Leitsatz (amtlich)
Zu einer Gehörsverletzung wegen unterbliebener Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung auf einen nicht nachgelassenen Schriftsatz nach erst in der mündlichen Berufungsverhandlung erteiltem Hinweis.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; ZPO §§ 156, 544 Abs. 9
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wird das Urteil des 2. Zivilsenats des OLG Stuttgart vom 26.7.2018 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als auf die Berufung der Beklagten das Urteil der 9. Zivilkammer des LG Stuttgart vom 22.6.2017 hinsichtlich des Haushaltsführungsschadens abgeändert und die Klage insoweit abgewiesen wurde.
Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Im Übrigen wird die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im vorgenannten Urteil des 2. Zivilsenats des OLG Stuttgart zurückgewiesen.
Der Gegenstandswert für das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren wird auf bis zu 230.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Rz. 1
Der Kläger verlangt von der beklagten Apothekerin nach fehlerhafter Herstellung eines Medikaments weiteren materiellen und immateriellen Schadensersatz.
Rz. 2
Der im Jahr 1937 geborene Kläger leidet an Asthma. Er nahm deshalb über mehrere Jahre ein Medikament mit dem Wirkstoff Meprobamat in einer Dosierung von jeweils 100 mg ein. Die entsprechenden Kapseln wurden in der von der Beklagten betriebenen Apotheke hergestellt. Anfang April 2000 mischte die in der Apotheke der Beklagten mit der Zubereitung des Medikaments betraute pharmazeutisch-technische Assistentin anstelle der vorgesehenen 100 mg Meprobamat jeweils 100 mg Methadon in die Tablettenkapseln. Nachdem der Kläger die Kapseln zwischen dem 3. und 5.4.2000 abgeholt hatte, fand ihn seine Lebensgefährtin am 6.4.2000 komatös in seiner Wohnung auf. Im Krankenhaus wurden ein multiples Organversagen, eine schwere Blutvergiftung und eine durch den Magensaft verursachte Lungenentzündung festgestellt. Das Leben des Klägers konnte gerettet werden; er erlitt allerdings einen schweren Hirnschaden in Form einer hypoxischen Hirnschädigung. In der Folgezeit zahlte der Haftpflichtversicherer der Beklagten erhebliche Beträge auf die materiellen und immateriellen Schäden des Klägers. Mit seiner Klage verlangt der Kläger weiteren materiellen und immateriellen Schadensersatz, wobei es im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren alleine noch um ein weiteres Schmerzensgeld und den Ersatz des Haushaltsführungsschadens geht.
Rz. 3
Das LG hat dem Kläger kein weiteres Schmerzensgeld, wohl aber den Ersatz seines Haushaltsführungsschadens i.H.v. 162.513,64 EUR zugesprochen. Das OLG hat das landgerichtliche Urteil - soweit für das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren von Bedeutung - auf die Berufung des Klägers in Bezug auf das Schmerzensgeld dahingehend abgeändert, dass es dem Kläger ein weiteres Schmerzensgeld von 24.341,76 EUR zugesprochen hat, und auf die Berufung der Beklagten dahingehend, dass es die Klage hinsichtlich des Haushaltsführungsschadens abgewiesen hat. Die Revision hat es nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde.
II.
Rz. 4
Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hat teilweise Erfolg. Sie führt hinsichtlich des dem Kläger vom Berufungsgericht versagten Haushaltsführungsschadens gem. § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Berufungsurteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht (1.). Im Übrigen ist die Nichtzulassungsbeschwerde unbegründet (2.).
Rz. 5
1. Das Berufungsurteil beruht insoweit auf einer Gehörsverletzung, als das Berufungsgericht das Urteil des LG in Bezug auf den Haushaltsführungsschaden abgeändert und die Klage abgewiesen hat.
Rz. 6
a) Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung insoweit ausgeführt, ein - dem Grunde nach gegebener - Anspruch auf Ersatz des Haushaltsführungsschadens scheitere im Streitfall daran, dass der Kläger, obgleich ihm vom (Berufungs-)Senat ein entsprechender Hinweis erteilt worden sei, bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung nicht vorgetragen habe, welche Zeiten der Tätigkeit seiner Lebensgefährtin er für seine Pflege und Betreuung und - in Abgrenzung hierzu - für die Haushaltsführung geltend mache. Der insoweit nach Schluss der mündlichen Verhandlung gehaltene Vortrag sei verspätet, ein Antrag auf Schriftsatznachlass gem. § 139 Abs. 5 ZPO nicht gestellt worden. Ein Grund zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung bestehe deshalb nicht.
Rz. 7
b) Jedenfalls die Nichtberücksichtigung seines nach Schluss der mündlichen Verhandlung gehaltenen Vortrags verletzt den Kläger unter den Umständen des Streitfalls in seinem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs.
Rz. 8
aa) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Dadurch soll sichergestellt werden, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags einer Partei haben. Lässt ein Gericht den Vortrag einer Partei unberücksichtigt, ohne dass dies im Prozessrecht eine Stütze findet, verletzt es damit deren Recht auf Gewährung rechtlichen Gehörs (vgl. nur BGH, Beschl. v. 2.10.2018 - VI ZR 213/17 NJW 2019, 1082 Rz. 6; BVerfGE 69, 141, 143 f.; jeweils m.w.N.). Die Verfahrensweise des Berufungsgerichts findet im Gesetz keine Stütze mehr.
Rz. 9
bb) Der BGH entnimmt Art. 103 Abs. 1 GG in ständiger Rechtsprechung, dass eine in erster Instanz siegreiche Partei darauf vertrauen darf, vom Berufungsgericht einen Hinweis zu erhalten, wenn dieses in einem entscheidungserheblichen Punkt der Beurteilung der Vorinstanz nicht folgen will und aufgrund seiner abweichenden Ansicht eine Ergänzung des Vorbringens oder einen Beweisantritt für erforderlich hält; der Hinweis muss dabei grundsätzlich so rechtzeitig erteilt werden, dass der Berufungsbeklagte noch vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung reagieren kann (vgl. nur BGH, Beschl. v. 10.10.2019 - V ZR 4/19 Rz. 7, juris; v. 11.4.2018 - VII ZR 177/17, NJW 2018, 2202 Rz. 8; v. 21.1.2016 - V ZR 183/15 Rz. 5, juris; v. 4.7.2013 - V ZR 151/12, NJW-RR 2014, 177 Rz. 8; ferner BGH, Beschl. v. 25.5.2018 - VersR 2018, 1001 Rz. 15; jeweils m.w.N.). Erteilt das Berufungsgericht den Hinweis entgegen § 139 Abs. 4 ZPO erst in der mündlichen Verhandlung, so muss es der betroffenen Partei genügend Gelegenheit zur Reaktion hierauf geben. Ist offensichtlich, das sich die Partei in der mündlichen Verhandlung nicht abschließend erklären kann, so muss das Gericht, wenn es nicht ins schriftliche Verfahren übergeht, die mündliche Verhandlung auch ohne einen Antrag auf Schriftsatznachlass vertagen, um Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben (BGH, Beschl. v. 11.4.2018 - VII ZR 177/17, NJW 2018, 2202 Rz. 8; v. 27.9.2013 - V ZR 43/12 Rz. 12 ff. juris; vom 4.7.2013 - VII ZR 192/11, NJW-RR 2013, 1358 Rz. 7).
Rz. 10
Gegen diese Pflichten hat das Berufungsgericht verstoßen. Es hat dem in erster Instanz in Bezug auf den Haushaltsführungsschaden siegreichen Kläger den Hinweis, es bedürfe einer Darstellung, welche Zeiten der Tätigkeit seiner Lebensgefährtin er als Pflege und Betreuung und - in Abgrenzung hierzu - für die Haushaltsführung geltend mache, erst in der mündlichen Berufungsverhandlung erteilt und diese geschlossen, obwohl dem Kläger eine sofortige Erklärung in der Sache angesichts des damit verbundenen Rechercheaufwandes ersichtlich nicht möglich war. Vor dem Hintergrund des darin liegenden Verfahrensfehlers war das Berufungsgericht im Rahmen des § 156 Abs. 2 Nr. 1 ZPO verpflichtet, sich mit dem nicht nachgelassenen Schriftsatz, in dem der Kläger auf den Hinweis reagiert hat, inhaltlich zu befassen und dessen Entscheidungserheblichkeit zu prüfen. Eine solche Prüfung war auch nicht deshalb entbehrlich, weil es der Kläger versäumt hat, im Termin einen Schriftsatznachlass zu beantragen (vgl. BGH, Beschl. v. 4.7.2013 - V ZR 151/12, NJW-RR 2014, 177 Rz. 13; v. 18.9.2006 - II ZR 10/05 WM 2006, 2328 Rz. 2 ff.; a.A. etwa Hk-ZPO/Wöstmann, 8. Aufl., § 139 Rz. 10; BeckOK/ZPO/von Selle, 35. Ed. 1.1.2020, ZPO § 139 Rz. 49.1; jeweils m.w.N.). Die abweichende Verfahrensweise des Berufungsgerichts findet im Prozessrecht keine Stütze mehr.
Rz. 11
cc) Auch greift der Einwand der Beschwerdeerwiderung nicht, der verspätet erteilte Hinweis des Berufungsgerichts sei von vornherein nicht erforderlich gewesen, weil die Beklagte bereits in erster Instanz den Einwand erhoben habe, die Lebensgefährtin des Klägers könne nicht zur gleichen Zeit den Haushalt führen und die Pflege des Klägers übernehmen, weshalb die entsprechende Auffassung des Berufungsgerichts für den Kläger nicht überraschend gewesen sein könne. Denn der Einwand der Beklagten musste den Kläger nicht zur Annahme veranlassen, das Berufungsgericht halte ihn für zutreffend, den Vortrag des Klägers zum Haushaltsführungsschaden - anders als das LG - also nicht für ausreichend, weshalb er jedenfalls vorsorglich ergänzend vorzutragen habe (vgl. BGH, Beschl. v. 21.1.2016 - V ZR 183/15 Rz. 8, juris).
Rz. 12
c) Der Gehörsverstoß ist erheblich. Der Kläger hat auf den vom Berufungsgericht in der mündlichen Verhandlung erteilten Hinweis nach Schluss der mündlichen Verhandlung reagiert und zu den Tätigkeiten seiner Lebensgefährtin, insb. auch hinsichtlich des Bereichs "hauswirtschaftliche Versorgung", weiter vorgetragen. Es kann deshalb nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht über den geltend gemachten Anspruch auf Ersatz des Haushaltsführungsschadens bei Berücksichtigung des gehörswidrig übergangenen Vortrags anders als geschehen entschieden hätte.
Rz. 13
2. Im Übrigen war die Nichtzulassungsbeschwerde zurückzuweisen, weil die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts auch insoweit erfordert (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Von einer weiteren Begründung wird gem. § 544 Abs. 6 Satz 2 Halbs. 2 ZPO abgesehen.
Rz. 14
3. Das Berufungsgericht wird im Rahmen der erneuten Befassung auch die Möglichkeit haben, in eigener Zuständigkeit über den vom Kläger gestellten Urteilsberichtigungsantrag zu entscheiden.
Fundstellen