Entscheidungsstichwort (Thema)
Nacherhebung von Einfuhrabgaben, Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte, Recht auf Anhörung durch die Verwaltung
Leitsatz (amtlich)
1. Der Einzelne kann sich auf den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte durch die Verwaltung und den daraus für jedermann folgenden Anspruch, vor Erlass jeder Entscheidung, die seine Interessen beeinträchtigen kann, gehört zu werden, so wie diese im Rahmen der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften in der durch die Verordnung (EG) Nr. 2700/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. November 2000 geänderten Fassung vorgesehen sind, vor den nationalen Gerichten unmittelbar berufen.
2. Der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte und insbesondere das Recht jeder Person, vor Erlass einer nachteiligen individuellen Maßnahme angehört zu werden, sind dahin auszulegen, dass in einem Fall, in dem der Adressat einer Zahlungsaufforderung im Rahmen eines Verfahrens zur Nacherhebung von Einfuhrabgaben gemäß der Verordnung Nr. 2913/92 in der durch die Verordnung Nr. 2700/2000 geänderten Fassung vor Erlass dieser Entscheidung nicht von der Verwaltung angehört worden ist, seine Verteidigungsrechte verletzt sind, auch wenn er die Möglichkeit hat, seinen Standpunkt auf einer späteren Stufe in einem verwaltungsrechtlichen Einspruchsverfahren geltend zu machen, sofern es die nationale Regelung im Fall der fehlenden vorherigen Anhörung den Adressaten solcher Zahlungsaufforderungen nicht ermöglicht, die Aussetzung von deren Vollziehung bis zu ihrer etwaigen Abänderung zu erlangen. So verhält es sich jedenfalls, wenn das nationale Verwaltungsverfahren, das Art. 244 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2913/92 in der durch die Verordnung Nr. 2700/2000 geänderten Fassung durchführt, die Gewährung einer solchen Aussetzung in einem Fall einschränkt, in dem begründete Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung bestehen oder dem Beteiligten ein unersetzbarer Schaden entstehen könnte.
3. Die Bedingungen, unter denen die Wahrung der Verteidigungsrechte sichergestellt werden muss, und die Folgen der Missachtung dieser Rechte richten sich nach nationalem Recht, sofern die in diesem Sinne getroffenen Maßnahmen denen entsprechen, die für den Einzelnen in vergleichbaren unter das nationale Recht fallenden Situationen gelten (Äquivalenzgrundsatz), und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz).
Da das nationale Gericht verpflichtet ist, die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten, muss es, wenn es die Folgen eines Verstoßes gegen die Verteidigungsrechte, insbesondere gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör, würdigt, berücksichtigen, dass ein solcher Verstoß nur dann zur Nichtigerklärung der das Verwaltungsverfahren abschließenden Entscheidung führt, wenn ohne diese Unregelmäßigkeit dieses Verfahren zu einem anderen Ergebnis hätte führen können.
Normenkette
EWGV 2913/92
Beteiligte
Kamino International Logistics |
Kamino International Logistics BV |
Datema Hellmann Worldwide Logistics BV |
Staatssecretaris van Financien |
Verfahrensgang
Hoge Raad der Nederlanden (Niederlande) (Urteil vom 22.02.2013; ABl. EU 2013, Nr. C 17/11) |
Tatbestand
„Erhebung einer Zollschuld ‐ Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte ‐ Anspruch auf rechtliches Gehör ‐ Adressat der Entscheidung über die Zollerhebung, der von den Zollbehörden nicht vor Erlass dieser Entscheidung, sondern erst in der darauffolgenden Stufe des Einspruchs angehört wurde ‐ Verletzung der Verteidigungsrechte ‐ Bestimmung der Rechtsfolgen der Nichtwahrung der Verteidigungsrechte“
In den verbundenen Rechtssachen C-129/13 und C-130/13
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hoge Raad der Nederlanden (Niederlande) mit Entscheidungen vom 22. Februar 2013, am Gerichtshof eingegangen am 18. März 2013, in den Verfahren
Kamino International Logistics BV (C-129/13),
Datema Hellmann Worldwide Logistics BV (C-130/13)
gegen
Staatssecretaris van Financiën
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz sowie der Richter E. Juhász, A. Rosas (Berichterstatter), D. Šváby und C. Vajda,
Generalanwalt: M. Wathelet,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 15. Januar 2014,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der Kamino International Logistics BV und der Datema Hellmann Worldwide Logistics BV, vertreten durch B. Boersma und G. Koevoets, adviseurs,
‐ der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman, B. Koopman und J. Langer als Bevollmächtigte,
‐ der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs und J.-C. Halleux als Bevollmächtigte,
‐ der griechischen Regierung, vertreten durch D. Kalogiros und K. Paraskevopoulou als Bevollmächtigte,
‐ der spanischen Regierung, vertreten durch ...