Entscheidungsstichwort (Thema)
Berücksichtigung von Parteivorbringen
Leitsatz (amtlich)
Bringt eine Partei auf einen richterlichen Hinweis ein neues entscheidungserhebliches Angriffs- oder Verteidigungsmittel vor, ist dies der anderen Partei mitzuteilen und das Vorbringen, mit dem diese dem neuen Angriffs- oder Verteidigungsmittel entgegentritt, gleichfalls zu berücksichtigen (Vergleiche BGH, Beschluss vom 20. September 2011 - VI ZR 5/11, NJW-RR 2011, 1558 Rn. 5).
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; ZPO §§ 139, 544 Abs. 9
Verfahrensgang
KG Berlin (Entscheidung vom 14.09.2022; Aktenzeichen 23 U 3/20) |
LG Berlin (Entscheidung vom 20.11.2019; Aktenzeichen 26 O 126/19) |
Tenor
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten wird das Urteil des Kammergerichts - 23. Zivilsenat - vom 14. September 2022 - 23 U 3/20 - im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als dieses zum Nachteil der Beklagten erkannt hat.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des dritten Rechtszugs, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 63.468,75 € festgesetzt.
Gründe
I.
Rz. 1
Die Parteien streiten über von der Klägerin geltend gemachte Vergütungsansprüche.
Rz. 2
Die Parteien schlossen am 12. April 2018 eine schriftliche Vereinbarung mit der Überschrift "Beratervertrag" (Anlage K 1). Danach sollte die Klägerin als "Expertin für Performance Marketing" (Optimierung von Webseiten) die Beklagte, ein "Legal Tech - Start-Up", im Zeitraum vom 1. Februar 2018 bis zum 31. Juli 2020 im "Umfang von in Summe 96 Arbeitstagen" auf dem Themenfeld "Marketing" unterstützen. Die zum jeweiligen Monatsende fällige Vergütung betrug 1.500 € pro Tag.
Rz. 3
Unter dem 20. November 2018 stellte die Klägerin der Beklagten für Leistungen im Zeitraum vom 8. Dezember 2017 bis 4. Oktober 2018 einen Betrag von 51.000 € netto (60.690 € brutto) in Rechnung. Die Rechnung besteht aus 58 Positionen zu jeweils vier oder acht Stunden. Bei 54 Positionen wird die jeweilige Leistung lediglich mit der Bezeichnung "Beratung" beschrieben.
Rz. 4
Nachdem sich die Zusammenarbeit der Parteien verschlechtert hatte, kündigte die Klägerin den Vertrag am 24. Januar 2019 und erstellte unter dem 28. Januar 2019 über weitere Leistungen eine Rechnung über 21.000 € netto (24.990 € brutto), wobei diese insgesamt 26 Positionen zu einem ganzen Tag beziehungsweise einem halben Tag umfasst.
Rz. 5
Das Landgericht hat die Beklagte unter Klageabweisung im Übrigen zur Zahlung von 66.187,50 € nebst Zinsen an die Klägerin verurteilt. Es hat die Vergütung mit pro Tag 1.500 € und nicht, wie von der Klägerin abgerechnet, mit pro Tag 1.500 € zuzüglich Umsatzsteuer als vereinbart angesehen. Des Weiteren hat es alle Positionen für vor dem 1. Februar 2018 erbrachte Leistungen sowie sieben Positionen, welche die Beklagte konkret beanstandet hat, vom von der Klägerin geltend gemachten Anspruch abgesetzt. Das Bestreiten der anderen von der Klägerin angeführten Rechnungspositionen durch die Beklagte mit Nichtwissen (§ 138 Abs. 4 ZPO) hat es als unzulässig und insoweit das Vorbringen der Klägerin als zugestanden angesehen.
Rz. 6
Das Berufungsgericht hat mit Vorsitzendenverfügung vom 20. Juli 2022 die Parteien auf Folgendes hingewiesen:
"Die Klägerin verlangt ihre vertraglich vereinbarte Vergütung für in den Rechnungen vom 20.11.2018 und vom 28.01.2019 angeführte Leistungen. Die Beklagte hat die Leistungen bestritten; zu einzelnen Tagen hat sie konkrete Beanstandungen vorgebracht (Anlage B 1), im Übrigen die Leistungserbringung mit Nichtwissen bestritten. Es ist in der Tat zweifelhaft, ob die Klägerin insbesondere hinsichtlich der unter dem 20.11.2018 abgerechneten 'Beratungen' hinreichend vorgetragen hat. Sie hat kein einziges Detail dargelegt, weder Ort, noch Zeit, noch Gegenstand, noch Person bei der Beklagten, der gegenüber die 'Beratung' erfolgt sein soll. Andererseits ist aber auch fraglich, ob die Beklagte die Leistungen mit Nichtwissen bestreiten darf nach § 138 Abs. 4 ZPO. Denn es könnte ihr zumutbar sein zu prüfen, ob sie oder in ihrem Verantwortungsbereich tätige Personen an den abgerechneten Tagen eine 'Beratung' der Klägerin erhalten haben. Ihr Bestreiten beruht aber nicht auf einer solchen Prüfung, sondern auf der Annahme, wegen der in Anlage B 1 aufgeführten Beanstandungen seien auch die übrigen abgerechneten Tage infrage zu stellen. Die Klägerin hat außerdem in der Klageschrift und unbestritten vorgetragen, sie habe der Beklagten mit E-Mail vom 28.01.2019 eine Excelliste mit weiteren Details ihrer Leistungen zukommen lassen. Was sich genau aus dieser Liste ergeben soll, ist allerdings nicht dargelegt worden.
Den Parteien wird vorgeschlagen, den Rechtsstreit durch einen Vergleich beizulegen. …
Um Stellungnahme binnen drei Wochen wird gebeten. Wegen des zeitnahen Verhandlungstermins wird gebeten, von einem Antrag auf Fristverlängerung abzusehen."
Rz. 7
Mit Schriftsatz vom 17. August 2022 hat die Klägerin "zur Detaillierung der Klageforderung" erstmals die Anlage K 6 vorgelegt, mit der die ihrem Vortrag zufolge erbrachten Leistungen konkretisiert wurden, und darauf hingewiesen, dass diese Liste der Gegenseite bereits vor dem Verfahren vorgelegen und sie "dennoch bis heute die angeblichen Leistungsmängel nicht konkretisiert" habe.
Rz. 8
Mit Schriftsatz vom 19. August 2022 hat die Beklagte erstmals die abgerechneten Leistungen der Klägerin detailliert bestritten und außerdem ausgeführt, es sei überraschend, dass die Klägerin "diese Liste jetzt (nach teilweise über fünf Jahren!) noch vorzulegen … vermag".
Rz. 9
In der mündlichen Verhandlung am 24. August 2022 hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin erklärt, dass die Anlage K 6 mit der Rechnung vom 28. Januar 2019 übersandt worden sei; der Prozessbevollmächtigte der Beklagten hat erklärt, dass nach Erinnerung des Geschäftsführers der Beklagten diese Aufstellung der Rechnung nicht beigefügt gewesen sei, und dieser hat - persönlich angehört - bekundet, sich nicht erinnern zu können, wann er die "Aufstellung K 6" zum ersten Mal gesehen habe.
Rz. 10
Die Berufung der Beklagten hat nur in geringfügigem Umfang Erfolg gehabt; in der Hauptsache hat das Berufungsgericht den Verurteilungsbetrag auf 63.468,75 € herabgesetzt. Die Revision hat das Berufungsgericht nicht zugelassen. Dagegen wendet sich die Beklagte mit der Nichtzulassungsbeschwerde; sie rügt eine mehrfache Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör. Sie verfolgt ihren Antrag, die Klage insgesamt abzuweisen, weiter.
II.
Rz. 11
Das Berufungsgericht hat, soweit es zu Ungunsten der Beklagten erkannt hat, im Wesentlichen ausgeführt:
Rz. 12
Die Klage sei ganz überwiegend begründet. Der Klägerin stehe der geltend gemachte Entgeltanspruch gegen die Beklagte aus dem Beratervertrag vom 12. April 2018 in Verbindung mit § 611 Abs. 1 BGB dem Grunde nach zu.
Rz. 13
Die Klägerin habe die Entstehung der abgerechneten Vergütung für Beratungsleistungen hinreichend dargelegt. Hinsichtlich der noch im Streit stehenden Positionen seien die Beschreibungen der abgerechneten Leistungen in der Rechnung vom 28. Januar 2019 sowohl in zeitlicher als auch in sachlicher Hinsicht eindeutig und machten für die Beklagte deutlich, für welche Tätigkeit die Klägerin die nach dem Beratervertrag vereinbarte Vergütung beanspruche. Die Rechnung vom 20. November 2018 sei hinsichtlich des Zeitraums und des Umfangs der erbrachten Leistungen ebenfalls hinreichend konkret. Hinsichtlich des Inhalts der abgerechneten Leistung sei die schlagwortartige Bezeichnung mit "Beratung" zwar recht pauschal. Gleichwohl ermöglichten auch diese Angaben der Beklagten, jedenfalls im Ansatz festzustellen, ob eine Leistung der Klägerin an dem jeweils bezeichneten Tag erfolgt sei. Denn alle Leistungen seien an die Beklagte erbracht worden. Dies gelte für die Beratungsleistungen in Zusammenarbeit mit Mitarbeitern der Beklagten, zum Beispiel in Gestalt der Workshops, ohne Weiteres, für die weiteren Positionen, die Anpassungen in den Online-Marketing-Tools beinhaltet hätten und daher von der Klägerin ohne eine konkrete Zusammenarbeit mit Mitarbeitern der Beklagten erfolgt seien, gelte dies infolge der digitalen Dokumentation der an den digitalen Einrichtungen der Beklagten vorgenommenen Änderungen, die für sie zugänglich und daher nachvollziehbar sein müssten.
Rz. 14
Hingegen sei das Bestreiten der Leistungserbringung durch die Beklagte prozessual ungenügend. Die Beklagte habe die abgerechneten Leistungen, derentwegen sie in erster Instanz verurteilt worden sei, mit Nichtwissen bestritten. Eine Erklärung mit Nichtwissen sei gemäß § 138 Abs. 4 ZPO nur über Tatsachen zulässig, die weder eigene Handlungen der Partei noch Gegenstand ihrer eigenen Wahrnehmung gewesen seien. Die Beklagte habe selbst nicht behauptet, dass sie keine Kenntnis von der Tätigkeit der Klägerin erlangt habe, sie habe lediglich aus den einzelnen geprüften Tagen gefolgert, dass auch die anderen Leistungen falsch abgerechnet sein müssten. Diese Zweifel genügten prozessual nicht den Anforderungen des § 138 Abs. 4 ZPO. Die Beklagte habe auch keine Gründe aufzeigen können, warum ihr eine Prüfung der abgerechneten Leistungen hinsichtlich der bemängelten Positionen möglich und für die übrigen Positionen unmöglich gewesen sein sollte. Das Bestreiten durch die Beklagte sei umso weniger ausreichend, als sie sich jedenfalls prozessual so behandeln lassen müsse, als wenn ihr die Aufstellung der Klägerin in der Anlage K 6 vorgerichtlich bekannt gewesen sei. Die Klägerin habe bereits in der Klageschrift unerwidert vorgetragen, sie habe der Beklagten mit der Rechnung vom 28. Januar 2019 die im Berufungsverfahren als Anlage K 6 eingereichte Übersicht mit weiteren Details über die erbrachten Leistungen übersandt. Dies habe die Beklagte erstinstanzlich nicht bestritten, im Berufungsverfahren habe ihr Geschäftsführer erklärt, er wisse nicht mehr, wann er diese Übersicht erstmals gesehen habe. Sofern hierin ein Bestreiten der vorgerichtlichen Kenntnis von der Übersicht liegen sollte, wäre es im Berufungsverfahren jedenfalls nicht zuzulassen, da kein Grund für die Zulassung dieses neuen Verteidigungsmittels gemäß § 531 Abs. 2 ZPO vorgetragen oder sonst ersichtlich wäre. Wenn der Beklagten aber die Übersicht mit den weiteren Details insbesondere hinsichtlich der Rechnung vom 20. November 2018 vorgerichtlich bekannt gewesen sei, wäre ein Vortrag, der über ein Bestreiten mit Nichtwissen hinausgehe, tatsächlich unschwer möglich und prozessual auch gemäß § 138 Abs. 2 ZPO erforderlich gewesen.
Rz. 15
Das erstmals im Berufungsverfahren mit Schriftsatz vom 19. August 2022 erfolgte detaillierte Bestreiten der abgerechneten Leistungen seitens der Beklagten sei als neues Verteidigungsmittel in der Berufungsinstanz gemäß § 531 Abs. 2 ZPO unbeachtlich. Ob ein in zweiter Instanz konkretisiertes Vorbringen neu sei, hänge davon ab, wie allgemein es in erster Instanz gehalten worden sei. Wenn es einen sehr allgemein gehaltenen Vortrag der ersten Instanz konkretisiere oder erstmals substantiiere, sei es neu, nicht aber dann, wenn ein bereits schlüssiges Vorbringen aus der ersten Instanz durch weitere Tatsachenbehauptungen zusätzlich konkretisiert, verdeutlicht oder erläutert werde. Die Beklagte habe erstinstanzlich die Leistungserbringung durch die Klägerin - soweit Gegenstand des Berufungsverfahrens - ganz allgemein mit Nichtwissen bestritten, der im Berufungsverfahren erfolgte Vortrag, der sich mit den einzelnen Tagen und Leistungsbeschreibungen auseinandersetze, gehe über eine Verdeutlichung oder Erläuterung deutlich hinaus. Ein Zulassungsgrund nach § 531 Abs. 2 ZPO für dieses neue Bestreiten sei weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Jedenfalls habe die Zulassung gemäß den §§ 530, 296 Abs. 1 ZPO zu unterbleiben, da die Beklagte diese Tatsachen bereits innerhalb der Berufungsbegründungsfrist hätte vortragen müssen und die Zulassung des erst kurz vor der mündlichen Verhandlung erfolgten Vorbringens zu einer Verzögerung des Rechtsstreits geführt hätte und die Beklagte die Verspätung auch nicht genügend entschuldigt habe.
III.
Rz. 16
Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils, soweit darin zum Nachteil der Beklagten erkannt worden ist, und in diesem Umfang zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht.
Rz. 17
Das Berufungsgericht hat den Anspruch der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise dadurch verletzt, dass es ihr erstmals im Berufungsverfahren erfolgtes detailliertes Bestreiten der von der Klägerin abgerechneten Leistungen zu Unrecht nach § 531 Abs. 2, §§ 530, 296 Abs. 1 ZPO nicht zugelassen hat, obgleich deren entsprechender (Gegen-)Vortrag seinerseits - nach einem Hinweis des Gerichts - erst in der Berufungsinstanz weiter konkretisiert worden war.
Rz. 18
1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (zB Senat, Urteil vom 13. April 2023 - III ZR 17/22, juris Rn. 32; BGH, Urteile vom 21. Dezember 2004 - XI ZR 17/03, juris Rn. 11 und vom 9. Oktober 2009 - V ZR 178/08, NJW 2010, 363 Rn. 25; Beschlüsse vom 29. Mai 2018 - VI ZR 370/17, NJW 2018, 3652 Rn. 15 und vom 10. Dezember 2019 - VIII ZR 377/18, NJW-RR 2020, 284 Rn. 14) darf eine in erster Instanz siegreiche Partei - hier die Klägerin - darauf vertrauen, dass das Berufungsgericht ihr rechtzeitig einen Hinweis erteilt, wenn es in einem entscheidungserheblichen Punkt der Beurteilung der Vorinstanz nicht folgen will und aufgrund seiner abweichenden Ansicht eine Ergänzung des Vorbringens oder einen Beweisantritt für erforderlich hält. Außer zur Hinweiserteilung ist das Berufungsgericht in einem solchen Fall auch verpflichtet, der betroffenen Partei Gelegenheit zu geben, auf den Hinweis zu reagieren und ihren Tatsachenvortrag zu ergänzen sowie gegebenenfalls auch Beweis anzutreten. Schon zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) ist neues Vorbringen des Berufungsbeklagten, das auf einen solchen Hinweis des Berufungsgerichts erfolgt ist und den Prozessverlust wegen einer von der ersten Instanz abweichenden rechtlichen oder tatsächlichen Beurteilung durch das Berufungsgericht vermeiden soll, zuzulassen, ohne dass es darauf ankommt, ob es schon in erster Instanz hätte vorgebracht werden können. Die Hinweispflicht des Berufungsgerichts und die Berücksichtigung neuen Vorbringens gehören insoweit zusammen, woran auch die Vorschrift des § 531 Abs. 2 Satz 1 ZPO, die die Zulässigkeit neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel in der Berufungsinstanz einschränkt, nichts geändert hat (zB BGH, Urteil vom 9. Oktober 2009 aaO Rn. 26; Beschluss vom 29. Mai 2018 aaO; BVerfG, [Kammer-]Beschluss vom 7. Oktober 2016 - 2 BvR 1313/16, juris Rn. 11).
Rz. 19
Das Gericht darf allerdings nur solche Tatsachen und Beweise verwerten, zu denen die Beteiligten Stellung nehmen konnten (zB BGH, Beschluss vom 20. September 2011 - VI ZR 5/11, NJW-RR 2011, 1558 Rn. 5; BVerfG, NJW 1994, 1210). Ist in einem nach Erteilung eines richterlichen Hinweises eingegangenen Schriftsatz des Berufungsbeklagten neuer entscheidungserheblicher Prozessstoff, etwa ein neues entscheidungserhebliches Angriffs- oder Verteidigungsmittel, enthalten, ist der Schriftsatz dem Berufungskläger mitzuteilen und ihm ebenfalls rechtliches Gehör zu gewähren (vgl. BGH aaO; Greger in Zöller, ZPO, 34. Aufl., § 139 Rn. 14b; von Selle in BeckOK ZPO [1. Juli 2023], § 139 Rn. 50). Tritt dieser dem neuen Angriffs- oder Verteidigungsmittel des Berufungsbeklagten entgegen, ist sein Vorbringen gleichfalls zu berücksichtigen.
Rz. 20
2. Diesen Anforderungen ist das Berufungsgericht nicht in vollem Umfang gerecht geworden.
Rz. 21
Das Berufungsgericht hat, nachdem bei ihm gut einen Monat vor dem Verhandlungstermin Bedenken aufgekommen waren, ob die - in erster Instanz überwiegend siegreiche - Klägerin die Höhe der von ihr geltend gemachten Vergütungsansprüche schlüssig und nachprüfbar dargetan habe und insoweit dem Urteil des Landgerichts zu folgen sei, den Parteien unter dem 20. Juli 2022 nach § 139 ZPO den Hinweis erteilt, dass es Zweifel habe, ob die Klägerin insbesondere hinsichtlich der unter dem 20. November 2018 abgerechneten "Beratungen" hinreichend vorgetragen habe, weil sie kein einziges Detail dargelegt habe (weder Ort, noch Zeit, noch Gegenstand, noch Person bei der Beklagten, der gegenüber die jeweilige "Beratung" erfolgt sein solle). Des Weiteren hat es in dem Hinweis ausgeführt, die Klägerin habe außerdem in der Klageschrift und unbestritten vorgetragen, der Beklagten mit E-Mail vom 28. Januar 2019 eine Excelliste mit weiteren Details ihrer Leistungen übermittelt zu haben, allerdings sei nicht dargelegt worden, was sich genau aus dieser Liste ergeben solle.
Rz. 22
Daraufhin hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 17. August 2022 "zur Detaillierung der Klageforderung" die Excelliste als Anlage K 6 erstmals im Prozess vorgelegt und das Berufungsgericht hat sie alsdann in seinem Urteil auch inhaltlich zugunsten der Klägerin verwertet, um zu begründen, dass in Anbetracht der in der Liste enthaltenen weiteren Details ein Bestreiten mit Nichtwissen durch die Beklagte umso weniger ausreichend sei. Das ist revisions- beziehungsweise zulassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Rz. 23
Den Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt es jedoch, dass das Berufungsgericht das mit Schriftsatz vom 19. August 2022 "erfolgte detaillierte Bestreiten" des Inhalts dieser Liste für prozessual unbeachtlich erklärt hat. Zwar ist dieser Sachvortrag erstmals im Berufungsrechtszug gehalten worden. Konkret veranlasst worden ist der neue Vortrag jedoch durch den - durch Bedenken gegen die Rechtsauffassung des Landgerichts motivierten - Hinweis des Berufungsgerichts vom 20. Juli 2022 und die sich daran anschließende erstmalige Vorlage der Liste im Prozess mit Schriftsatz der Klägerin vom 17. August 2022. Aus besonderen in der Verfahrensordnung angelegten Gründen - § 531 ZPO - durfte der neue Vortrag daher nicht unberücksichtigt bleiben (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Mai 2010 - VIII ZR 301/08, juris Rn. 11). Auch für eine Zurückweisung nach den §§ 530, 296 Abs. 1 ZPO ist kein Raum, wobei dahinstehen kann, ob die Klägerin die Liste schon vorprozessual mit E-Mail vom 28. Januar 2019 der Beklagten hatte zukommen lassen oder nicht. Zwar hat die Klägerin diesen Umstand in der Klageschrift erwähnt. Da jedoch die Liste in erster Instanz nicht als Anlage vorgelegen hat und auch von der Klägerin nicht dargelegt worden war, welchen Inhalt die Liste hat und was "sich genau aus dieser Liste ergeben soll", die Liste zudem für das Landgericht ersichtlich ohne Bedeutung gewesen ist und auch das Berufungsgericht erst nach Ablauf der Frist zur Begründung der Berufung zu erkennen gegeben hat, dass es der Liste potentiell entscheidungserhebliche Bedeutung beimesse, ist die Beklagte nicht gehalten gewesen, sich bereits innerhalb der Berufungsbegründungsfrist mit dem Inhalt der Liste zu befassen.
Rz. 24
3. Der Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG ist entscheidungserheblich. Hätte das Berufungsgericht das mit Schriftsatz der Beklagten vom 19. August 2022 erfolgte Bestreiten nicht als präkludiert angesehen, sondern sich damit inhaltlich auseinandergesetzt, ist nicht auszuschließen, dass es die von der Klägerin behaupteten Tätigkeiten nicht oder zumindest nicht vollständig als erwiesen und infolgedessen die Klage im Ganzen oder jedenfalls in einem weiteren Umfang als das Landgericht als unbegründet angesehen hätte.
Herrmann |
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Reiter |
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Kessen |
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Herr |
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Liepin |
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Fundstellen
Haufe-Index 16143020 |
NJW 2024, 9 |
NJW-RR 2024, 199 |
FA 2024, 56 |
IBR 2024, 103 |
AnwBl 2024, 145 |
JZ 2024, 51 |
ErbR 2024, 239 |
Mitt. 2024, 152 |
r+s 2024, 425 |