Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage eines Erlassantrags nach Art 239 ZK an die Europäische Kommission wegen einer möglichen Pflichtverletzung
Leitsatz (redaktionell)
Der in Zusammenhang mit den Einfuhren von Leinengeweben aus Lettland nach Deutschland in der Zeit von 2000 bis 2002 festgesetzte Zoll könnte nach Art. 239 ZK zu erlassen sein, weil möglicherweise die vorgelegten Warenverkehrsbescheinigungen EUR.1 von lettischen Zollbeamten bewusst zu Unrecht ausgestellt wurden und die Kommission die Einhaltung der vereinbarten Präferenzregelungen durch Lettland nicht ordnungsgemäß überwacht hat. Das HZA kann nicht in eigener Zuständigkeit über einen Erlass wegen einer Pflichtverletzung der Kommission entscheiden und hat daher den Erlassantrag der Kommission zur Entscheidung vorzulegen (hier: Verurteilung eines Zollbeamten wegen Amtspflichtverletzung, bekannte unrechtmäßige Ausstellung von Warenverkehrsbescheinigungen durch Zollbeamte, Verwendung echter Zollstempel, Unsicherheiten hinsichtlich der Verlässlichkeit des Abgleichs von Präferenznachweisen mit lettischen Registern, fehlende Anstrengungen der Kommission zur Sicherstellung der Einhaltung des Assoziierungsabkommens durch Lettland, trotz des Hinweises der Kommission auf die Korruption der lettischen Zollverwaltung in jährlichen Berichten keine Herausgabe von Warnhinweisen, mangelhafte Übermittlung von Stempelabdrucken).
Normenkette
ZK Art. 239 Abs. 2; ZKDV Art. 905 Abs. 1 S. 1
Tenor
1. Das Hauptzollamt wird verpflichtet, den Erlassantrag der Klägerin der Europäischen Kommission zur Entscheidung vorzulegen.
2. Das Verfahren wird ausgesetzt, bis die Entscheidung der Europäischen Kommission bestandskräftig geworden ist.
Tatbestand
I.
Im vorliegenden Klageverfahren ist streitig, ob die Klägerin Schuldnerin von Zoll geworden ist und einen Anspruch auf Erlass der Einfuhrabgaben hat.
Die Klägerin führte im Zeitraum vom 10. Dezember 1999 bis zum 10. Juni 2002 in 51 Fällen Leinengewebe der Codenummern … der Kombinierten Nomenklatur (KN) aus Lettland nach Deutschland ein und beantragte beim beklagten Hauptzollamt (HZA) – Zollamt A – die Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr ohne Erhebung der Einfuhrumsatzsteuer zum Weiterversand in andere Mitgliedstaaten (Verfahrenscode 4200). Dabei gab sie in Feld Nr. 36 des Einheitspapiers den Präferenzcode 300 an und legte für die Einfuhren insgesamt 48 Warenverkehrsbescheinigungen EUR.1 vor. Das Zollamt nahm die Zollanmeldungen an und gewährte den Präferenzzollsatz „frei”.
Nach Durchführung einer Missionsreise im Juni 2002 betreffend die Richtigkeit von Warenverkehrsbescheinigungen EUR.1, die im Zusammenhang mit Einfuhren von Leinengewebe von Lettland nach Dänemark verwendet worden waren, kam die Europäische Kommission – Europäisches Amt für Betrugsbekämpfung (nachfolgend OLAF) – zu dem Ergebnis, dass die in Dänemark vorgelegten EUR.1 nicht in den amtlichen Registern der lettischen Zollverwaltung verzeichnet waren. Darüber hinaus habe der Zollbeamte erklärt, dass die Unterschrift auf den nicht eingetragenen Zertifikaten nicht seine Unterschrift sei. Daraus schloss OLAF, dass es sich um offensichtlich ge- oder verfälschte Dokumente handele, und wies darauf hin, dass die Untersuchungen hinsichtlich der Stempelabdrucke auf diesen Dokumenten noch nicht abgeschlossen seien und noch zu klären sei, ob die Stempelabdrucke auf den Warenverkehrsbescheinigungen gefälscht sind. Weiterhin stellte OLAF fest, dass die Leinengewebe im Carnet-TIR-Verfahren zumeist aus Russland oder Litauen nach Lettland gelangt, dort gestellt worden und nach einer Verweildauer von häufig nur wenigen Minuten zur Wiederausfuhr nach Dänemark abgefertigt worden seien (vgl. Missionsbericht vom …; vgl. auch Mitteilung der Europäischen Kommission – nachfolgend Kommission – vom …).
Nachdem die lettischen Zollbehörden OLAF eine Liste der von ihnen rechtmäßig ausgestellten Warenverkehrsbescheinigungen EUR.1 übersandt hatten und die von der Klägerin verwendeten Dokumente darin nicht aufgeführt waren, wurde eine weitere Nachprüfung über die B in C (nachfolgend B) veranlasst (vgl. …). Daraufhin legte das HZA im Oktober 2002 dem D die von der Klägerin verwendeten Warenverkehrsbescheinigungen EUR.1 zur Überprüfung vor, die in Kopie in zwei Nachprüfungsersuchen an die lettische Zollverwaltung weitergereicht wurden (2 Stück bzw. 46 Stück). Diese (…) teilte mit Schreiben vom … und … mit, dass die von der Klägerin verwendeten 48 Warenverkehrsbescheinigungen EUR. 1 nicht in die amtlichen Register der lettischen Zollverwaltung eingetragen und nicht von lettischen Zollämtern ausgestellt worden seien. Sie seien deshalb als ungültig anzusehen. Diese Mitteilungen waren von Herrn E unterschrieben, der später wegen verschiedener Pflichtverletzungen im Zusammenhang mit seiner Amtsführung verurteilt wurde. Auf der Rückseite der kopierten Warenverkehrsbescheinigungen bestätigte die lettische Zollverwaltung jeweils, dass die Zertifikate die Anforderungen an die Authentizität nicht erfüll...