zur Einreichung der Klagebegründung darf mit einer Fristsetzung und Zurückweisungsandrohung nach Art. 3 § 3 VGFGEntlG nicht verbunden werden (vgl. auch Ziemer/Haarmann/Lohse, Rechtsschutz in Steuersachen, Bd. III Art. 3 § 3 VGFGEntlG, Rdnr. 12317 a; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichsordnung, § 76 FGO Rdnr. 10 2. a. aa).
b) Das FG geht zwar zu Recht davon aus, daß es bei einer Aufforderung zum allgemeinen Tatsachenvortrag mit Fristsetzung nach Art. 3 § 3 Abs. 1 Nr. 1 VGFGEntlG -- anders als bei einer Aufforderung zur Ergänzung von tatsächlichen Angaben nach Art. 3 § 3 Abs. 1 Nr. 2 VGFGEntlG -- nicht im einzelnen anzugeben braucht, zu welchen Punkten die Klägerin Tatsachen vorbringen soll. Denn das Gesetz spricht von Tatsachen, die nach Auffassung des Beteiligten bei der Entscheidung berücksichtigt werden müssen. Das FG hat aber nicht beachtet, daß die Aufforderung nach Art. 3 § 3 Abs. 1 Nr. 1 VGFGEntlG auf die Angabe von Tatsachen zu beschränken ist, die Aufforderung zur Einreichung einer Klagebegründung hingegen mehr beinhaltet.
Zu einer Klagebegründung gehört in der Regel neben dem Tatsachenvortrag auch die Angabe von Beweismitteln (vgl. § 65 Abs. 1 Satz 2 FGO). Die Aufforderung zur Einreichung einer Klagebegründung ist i. d. R. als Aufforderung zur Abgabe von Tatsachen und Beweismitteln zu verstehen. Zwar kann das FG einem Beteiligten nach Art. 3 § 3 Abs. 1 Nr. 3 VGFGEntlG auch zur Bezeichnung von Beweismitteln eine Frist setzen und im Falle der Fristversäumnis die Beweismittel als verspätet zurückweisen. Jedoch setzt eine wirksame Fristsetzung zur Bezeichnung von Beweismitteln die Bezugnahme auf bestimmte aufklärungsbedürftige Tatsachen voraus (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 14. Januar 1981 I R 133/79, BFHE 132, 508, BStBl II 1981, 443). Dies ist in einem Fall, wie dem hier vorliegenden, in dem die Klägerin überhaupt noch keine die Klage begründenden Tatsachen vorgetragen hat, nicht möglich.
c) Der Senat verkennt nicht, daß der Vereinfachungszweck des Art. 3 § 3 VGFGEntlG beeinträchtigt wird, wenn das FG in Fällen der fehlenden Klagebegründung den Kläger -- von den Maßnahmen nach § 65 Abs. 2 FGO abgesehen -- zunächst nur zur Angabe von Tatsachen auffordern darf und erst im Anschluß daran unter Bezugnahme auf bestimmte noch aufklärungsbedürftige Punkte die Bezeichnung von Beweismitteln durch den Kläger verlangen kann. Indes geht auch der Gesetzgeber davon aus, daß der Kläger durch Art. 3 § 3 Abs. 1 Nr. 1 VGFGEntlG nicht zu einer über die in § 65 Abs. 1 Satz 2 FGO geregelten Klagebegründungspflicht hinausgehenden steuerrechtlichen Begründung seiner Klage verpflichtet werden kann (vgl. BT-Drucks. 8/842, S. 14).
d) Der Senat hält eine enge Auslegung der Vorschrift des Art. 3 § 3 VGFGEntlG auch aus verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten für geboten.
Das Grundrecht auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) beinhaltet auch die Pflicht des Gerichts, die Ausführungen der Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei der Entscheidung in Erwägung zu ziehen (Beschluß des Bundesverfassungsgerichts -- BVerfG -- vom 10. Oktober 1973 2 BvR 574/71, BVerfGE 36, 92, 97). Durch die Möglichkeit der Zurückweisung verspäteten Vorbringens wird das Recht auf Gehör inhaltlich begrenzt (vgl. dazu Leipold, Prozeßführungspflicht der Parteien und richterliche Verantwortung, Zeitschrift für Zivilprozeß -- ZZP -- 93, 1980, 237, 242f.).
Das BVerfG hat zwar mehrfach ausgesprochen, daß Art. 103 Abs. 1 GG keinen Schutz gegen Entscheidungen gewährt, die den Sachvortrag eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts teilweise oder ganz unberücksichtigt lassen (Beschluß vom 15. Februar 1967 2 BvR 658/65, BVerfGE 21, 191, 194; BVerfGE 36, 92, 97). Bei nicht eindeutigem Wortlaut einer sogenannten Präklusionsvorschrift, wie sie Art. 3 § 3 VGFGEntlG darstellt, muß durch eine enge Auslegung das Spannungsverhältnis zwischen der Prozeßförderungspflicht der Parteien und deren Recht auf Gehör zugunsten des verfassungsrechtlichen Anspruchs aufgelöst werden.
2. Im Streitfall kann offenbleiben, ob die unwirksame Fristsetzung nach Art. 3 § 3 Abs. 1 VGFGEntlG als wirksame Fristsetzung zur Abgabe einer Klageergänzung i. S. des § 65 Abs. 2 FGO angesehen werden kann oder nicht. Denn selbst wenn man von einer rechtswirksamen Fristsetzung nach § 65 Abs. 2 FGO ausgeht, hätte das FG bei seiner Entscheidung das Vorbringen der Klägerin berücksichtigen müssen, weil die Klagebegründung vor Schluß der mündlichen Verhandlung beim FG eingegangen war (vgl. BFH-Urteil vom 15. April 1971 IV R 173-174/70, BFHE 104, 309, BStBl II 1972, 348).
Fundstellen
Haufe-Index 74466 |
BStBl II 1983, 42 |
BFHE 1983, 515 |