Leitsatz (amtlich)
Ein Auf- oder Wiederaufnahmeersuchen an einen anderen Staat unterbricht die Vier-Wochen-Frist des § 14 Abs. 3 Satz 3 AsylG mit der Folge, dass sie im Falle der Ablehnung des Ersuchens erneut zu laufen beginnt.
Normenkette
AsylVfG § 14 Abs. 3 S. 3
Verfahrensgang
LG Landshut (Entscheidung vom 10.12.2021; Aktenzeichen 64 T 3334/21) |
AG Erding (Entscheidung vom 12.11.2021; Aktenzeichen 306 XIV 297/21 (B)) |
Tenor
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 6. Zivilkammer des Landgerichts Landshut vom 10. Dezember 2021 wird auf Kosten des Betroffenen zurückgewiesen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.
Gründe
Rz. 1
I. Der Betroffene, ein tunesischer Staatsangehöriger, reiste am 16. Oktober 2021 über die Schweiz in die Bundesrepublik ein. Am Bahnhof Weiden in der Oberpfalz wurde er in polizeilichen Gewahrsam genommen. Das zunächst befasste Amtsgericht ordnete am 18. Oktober 2021 im Wege der einstweiligen Anordnung die vorläufige Freiheitsentziehung des Betroffenen bis zum 29. Oktober 2021 an. Der Betroffene stellte am 19. Oktober 2021 aus der Haft heraus einen Asylantrag. Am 25. Oktober 2021 ordnete das nunmehr örtlich zuständige Amtsgericht Haft zur Sicherung der Abschiebung des Betroffenen bis einschließlich 15. November 2021 an.
Rz. 2
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (fortan: Bundesamt) hörte den Betroffenen am 3. November 2021 zu seinem Asylantrag an. Dabei gab der Betroffene an, ein Jahr in Nizza gelebt zu haben. Das Bundesamt richtete daraufhin am 10. November 2021 ein Übernahmeersuchen an Frankreich nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin-III-Verordnung).
Rz. 3
Auf Antrag der beteiligten Behörde vom 10. November 2021 verlängerte das Amtsgericht mit Beschluss vom 12. November 2021 die angeordnete Sicherungshaft des Betroffenen bis zum 17. Dezember 2021.
Rz. 4
Mit Schreiben vom 21. November 2021, eingegangen am 24. November 2021, lehnte Frankreich die Übernahme des Betroffenen ab. Mit dem Betroffenen am 2. Dezember 2021 zugestellten Bescheid vom 30. November 2021 lehnte das Bundesamt den Asylantrag als offensichtlich unbegründet ab. Am 15. Dezember 2021 ist er nach Tunesien abgeschoben worden. Seine gegen die Verlängerung der Sicherungshaft gerichtete Beschwerde hat das Landgericht mit Beschluss vom 10. Dezember 2021 zurückgewiesen.
Rz. 5
Mit der Rechtsbeschwerde begehrt der Betroffene die Feststellung, durch die Verlängerung der Sicherungshaft in seinen Rechten verletzt worden zu sein.
Rz. 6
II. Die zulässige Rechtsbeschwerde ist unbegründet.
Rz. 7
1. Das Beschwerdegericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, der Haftanordnung habe ein zulässiger Antrag der zuständigen Behörde zugrunde gelegen. Es sei der Haftgrund der Fluchtgefahr, § 62 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG, gegeben. Der Aufrechterhaltung der Haft habe nicht der Vier-Wochen-Zeitraum nach § 14 Abs. 3 Satz 3 AsylG entgegengestanden. Da das Bundesamt im Rahmen des Dublin-Verfahrens ein Übernahmeersuchen an Frankreich gestellt habe, könne die Haft ohne Rücksicht auf den Asylantrag und die Dauer des Verfahrensgangs über diesen Zeitraum hinaus fortgesetzt werden. Frankreich habe am 21. November 2021 die Rückübernahme abgelehnt. Erst ab diesem Zeitpunkt sei die Zuständigkeit für die Sachbearbeitung des Asylantrags auf Deutschland übergegangen. Mit der Ablehnung habe die 4-Wochen-Frist erneut zu laufen begonnen. Anhaltspunkte dafür, dass das Ersuchen nur vorgeschoben gewesen sei, bestünden nicht. Im Übrigen seien Fragen bezüglich des Wiederaufnahmeersuchens nicht von der Prüfkompetenz der Haftgerichte umfasst. Es liege auch kein Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz vor. Tunesien akzeptiere nur Rückführungen mittels Charterflug. Das hätten eigene Ermittlungen ergeben. Eine frühere Rückführung mit einem Linienflug scheide daher aus.
Rz. 8
2. Diese Beurteilung hält rechtlicher Überprüfung stand.
Rz. 9
a) Der Haftverlängerungsantrag der beteiligten Behörde vom 10. November 2021 war nach § 417 Abs. 1 FamFG zulässig.
Rz. 10
aa) Dem steht nicht entgegen, dass das Beschwerdegericht in Ausübung seiner Amtsermittlungspflicht (§ 26 FamFG) weitere Erklärungen von der beteiligten Behörde zum Stand der Identifizierung des Betroffenen durch die tunesischen Behörden, zum Erfordernis einer gesicherten Rückführung und zu der Möglichkeit einer früheren Rückführung durch einen Linienflug eingeholt hat. Der Haftantrag genügt den Anforderungen des § 417 Abs. 2 Satz 2 FamFG bereits dann, wenn die beteiligte Behörde zu den anzusprechenden Gesichtspunkten nachvollziehbar so vorträgt, dass der Haftrichter konkrete Nachfragen stellen kann (vgl. BGH, Beschlüsse vom 19. Oktober 2020 - XIII ZB 43/19, juris Rn. 17; vom 15. Dezember 2020 - XIII ZB 93/19, juris Rn. 10). Diesem Maßstab entsprachen die Angaben des Antrags.
Rz. 11
bb) Ohne Erfolg rügt die Rechtsbeschwerde, das Beschwerdegericht habe es versäumt, den Betroffenen erneut persönlich anzuhören, obwohl die Voraussetzungen des § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG nicht gegeben gewesen seien.
Rz. 12
Mängel des Haftantrags können mit Wirkung für die Zukunft behoben werden, indem die Behörde von sich aus oder auf richterlichen Hinweis ihre Darlegungen ergänzt und dadurch Lücken in ihrem Haftantrag schließt. Zwingende weitere Voraussetzung für eine rechtmäßige Haftanordnung ist in einem solchen Fall, dass der Betroffene zu den ergänzenden Angaben persönlich angehört wird (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 12. Februar 2020 - XIII ZB 38/19, juris Rn. 13; vom 14. Juli 2020 - XIII ZB 74/19, juris Rn. 12, jeweils mwN). Das erfordert die nach Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG zu beachtende Verfahrensvorschrift des § 420 Abs. 1 Satz 1 FamFG, wonach der Betroffene vor der Anordnung der Freiheitsentziehung persönlich anzuhören ist, weil er mangels zulässigen Haftantrags zuvor keine Gelegenheit hatte, zu den Grundlagen der gegen ihn verhängten Freiheitsentziehung persönlich Stellung zu nehmen (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Oktober 2011 - V ZB 284/10, juris Rn. 9).
Rz. 13
Vorliegend bestanden keine Mängel, die den Haftverlängerungsantrag unzulässig machten. Vielmehr enthielt der Haftverlängerungsantrag bereits Angaben zur Bearbeitungsfrist des Identifizierungsverfahrens und zu der Erforderlichkeit einer Rückführung mittels gesicherten Charterflugs. Zu dem diese Angaben umfassenden Antrag ist der Betroffene vom Ausgangsgericht persönlich angehört worden. Das Beschwerdegericht hat zu den genannten Punkten mit Schreiben vom 7. Dezember 2020 lediglich ergänzende Auskünfte eingeholt, die von der Bundespolizeiinspektion mit Schreiben vom gleichen Tage beantwortet wurden. Die Kammervorsitzende hat außerdem am 8. Dezember 2021 mit der Behörde ein Telefongespräch geführt. Den über das Gespräch gefertigten Vermerk sowie die Stellungnahme der Bundespolizei hat sie der Prozessbevollmächtigten des Betroffenen zur Stellungnahme übermittelt. Bei dieser Sachlage bedurfte es keiner erneuten persönlichen Anhörung.
Rz. 14
b) Der Verlängerung der Haft bis zum 17. Dezember 2021 stehen auch nicht der Asylantrag des Betroffenen und der Ablauf der Vier-Wochen-Frist nach § 14 Abs. 3 Satz 3 AsylG entgegen.
Rz. 15
aa) Sicherungshaft darf grundsätzlich nicht angeordnet oder aufrechterhalten werden, wenn der Ausländer bei oder nach seiner Einreise erstmals um Asyl nachsucht, weil ihm dann der Aufenthalt im Bundesgebiet zur Durchführung des Asylverfahrens gestattet ist (§ 55 Abs. 1 Satz 1 und 3 AsylG). Etwas anderes gilt jedoch nach § 14 Abs. 3 Satz 1 AsylG, wenn der Asylantrag aus der Haft heraus gestellt wird. Die Aufenthaltsgestattung steht dann der Aufrechterhaltung der Haft während der Prüfung des Asylantrags grundsätzlich nicht entgegen. Mit dieser Regelung möchte der Gesetzgeber verhindern, dass Betroffene nach Anordnung von Haft zur Sicherung ihrer Abschiebung aus rein taktischen Erwägungen und damit rechtsmissbräuchlich einen Asylantrag stellen, so die sachlich nicht gerechtfertigte Aufhebung der Haft erreichen und sich dann dem Zugriff der Behörden entziehen. Er hat sich daher entschlossen, die Gestattungswirkung eines aus der (Abschiebungs-)Haft gestellten Asylantrags generell hinauszuschieben und in den in § 14 Abs. 3 Satz 3 Halbsatz 2 AsylG genannten Fallgruppen gar nicht eintreten zu lassen (BGH, Beschluss vom 6. Oktober 2020 - XIII ZB 115/19, InfAuslR 2021, 119 Rn. 14, 15 mwN).
Rz. 16
bb) Die Haft endet grundsätzlich mit Zustellung des Bescheids, wenn das Bundesamt den Asylantrag als "einfach" unzulässig oder unbegründet ablehnt oder ihm zumindest teilweise stattgibt. Sie endet unabhängig davon spätestens vier Wochen nach Eingang des Asylantrags beim Bundesamt (§ 14 Abs. 3 Satz 3 Halbsatz 1 AsylG). Denn der Umstand, dass die Bearbeitung des Asylantrags längere Zeit in Anspruch nimmt, soll dem Betroffenen nicht angelastet werden (Entwurf eines Gesetzes zur Änderung straf-, ausländer- und asylverfahrensrechtlicher Vorschriften vom 18. Juni 1996, BT-Drucks. 13/4948 S. 11). Eine (Rück-)Ausnahme gilt, wenn ein Auf- oder Wiederaufnahmeersuchen an einen anderen Staat gerichtet wurde (§ 14 Abs. 3 Satz 3 Halbsatz 2, 1. Alt. AsylG) oder der Asylantrag als unzulässig nach § 29 Absatz 1 Nummer 4 AsylG oder als offensichtlich unbegründet abgelehnt wird (§ 14 Abs. 3 Satz 3 Halbsatz 2, 2. Alt. AsylG). Dann kann die Haft über den Vier-Wochen-Zeitraum hinaus fortgesetzt werden.
Rz. 17
cc) Vorliegend wurde die Vier-Wochen-Frist durch das Übernahmeersuchen an Frankreich vom 10. November 2021 unterbrochen. Der Betroffene hat während der Haft am 19. Oktober 2021 einen Asylantrag gestellt. Die dadurch ausgelöste Vier-Wochen-Frist begann mit dem Eingang des Antrags beim Bundesamt. Das Beschwerdegericht hat den Zeitpunkt des Eingangs nicht festgestellt. Selbst wenn der Antrag noch am gleichen Tag einging, endete die reguläre Frist jedenfalls frühestens mit Ablauf des 16. November 2021. Das zwischenzeitlich gestellte Übernahmeersuchen unterbrach die Frist mit der Folge, dass sie nach dem Eingang der ablehnenden Entscheidung der französischen Behörden am 24. November 2021 erneut zu laufen begann. Sie war damit am 15. Dezember, als der Betroffene abgeschoben wurde, noch nicht abgelaufen.
Rz. 18
(1) Es ist nicht ausdrücklich geregelt, wann die Vier-Wochen-Frist endet, wenn der ersuchte Staat seine Zuständigkeit ablehnt. Hierzu werden in der Literatur verschiedene Auffassungen vertreten. Teilweise wird angenommen, die Haft ende bereits unmittelbar mit der Abweisung des Aufnahme- oder Wiederaufnahmeersuchens (Bruns in Hofmann, Ausländerrecht, 3. Aufl., § 14 AsylG Rn. 13). Nach anderer Ansicht soll die Vier-Wochen-Frist nach der ablehnenden Entscheidung neu zu laufen beginnen (vgl. Winkelmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl, § 14 AsylG Rn. 30; Houben in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 37. Ed. 1. Januar 2023, § 14 AsylG Rn. 18c). Das wird damit begründet, dass erst mit der ablehnenden Antwort auf das Ersuchen die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig werde.
Rz. 19
(2) Die zuletzt genannte Auffassung ist zutreffend. Zwar ist der Wortlaut der Bestimmung des § 14 Abs. 3 Satz 3 AsylG, wonach die Abschiebungshaft spätestens vier Wochen nach Eingang des Asylantrags beim Bundesamt endet, "es sei denn" es wurde ein Auf- oder Wiederaufnahmeersuchen an einen anderen Staat gerichtet, nicht eindeutig; aus der Systematik, der Gesetzeshistorie und dem Sinn und Zweck der Vorschrift lässt sich jedoch ableiten, dass die Frist durch das Übernahmeersuchen unterbrochen wird und nach der Ablehnung des Ersuchens neu zu laufen beginnt.
Rz. 20
(a) Die Ausnahmebestimmung des § 14 Abs. 3 Satz 3 Halbsatz 2, 1. Alt. AsylG wurde mit dem Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 eingeführt. Der Gesetzgeber wollte damit sicherstellen, dass Ausländer, die nach der (damaligen) Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (Dublin II) kurzfristig in den für das Asylverfahren zuständigen Staat verbracht werden sollen, nicht vorzeitig aus der Haft entlassen werden und untertauchen (vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 23. April 2017, BT-Drucks. 16/5065, 215; Winkelmann/Broscheit in Bergmann/Dienelt, 14. Aufl. 2022, AsylG § 14 AsylG Rn. 30). Im Unterschied zur Systematik bei Entscheidungen als unbeachtlich oder offensichtlich unbegründet kann die Aufrechterhaltung der Haft bei diesen Fällen nicht an die Entscheidung des Bundesamts über die Unzulässigkeit des Asylantrags wegen Unzuständigkeit geknüpft werden; denn diese Entscheidung kann erst dann getroffen werden, wenn der ersuchte Staat seine Zuständigkeit anerkannt hat. Der Gesetzgeber hat es deshalb für notwendig befunden, eine Verlängerung der Haft über die in der Norm genannten vier Wochen hinaus bereits durch die Einleitung des Dublin-Verfahrens zu ermöglichen (BT-Drucks. 16/5065, 215). Das bedeutet, dass die Vier-Wochen-Frist während des anhängigen Übernahmeersuchens nicht laufen soll, um die ordnungsgemäße Durchführung des Dublin-Verfahrens zu ermöglichen. Wird dem Ersuchen entsprochen, ist der Betroffene im Anschluss zu überstellen. Wird ihm nicht entsprochen, schließt sich die Prüfung des Asylantrags durch das dann (sachlich) zuständige Bundesamt an. Hierfür gilt wiederum die Vier-Wochen-Frist, die der Gesetzgeber für erforderlich und ausreichend erachtet, um einerseits eine sorgfältige Prüfung zu ermöglichen und andererseits Verzögerungen im Interesse des inhaftierten Betroffenen zu vermeiden.
Rz. 21
(b) Die Unterbrechung der Frist und ihr Neubeginn im Falle der Ablehnung des Übernahmeersuchens stellt keinen unverhältnismäßigen Eingriff in die Freiheitsrechte des Betroffenen aus Art. 2 und Art. 104 GG dar. Die Freiheit der Person darf nur aus wichtigen Gründen entzogen werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 4. Oktober 2010 - 2 BvR 1825/08, BVerfGK 18, 125 [juris Rn. 20 mwN]). Das Beschleunigungsgebot bei Freiheitsentziehungen verlangt, dass die Abschiebungshaft auf das unbedingt erforderliche Maß zu beschränken ist (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juni 2020 - XIII ZB 9/19, juris Rn. 12 mwN). Das Übernahmeersuchen ist im Falle der Inhaftierung gemäß Art. 28 Abs. 3 der Dublin-III-Verordnung an enge Fristen gebunden, um die Haft so kurz wie möglich zu halten. Auch die Vier-Wochen-Frist trägt dem Beschleunigungsinteresse des Betroffenen Rechnung und stellt sicher, dass ihm Verzögerungen der Bearbeitung des Asylantrags nicht angelastet werden. Unabhängig davon gelten für die Anordnung und Aufrechterhaltung der Haft die Voraussetzungen des § 62 AufenthG (Winkelmann/Broscheit in Bergmann/Dienelt, aaO, § 14 Rn. 32; Houben in BeckOK AuslR, aaO, § 14 Rn. 15c) und des § 420 FamFG, die dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und den besonderen Verfahrensgarantien nach Art. 104 Abs. 1 bis 4 GG Rechnung tragen.
Rz. 22
dd) Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde steht der Unterbrechung der Frist auch nicht entgegen, dass das Asylverfahren zunächst in nationaler Zuständigkeit geführt wurde und sich Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedsstaats nach Maßgabe der Dublin-III-Verordnung erst während der Haft bei der Anhörung vom 3. November 2021 ergaben. Zweck der Ausnahmebestimmung des § 14 Abs. 3 Satz 3 Halbsatz 2, 1. Alt. AsylG ist es, dass Ausländer, die im Rahmen des Dublin-Verfahrens in den für das Asylverfahren zuständigen Staat verbracht werden sollen, nicht vorzeitig aus der Haft entlassen werden und untertauchen. Denn die Entscheidung über den Asylantrag kann nicht getroffen werden, bevor der ersuchte Staat seine Zuständigkeit anerkannt oder abgelehnt hat. Es ist aufgrund dessen notwendig, dass eine Verlängerung der Haft über die sonst vorgeschriebenen vier Wochen hinaus ermöglicht wird (vgl. BT-Drucks. 16/5065, 215). Diesem Zweck steht es nicht entgegen, wenn die Haft zunächst zur Sicherung der Abschiebung angeordnet wird und sich erst während der Haft - vor Ablauf der Vier-Wochen-Frist - Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats und die Möglichkeit einer Überstellung ergeben.
Rz. 23
ee) Es kommt auch nicht darauf an, ob das Bundesamt - wie hier von der beteiligten Behörde im Haftverlängerungsantrag vom 10. November 2021 ausgeführt - mit hoher Wahrscheinlichkeit von der Ablehnung des Ersuchens ausgeht.
Rz. 24
Von Fällen evidenter Rechtsverletzung abgesehen, haben die Haftgerichte nicht zu prüfen, ob eine Aufnahme- oder Wiederaufnahmeverpflichtung des Zielstaates unter Einhaltung der Regelungen der Dublin-III-Verordnung entstanden ist und ob die Ausländerbehörde die Überstellung zu Recht betreibt. Mit der Prüfung dieser Fragen würde der Haftrichter in unzulässiger Weise in den Zuständigkeitsbereich der Verwaltungsgerichtsbarkeit übergreifen (st. Rspr., vgl. BGH, Beschlüsse vom 25. September 1980 - VII ZB 5/80, BGHZ 78, 145, 147; vom 21. August 2019 - V ZB 174/17, juris Rn. 8 mwN; vom 7. April 2020 - XIII ZB 53/19, InfAuslR 2020, 283 Rn. 12).
Rz. 25
(2) Von einer evidenten Rechtsverletzung war vorliegend nicht auszugehen. Das Ersuchen darf nicht offensichtlich vorgeschoben sein, um dem Bundesamt eine längere Bearbeitung des Asylgesuchs während der Haftzeit zu ermöglichen. Das in Freiheitsentziehungssachen zu beachtende Beschleunigungsgebot gilt auch für das Auf- und Wiederaufnahmeverfahren nach der Dublin III-Verordnung (vgl. BGH, Beschlüsse vom 7. April 2011 - V ZB 111/10, NVwZ 2011, 1214 Rn. 13; vom 30. Juni 2011 - V ZB 274/10, FGPrax 2011, 315 Rn. 25 zur Dublin-II-Verordnung). Es erfordert, dass der Betroffene unverzüglich nach seinem Einreiseversuch befragt wird und dass die für die Zurückweisung erforderlichen Maßnahmen unverzüglich in die Wege geleitet werden (BGH, FGPrax 2011, 315 Rn. 24). Zudem ist erforderlich, dass das Aufnahmeersuchen korrekt gestellt wird (BGH, FGPrax 2011, 315 Rn. 25).
Rz. 26
Das Beschwerdegericht hat zu Recht angenommen, dass diesen Anforderungen genügt wurde. Nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts hat der Betroffene bei seiner asylrechtlichen Anhörung am 3. November 2021 selbst angegeben, für etwa ein Jahr in Nizza (Frankreich) gelebt zu haben. Danach war - die Richtigkeit der Einlassung des Betroffenen unterstellt - eine Zuständigkeit Frankreichs nach Art. 7 Abs. 1, Art. 13 Abs. 2 Dublin-III-VO gegeben. Das entsprechende Ersuchen erfolgte innerhalb der in Art. 21 Abs. 1 Dublin-III-VO vorgesehenen Frist. Von dem Ersuchen war nicht allein deshalb abzusehen, weil nach den Erfahrungen des Bundesamts - ungeachtet einer Aufnahmeverpflichtung Frankreichs - wahrscheinlich mit seiner Ablehnung zu rechnen war.
Rz. 27
ff) Ohne Erfolg macht die Rechtsbeschwerde geltend, das Wiederaufnahmeersuchen habe deshalb nicht zu einer Unterbrechung und einem Neubeginn der Vier-Wochen-Frist führen können, weil nicht festgestellt sei, dass es dem Betroffenen vor Ablauf der (ursprünglichen) Frist förmlich mitgeteilt worden ist. Im rechtswissenschaftlichen Schrifttum wird vereinzelt die Auffassung vertreten, es bedürfe einer solchen förmlichen Mitteilung, damit sich der Betroffene darauf einstellen kann, ob die Abschiebungshaft nach Ablauf der vier Wochen endet oder fortdauern wird (vgl. Houben in BeckOK AuslR, aaO, § 14 Rn. 18c). Es kann offen bleiben, ob dieser Auffassung beizutreten ist. Im Haftverlängerungsantrag der beteiligten Behörde, der dem Betroffenen zugeleitet und übersetzt wurde, wird ausgeführt, dass das Bundesamt am 9. November 2021 telefonisch mitgeteilt hat, der Asylantrag werde als offensichtlich unbegründet abgelehnt, die Bescheidung sei aber derzeit gehemmt, weil ein Aufnahmeverfahren nach der Dublin-III-VO eingeleitet worden sei. Frankreich werde mit hoher Wahrscheinlichkeit die Übernahme ablehnen, sodass dieses Verfahren höchstens zwei Wochen in Anspruch nehmen werde. Diese Angaben waren ausreichend, um dem Betroffenen vor Augen zu führen, dass die Haft nicht innerhalb der Vier-Wochen-Frist - gerechnet ab Eingang des Asylantrags vom 19. Oktober 2021 - enden wird. Es kommt bei dieser Sachlage nicht darauf an, ob ihm das Wiederaufnahmegesuch zugänglich gemacht wurde.
Rz. 28
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.
Kirchhoff |
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Roloff |
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Vogt-Beheim |
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Holzinger |
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Kochendörfer |
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Fundstellen
Haufe-Index 16058387 |
FGPrax 2023, 279 |
JZ 2023, 709 |