Jean Bramburger-Schwirkslies, Michele Schwirkslies
Der IX. Senat des BFH ist der Auffassung, dass die Zinshöhe von 6 % pro Jahr, mit der Steuernachzahlungen seitens der Finanzbehörde verzinst werden, im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz realitätsfern ist. Demnach sollen die Verzinsungszeiträume ab dem 1.4.2015 verfassungsrechtlich bedenklich sein, weil das Übermaßverbot nicht eingehalten wurde. Der gesetzlich festgelegte Zinssatz überschreitet angesichts einer zu dieser Zeit bereits eingetretenen strukturellen und nachhaltigen Verfestigung des niedrigen Marktzinsniveaus den angemessenen Rahmen der wirtschaftlichen Realität in erheblichem Maße. Kurz gesagt: der Zinssatz von 6 % pro Jahr entspricht nicht mehr dem allgemeinen Marktniveau.
Die Neuregelung des § 238 Abs. 1a und 1b AO ist für alle am 21.7.2022 anhängigen Verfahren anzuwenden. Jedoch gilt hier ein Verschlechterungsverbot (sog. Vertrauensschutzregelung), das heißt: Alle Zinsen, die sich auf Basis der Neuregelung und damit der Neuberechnung der bislang festgesetzten Zinsen ergeben, dürfen die vor der Neuregelung berechneten Zinsen nicht übersteigen.
Diese Vertrauenschutzregelung gilt jedoch nicht für nachgeholte Zinsfestsetzungen, die aufgrund eines Antrags auf Aussetzung bislang nicht berechnet wurden. Jedoch sind hierbei immer die bereits geltenden 0,15 % pro Monat in Ansatz zu bringen.
Darüber hinaus gilt die Herabsetzung des Zinssatzes von 6 % auf 1,8 % auch rückwirkend für alle Fälle, in denen sich Nachzahlungs- oder Erstattungszinsen für Verzinsungszeiträume nach dem 1.1.2019 ergeben und die nach der Verkündung der Gesetzesänderung festgesetzt werden. Hiervon sind alle Fälle betroffen, in denen
- die Festsetzung bislang unter dem Vorbehalt der Nachprüfung nach § 164 Abs. 1 AO steht,
- bei denen aufgrund eines Rechtsbehelfs noch keine Unanfechtbarkeit eingetreten ist.
Bei Erstattungszinsen keine Rückforderung bei Nachzahlungszinsen Vertrauensschutzregelung
Für Steuerpflichtige, bei denen bislang ausschließlich Erstattungszinsen festgesetzt wurden, kann sich trotz Absenkung des Zinssatzes keine Rückforderung ergeben. Irrelevant ist dabei, ob die Zinsfestsetzung bei Inkrafttreten der Neuregelung unanfechtbar war oder nicht.
Waren bislang ausschließlich Nachzahlungszinsen festgesetzt worden, steht die Vertrauensschutzregelung einer Berechnung der Nachzahlungszinsen unter Anwendung des neuen Zinssatzes von 1,8 % nicht entgegen. Diese führt dann zu einer Minderung der Nachzahlungszinsen.
Wurden sowohl Erstattungs- als auch Nachzahlungszinsen festgesetzt, kommt es zu einer Gesamtbetrachtung bei der Neuberechnung. Der abgesenkte Zinssatz kann demnach nur auf das Gesamtergebnis im Rahmen der Neuberechnung angewendet werden. Ergibt sich also in einem sog. Mischfall im Vergleich mit der aktuellen Zinsfestsetzung eine geringere Zinsbelastung, erfolgt eine Änderung zugunsten des Steuerpflichtigen. Ergibt sich im Vergleich mit der aktuellen Zinsfestsetzung eine höhere Zinsbelastung, bleibt die bisherige Zinsfestsetzung (mit dem Zinssatz von 6 %) bestehen.