Leitsatz
Das FG ist zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung verpflichtet, wenn es den Kläger in der mündlichen Verhandlung mit einem Hinweis überrascht hat, zu dem er – insbesondere wegen der geraume Zeit zurückliegenden Vorgänge – nicht sofort Stellung nehmen konnte und ihm das Gericht keine Möglichkeit zur Stellungnahme mehr gegeben hat.
Normenkette
§ 93 Abs. 3 Satz 2 FGO , § 119 Nr. 3 FGO
Sachverhalt
Der selbstständig tätige Kläger war Eigentümer eines Einfamilienhauses, in dem sich seine Wohnung, ein von ihm beruflich genutztes Atelier und eine Einliegerwohnung befanden. Die Einliegerwohnung hatte er an seinen Sohn vermietet, was zu negativen Einkünften aus Vermietung und Verpachtung führte. Darüber hinaus machte er für seinen Sohn Lohnkosten von 430 DM monatlich geltend. Die geleisteten Stunden und die jeweiligen Stundenlöhne hatte eine Angestellte des Klägers aufgezeichnet.
Das FA erkannte Miet- und Arbeitsvertrag mit dem Sohn steuerlich nicht an. Zur mündlichen Verhandlung vor dem FG sollten der Sohn und die Angestellte als Zeugen gehört werden. In der vorherigen Erörterung erklärte der Kläger, er habe mit seinem Sohn einen Festlohn vereinbart. Auf den Vorhalt des Gerichts, weshalb er dann gleichwohl Aufzeichnungen über die geleisteten Stunden und die Stundenlöhne gemacht habe, meinte der Kläger, dazu könne er "jetzt" nichts sagen. Nach einer Sitzungsunterbrechung erklärte der Vorsitzende, dass eine Zeugeneinvernahme entbehrlich geworden sei, weil ein monatlicher Festlohn und Stundenaufzeichnungen nicht in Einklang zu bringen seien; er verkündete den Beschluss, den Beteiligten "eine schriftliche Entscheidung" zuzustellen.
Am Tag nach der mündlichen Verhandlung beantragte der Kläger die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung.
Das FG wies die Klage mangels klarer und eindeutiger Vereinbarung des Arbeitsverhältnisses ab. Bei einem Festlohn wären Stundenaufzeichnungen entbehrlich gewesen. Die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung sei nicht geboten.
Entscheidung
Der BFH sah das anders. Er hielt das FG zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung im Streitfall für verpflichtet.
Der Kläger sei in der mündlichen Verhandlung in zweierlei Hinsicht überrascht worden. Zunächst seien – entgegen der Auffassung des FG – Festlohn und Stundenaufzeichnungen miteinander vereinbar. Denn einerseits sollten keine sozialversicherungsrechtlichen Verpflichtungen des Arbeitgebers entstehen und andererseits sollte durch die Aufzeichnungen der für steuerliche Zwecke notwendige Nachweis über die tatsächlich geleistete Arbeit erbracht werden. Darüber hinaus habe der Kläger davon ausgehen dürfen, dass das Gericht bei Zweifelsfragen eine Zeugeneinvernahme durchführen würde.
Obwohl dem Kläger Gelegenheit gegeben worden sei, Fragen zu beantworten, und obwohl ihm mitgeteilt worden sei, dass keine Zeugen mehr gehört würden, sei dessen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Denn bei dieser Sachlage (die Vorgänge lagen 10 Jahre zurück; die Einzelheiten sollten zunächst durch Zeugeneinvernahme geklärt werden) hätte das Gericht nicht sofort entscheiden dürfen; vielmehr hätte es dem Kläger eine angemessene Frist zur Beantwortung der Fragen einräumen müssen.
Hinweis
1. Eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung ist bis zur Bekanntgabe des Urteils (durch Verkündung oder Zustellung) möglich. Ob wieder eröffnet wird (auf Antrag oder von Amts wegen) steht grundsätzlich im Ermessen des Gerichts. Allerdings kann nach einstimmiger Rechtsprechung aller obersten Gerichtshöfe in bestimmten Fällen das Ermessen so weit reduziert sein, dass sich für das Gericht eine Verpflichtung zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung ergibt. Das ist z.B. der Fall, wenn der Vorsitzende seine Verpflichtung, auf die Beseitigung von Formfehlern oder auf die Stellung von klaren Anträgen hinzuwirken, oder den Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör verletzen würde oder wenn die Sachaufklärung noch nicht ausreicht.
2. Im Streitfall hat sich das FG auf ein Urteil des BGH berufen, wonach eine mündliche Verhandlung insbesondere dann wiederzueröffnen ist, wenn eine Partei auf einen erstmaligen und überraschenden Hinweis noch Stellung nehmen will, den das Gericht in der letzten mündlichen Verhandlung gemacht hat und zu dem wegen der lange Zeit (10 Jahre) zurückliegenden Vorgänge das Gericht keinen sofortigen detaillierten Sachvortrag und Beweisantritt erwarten durfte.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 4.4.2001, XI R 60/00