Dr. Hubertus Gschwendtner
Leitsatz
Bei der Prüfung der Frage, ob ein behindertes Kind, welches das 27. Lebensjahr vollendet hat, außerstande ist, sich selbst zu unterhalten (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG), ist dessen Vermögen nicht zu berücksichtigen.
Normenkette
§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG
Sachverhalt
Die Klägerin bezog Kindergeld für ihr behindertes Kind. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit betrug 100 %. Infolge eines Unfalls war das Kind nur bedingt in der Lage, sich selbst zu versorgen, und zeitlich und örtlich häufig nicht orientiert; es ging keiner Erwerbstätigkeit nach und lebte im Haushalt der Klägerin.
Im Rahmen ihrer Betreuungstätigkeit veräußerte die Klägerin ein dem Kind gehörendes Grundstück und legte den Erlös von 90000 DM als Festgeld an.
Der Beklagte erhob daraufhin die Kindergeldfestsetzung auf. Das Vermögen des Kindes habe zur Folge, dass ein Anspruch auf Kindergeld nicht mehr bestehe. Die Klage hatte Erfolg (EFG 2001, 287).
Entscheidung
Der BFH bestätigte das Urteil des FG. Die Behinderung des Kindes sei ursächlich für seine Unfähigkeit gewesen, sich selbst zu unterhalten. Es genüge, dass die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahrs eingetreten sei.
Der steuerrechtliche Unterhaltsbedarf eines behinderten Kindes setze sich zusammen aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf) und dem behinderungsbedingten Mehrbedarf. Eigenes Vermögen des Kindes sei weder nach dem Wortlaut des Gesetzes noch nach der Entwicklung des Kindergeldrechts noch nach dem systematischen Zusammenhang mit der Regelung für nicht behinderte Kinder zu berücksichtigen.
Hinweis
Das Urteil ist zu § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG ergangen, der i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 2 EStG Kindergeld für Kinder gewährt, wenn diese wegen ihrer Behinderung"außerstande sind, sich selbst zu unterhalten". Das Gesetz weicht hier nach seinem Wortlaut deutlich von der für nicht behinderte Kinder in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG getroffenen Regelung ab, die "Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Ausbildung geeignet oder bestimmt sind", nur im Rahmen eines bestimmten Jahresgrenzbetrags berücksichtigt. Beide Regelungen stehen jedoch nach der Rechtsprechung in einem engen systematischen Zusammenhang.
Das zeigt sich zunächst bei der Auslegung der zum Unterhalt des Kindes benötigten Geldmittel. Der Gesamtbedarf setzt sich zusammen aus dem typischen allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf) und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf. Was Grundbedarf bedeutet, entnimmt die Rechtsprechung der Regelung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG: er bestimmt sich nach dem dort angegebenen jeweiligen Jahresgrenzbetrag. Zum behinderungsbedingten Mehrbedarf gehören alle mit der Behinderung zusammenhängenden außergewöhnlichen Belastungen, die bei fehlenden Einzelnachweisen mit dem Behinderten-Pauschbetrag des § 33b Abs. 1 bis 3 EStG angesetzt werden können.
Der erwähnte enge systematische Zusammenhang zeigt sich aber auch bei der Beurteilung der Frage, welche eigenen Mittel das Kind einsetzen muss. Hier greift der BFH nicht auf die in § 33a Abs. 1 Satz 3 EStG getroffene Regelung zurück, nach der Aufwendungen für den Unterhalt als außergewöhnliche Belastung nur berücksichtigt werden können, wenn das Kind kein oder nur geringes Vermögen besitzt, sondern er orientiert sich ebenfalls an § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG, nach dem sich der Kindergeldberechtigte nur laufende Einkünfte und Bezüge, nicht aber eigenes Vermögen des Kindes anrechnen lassen muss.
Und hier liegt die weit über den Urteilsfall hinausreichende Bedeutung der Entscheidung: Die Frage, ob Kinder für ihren Unterhalt und ihre Ausbildung auch eigenes Vermögen einsetzen müssen, war bisher auch im Rahmen des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG nicht geklärt; sie ist im Rahmen der Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG – und gegen die Auffassung der Verwaltung – nunmehr in dem Sinn mitentschieden worden, dass das Vermögen der Kinder nicht zu berücksichtigen ist.
Diese Grundsätze gelten unabhängig davon, ob das Kind das 27. Lebensjahr bereits vollendet hat oder nicht (vgl. dazu die Parallelentscheidung vom 19.8.2002, VIII R 17/02, Seite 55 in diesem Heft).
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 19.8.2002, VIII R 51/01