Verfahrensgang
LG Wiesbaden (Entscheidung vom 08.12.2021; Aktenzeichen 4 T 43/21) |
AG Wiesbaden (Entscheidung vom 11.02.2021; Aktenzeichen 710 XIV 59/21 B) |
Tenor
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 4. Zivilkammer des Landgerichts Wiesbaden vom 8. Dezember 2021 wird auf Kosten des Betroffenen zurückgewiesen.
Der Antrag auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe wird zurückgewiesen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.
Gründe
Rz. 1
Der Betroffene, ein türkischer Staatsangehöriger, ist in Deutschland geboren. Nachdem er mehrfach zu Freiheitsstrafen verurteilt wurde, wurde er rechtskräftig für die Dauer von fünf Jahren aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen und es wurde ihm die Abschiebung in die Türkei angedroht. Der Betroffene reiste nicht aus und teilte anlässlich einer Belehrung über seine passrechtlichen Pflichten und die Anzeigepflicht nach § 50 Abs. 4 AufenthG mit, dass er nicht freiwillig ausreisen werde. Nachdem er 2019 und 2020 mit Unterbrechungen unbekannten Aufenthalts war, wurde er am 11. Februar 2021 festgenommen.
Rz. 2
Am gleichen Tag hat das Amtsgericht W. Ausreisegewahrsam bis zur Abschiebung in der 7. Kalenderwoche 2021, längstens bis zum 20. Februar 2021 angeordnet. Der Betroffene hat am 15. Februar 2021 Beschwerde eingelegt, der das Amtsgericht nicht abgeholfen hat. Nachdem die in der Nacht vom 15. auf den 16. Februar 2021 geplante Rückführung des Betroffenen nicht durchgeführt werden konnte, hat das Amtsgericht D. am 16. Februar 2021 Abschiebungshaft bis zum 5. März 2021 angeordnet. Am 2. März 2021 wurde der Betroffene abgeschoben.
Rz. 3
Das Landgericht hat die gegen den Beschluss vom 11. Februar 2021 gerichtete Beschwerde zurückgewiesen. Dagegen wendet sich die Rechtsbeschwerde mit dem Ziel, die Rechtswidrigkeit des Ausreisegewahrsams festzustellen.
Rz. 4
I. Die Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg.
Rz. 5
1. Das Beschwerdegericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, das Amtsgericht habe zu Recht Ausreisegewahrsam gemäß §§ 58, 62b Abs. 1 AufenthG angeordnet. Der Betroffene sei vollziehbar ausreisepflichtig und die Ausreisefrist sei seit langem abgelaufen gewesen. Der beteiligten Behörde habe der Reisepass des Betroffenen vorgelegen und der Flug sei für den 15. Februar 2021 gebucht worden. Der Betroffene habe zuvor ein Verhalten gezeigt, das habe erwarten lassen, dass er die Abschiebung erschweren oder vereiteln werde. Bei der gebotenen Ermessensausübung habe das Amtsgericht dem öffentlichen Interesse an der Sicherung der Durchführung der Abschiebung gegenüber dem Freiheitsrecht des Betroffenen rechtsfehlerfrei Vorrang eingeräumt. Die Dauer des Ausreisegewahrsams sei verhältnismäßig gewesen. Ausweislich des von der beteiligten Behörde vorgelegten Schreibens der Bundespolizei vom 15. Februar 2021 sei die geplante Rückführung deshalb gescheitert, weil die türkische Luftverkehrsbehörde bis gegen 18:00 Uhr an diesem Tag die erforderliche Genehmigung nicht erteilt habe. Ab dem 16. Februar 2021 sei Sicherungshaft vollzogen worden, so dass sich der Ausreisegewahrsam erledigt habe. Eine andere Beurteilung sei nicht deshalb gerechtfertigt, weil die Akte der Bundespolizei von der beteiligten Behörde nur in Auszügen zur Verfügung gestellt worden sei. Die Bundespolizei habe ausgeführt, dass die Übersendung ihrer Akte nicht erfolgen könne, weil es sich um eine Verschlusssache handele. Die Kenntnisnahme durch Dritte gefährde in erheblichem Ausmaß künftig geplante Rückführungsmaßnahmen und setze die namentlich genannten Mitarbeiter sowie deren Familien erheblichen Risiken aus.
Rz. 6
2. Die gemäß § 70 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 3 FamFG statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde ist nicht begründet.
Rz. 7
a) Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde liegt ein zulässiger Haftantrag vor.
Rz. 8
aa) Ein zulässiger Haftantrag der beteiligten Behörde ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung. Zulässig ist der Haftantrag nur, wenn er den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung entspricht. Erforderlich sind Darlegungen zur zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungs- oder Überstellungsvoraussetzungen, zur Erforderlichkeit der Haft, zur Durchführbarkeit der Abschiebung und zur notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG). Zwar dürfen die Ausführungen zur Begründung des Haftantrags knapp gehalten sein; sie müssen aber die für die richterliche Prüfung wesentlichen Punkte ansprechen. Sind diese Anforderungen nicht erfüllt, darf die beantragte Sicherungshaft oder - wie hier - der beantragte Ausreisegewahrsam nicht angeordnet werden (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 15. September 2011 - V ZB 123/11, InfAuslR 2012, 25 Rn. 8; vom 12. November 2019 - XIII ZB 5/19, InfAuslR 2020, 165 Rn. 8; vom 14. Juli 2020 - XIII ZB 74/19, juris Rn. 7).
Rz. 9
bb) Nach diesen Maßstäben enthält der Haftantrag ausreichende Darlegungen zur Erforderlichkeit der Haftdauer und zur Durchführbarkeit der Abschiebung.
Rz. 10
(1) Darin führt die beteiligte Behörde aus, die Festnahme sei für den 11. Februar 2021 (Donnerstag) geplant, da die Abschiebung in der darauffolgenden 7. Kalenderwoche erfolgen solle. Auf die Angabe des genauen Flugdatums werde wegen der Regelung des § 97a AufenthG vorerst verzichtet. Der Pass des Betroffenen liege der beteiligten Behörde vor, ein Flug sei verbindlich zugesagt. Innerhalb der beantragten Haftdauer werde ein PCR-Abstrich genommen, der für die Rückführung in die Türkei zwingend vorgeschrieben sei. Die Dauer des Gewahrsams sei erforderlich, um die weiteren Voraussetzungen für die Durchführung der Abschiebung vorzubereiten.
Rz. 11
(2) Aus diesen Angaben ergibt sich in ausreichendem Maße die Erforderlichkeit der Haftdauer. Diese war auch pandemiebedingt geboten. Schon zur rechtzeitigen Durchführung des erforderlichen PCR-Tests wurde ein zeitlicher Vorlauf benötigt. Hinzu trat der für die Transporte des Betroffenen zur Anhörung und zum Flughafen erforderliche Zeitaufwand. Die Festnahme erfolgte entgegen den Behauptungen der Rechtsbeschwerde nach den Feststellungen im amtsgerichtlichen Beschluss wie geplant am 11. Februar 2021 und nicht bereits am 9. Februar 2021. Hinzu tritt, dass die Höchstdauer des Ausreisegewahrsams nur zehn Tage beträgt und ein zeitlicher Puffer für allfällige Verzögerungen zulässig ist (vgl. BGH, Beschluss vom 22. März 2022 - XIII ZB 17/20, juris Rn. 20 mwN).
Rz. 12
b) Auch der von der Rechtsbeschwerde gerügte Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz ist nicht gegeben.
Rz. 13
aa) Das Beschleunigungsgebot bei Freiheitsentziehungen schließt zwar einen organisatorischen Spielraum der Behörde bei der Umsetzung der Abschiebung nicht aus, verlangt aber, dass die Behörde die Abschiebung ohne unnötige Verzögerung betreibt und die Dauer der Sicherungshaft auf das unbedingt erforderliche Maß beschränkt wird. Ein Verstoß gegen dieses Gebot führt dazu, dass die Haft aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht weiter aufrechterhalten werden darf (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2022 - XIII ZB 116/19, juris Rn. 11 mwN).
Rz. 14
bb) Ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot ist weder dargelegt noch ersichtlich.
Rz. 15
(1) Entgegen der Behauptung der Rechtsbeschwerde ergibt sich bereits aus einem in der Ausländerakte enthaltenen E-Mail Schreiben vom 4. Februar 2021, dass am 16. Februar 2021 ein entsprechender Flug über Leipzig in die Türkei geplant war, die Abschiebung des Betroffenen von der Gemeinsamen Arbeitsgruppe Intensivtäter der beteiligten Behörde mit erheblichem Aufwand vorbereitet und mit dem Ziel der schnellstmöglichen Abschiebung betrieben wurde. Dass die Abschiebung des Betroffenen in der Nacht vom 15. auf den 16. Februar 2021 durchgeführt werden sollte, ergibt sich ferner auch aus dem von der beteiligten Behörde vorgelegten Schreiben der Bundespolizei vom 15. Februar 2021 an das Hessische Ministerium des Innern und Sport. Danach musste die Rückführungsmaßnahme um 18.00 Uhr abgebrochen werden. Zwar sei eine kurzfristige Terminierung, die sich an den vorgegebenen Flugkorridoren der Luftverkehrsbehörde des Ziellandes orientiere, in der Regel unproblematisch. Im vorliegenden Fall sei aber die notwendige Genehmigung nicht rechtzeitig erteilt worden.
Rz. 16
(2) Auf dieser Grundlage hat sich das Beschwerdegericht rechtsfehlerfrei davon überzeugt, dass die Abschiebung von der beteiligten Behörde für den 15./16. Februar 2021 geplant war und kurzfristig am 15. Februar 2021 gescheitert ist. Das stellt auch die Rechtsbeschwerde nicht in Abrede. Sie meint aber, die beteiligte Behörde müsse im Einzelnen darlegen, wann welche Maßnahmen ergriffen worden seien. Das Fehlen der erforderlichen Genehmigung könne auch daraus resultieren, dass sie nicht rechtzeitig beantragt worden sei.
Rz. 17
(3) Darauf kommt es hier indes aus mehreren Gründen nicht an.
Rz. 18
(a) Es ist lediglich der Haftzeitraum vom 11. bis 15. Februar 2021 betroffen, weil der Betroffene ab dem 16. Februar 2021 aufgrund des hier nicht streitgegenständlichen Beschlusses des Amtsgerichts D. in Haft war. Selbst einen Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz unterstellt, hätte sich dieser frühestens ab dem Scheitern der Maßnahme am 16. Februar 2021 auswirken können (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Oktober 2020 - XIII ZB 21/20, juris Rn. 20 ff.). Eine weitere Aufklärung der innerdienstlichen Abläufe bei der Bundespolizei, die Beiziehung der dortigen Akte und die Gewährung von Akteneinsicht auch in diese Akte war daher nicht erforderlich.
Rz. 19
(b) Zudem steht der Behörde bei der Umsetzung der Abschiebung ein organisatorischer Spielraum zu. Sie ist daher berechtigt, aus sachlichen Gründen Planungsänderungen vorzunehmen (BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2022 - XIII ZB 116/19, juris Rn. 14), sofern sie die Abschiebung - wie erforderlich - ohne unnötige Verzögerung betreibt. Sofern das - wie hier - der Fall ist, ist das Haftgericht gemäß § 26 FamFG nicht verpflichtet, die innerdienstlichen Abläufe minutiös aufzuklären und sich etwa mit der den organisatorischen Spielraum der Behörde betreffenden Frage auseinanderzusetzen, ob eine luftverkehrsrechtliche Genehmigung hätte früher beantragt werden können und ob dies hypothetisch dazu geführt hätte, dass die von den ausländischen Luftverkehrsbehörden zu erteilende Genehmigung erteilt worden wäre.
Rz. 20
(c) Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde ist vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen auch die tatrichterliche Ermessensausübung nicht zu beanstanden. Das Beschwerdegericht hat dazu ausgeführt, das Amtsgericht habe dem öffentlichen Interesse an der Sicherung der Durchführung der Abschiebung gegenüber dem Freiheitsrecht des Betroffenen rechtsfehlerfrei Vorrang eingeräumt. Das ist insbesondere im Hinblick auf den Umstand, dass der Betroffene in erheblichem Maße straffällig geworden war, nicht zu beanstanden, zumal Ausreisegewahrsam von der beteiligten Behörde bereits als milderes Mittel gegenüber der Abschiebungshaft beantragt worden war.
Rz. 21
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.
Rz. 22
4. Mangels Erfolgsaussicht der Rechtsbeschwerde war Verfahrenskostenhilfe nicht zu bewilligen.
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Fundstellen
Dokument-Index HI15642112 |