Leitsatz (amtlich)
„Führt” der Unternehmer (hier: Stadt als Träger einer Förderschule) den Versicherungsfall auf einem Weg „herbei”, den der Versicherte (hier: Schüler der Förderschule) im Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit nach und von dem Ort der Tätigkeit zurücklegt, so ist er gem. § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII nicht zum Ersatz des Personenschadens verpflichtet, wenn die Beförderung des Versicherten in den Betrieb eingegliedert war.
Die Entsperrung der Haftungsbeschränkung gem. § 104 Abs. 1 Satz 1 letzter Halbsatz zweite Alternative SGB VII greift bei einem Unfall auf einem solchen Betriebsweg nicht ein.
Normenkette
SGB VII § 104 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des 6. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Dresden vom 12. Januar 2000 wird zurückgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten des Revisionsrechtszuges zu tragen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Der geistig und körperlich behinderte Kläger besuchte die von der beklagten Stadt getragene Förderschule in H. Dort war er während der Schulzeit auch untergebracht. Die Beklagte hatte für den Transport der in D. ansässigen Schüler, zu denen der Kläger gehörte, einen Fahrdienst eingerichtet. Die Schüler wurden montags mit einem Kleinbus der Beklagten, der von einem bei ihr angestellten Fahrer geführt wurde, von einem Treffpunkt in D. nach H. gefahren und freitags wieder zurückgebracht. Bei der Rückfahrt am 20. Juni 1997 geriet der Kleinbus auf die andere Fahrbahnseite und stieß mit einem entgegenkommenden LKW zusammen. Der Kläger erlitt bei dem Unfall eine Schädelprellung sowie eine Kontusion des linken Oberarmes.
Wegen dieser Verletzungen und behaupteter psychischer Folgeschäden fordert der Kläger von der Beklagten ein Schmerzensgeld. Die Beklagte müsse nach den Grundsätzen der Amtshaftung dafür einstehen, daß der Fahrer des Kleinbusses den Unfall schuldhaft herbeigeführt habe.
Landgericht und Berufungsgericht haben die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Zahlungsbegehren weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
I.
Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im wesentlichen wie folgt begründet:
Ein Fall der Amtshaftung (§ 839 BGB, Art. 34 GG) liege vor. Der Fahrer des Kleinbusses, der bei dem Transport der Schüler in Ausübung eines öffentlichen Amtes gehandelt habe, habe gegenüber dem Kläger bestehende Amtspflichten verletzt. Er habe den Verkehrsunfall und damit die vom Kläger erlittenen Verletzungen schuldhaft verursacht.
Zugunsten der Beklagten greife aber die in § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII geregelte Haftungsbeschränkung ein. Der Unfall habe sich bei einem in den Schulbetrieb eingegliederten Schülertransport ereignet, so daß die Beklagte nicht zum Ersatz des Personenschadens verpflichtet sei.
II.
Das Berufungsurteil hält der rechtlichen Prüfung stand.
1. Im Revisionsverfahren ist außer Streit, daß die in § 839 BGB, Art. 34 GG niedergelegten Voraussetzungen für einen Amtshaftungsanspruch des Klägers gegen die Beklagte erfüllt sind. Dagegen ist von Rechts wegen nichts zu erinnern.
2. Aufgrund der Amtshaftung ist die Beklagte allerdings nicht verpflichtet, an den Kläger ein Schmerzensgeld zu zahlen. Denn zu ihren Gunsten gilt die Haftungsbeschränkung des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII. Danach sind Unternehmer den Versicherten, die für ihre Unternehmen tätig sind oder zu ihren Unternehmen in einer sonstigen die Versicherung begründenden Beziehung stehen, nach anderen gesetzlichen Vorschriften zum Ersatz des Personenschadens, den ein Versicherungsfall verursacht hat, nur verpflichtet, wenn sie den Versicherungsfall vorsätzlich oder auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 SGB VII versicherten Weg herbeigeführt haben.
a) Die Beklagte ist als Träger der Förderschule „Unternehmer” (vgl. §§ 121 Abs. 1, 136 Abs. 3 Nr. 3 SGB VII) des Schulbetriebs gewesen. Der Kläger hat als Schüler der Förderschule gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 8 b SGB VII zu den gesetzlich Versicherten gehört, die „für” den Schulbetrieb „tätig sind oder zu (ihm) in einer sonstigen die Versicherung begründenden Beziehung stehen” (§ 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Die Parteien stellen im Ansatz auch nicht in Frage, daß der Kläger die Verletzungen bei einem von der Beklagten im Sinne des § 104 Abs. 1 Satz 1 letzter Halbsatz zweite Alternative SGB VII „herbeigeführten” Versicherungsfall (§ 7 Abs. 1 i.V.m. § 8 SGB VII) davongetragen hat.
Sind die Voraussetzungen der Haftungsablösung somit grundsätzlich erfüllt, so kommt eine Pflicht der Beklagten zum Ersatz von Personenschäden allein aufgrund der Ausnahme des § 104 Abs. 1 Satz 1 letzter Halbsatz SGB VII in Betracht, nämlich wenn sie den Versicherungsfall vorsätzlich oder auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 SGB VII versicherten Weg herbeigeführt hätte. Das ist jedoch zu verneinen.
b) Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ist der Verkehrsunfall nicht vorsätzlich herbeigeführt worden (§ 104 Abs. 1 Satz 1 letzter Halbsatz erste Alternative SGB VII). Die Beklagte hat den Versicherungsfall auch nicht „auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 versicherten Weg” herbeigeführt (§ 104 Abs. 1 Satz 1 letzter Halbsatz zweite Alternative SGB VII).
aa) Bei wörtlichem Verständnis des § 104 Abs. 1 Satz 1 letzter Halbsatz zweite Alternative i.V.m. § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 SGB VII liegt es nahe, daß der Unternehmer bei Unfällen, die der Versicherte beim Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit erleidet, stets unbeschränkt haftet. Indessen ist bei der Auslegung des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII davon auszugehen, daß der Gesetzgeber eine dem bis dahin geltenden Recht (§ 636 Abs. 1 Satz 1 RVO) entsprechende Regelung hat schaffen wollen (vgl. Begründung der Bundesregierung zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Einordnung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch ≪Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz – UVEG≫ BT-Drucks. 13/2204 S. 100). An die Stelle des gemäß § 636 Abs. 1 Satz 1 RVO maßgeblichen Abgrenzungsmerkmals, daß „der Arbeitsunfall bei der Teilnahme am allgemeinen Verkehr eingetreten ist,” trat die Entsperrung der Haftungsbeschränkung für den Fall, daß der Unfall auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 SGB VII versicherten Weg herbeigeführt worden ist (§ 104 Abs. 1 Satz 1 letzter Halbsatz zweite Alternative SGB VII). Die vom Unternehmer „herbeigeführten” Wegeunfälle nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 SGB VII sind von der Haftungsbeschränkung ausgenommen worden, weil die betrieblichen Risiken dort keine Rolle spielen und dem Versicherten unter diesen Voraussetzungen möglicherweise bestehende weitergehende Ansprüche nicht abgeschnitten werden sollten (vgl. Schmitt, SGB VII 1998 § 104 Rn. 18; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung 5. Aufl. ≪Stand August 2000≫ § 104 SGB VII Rn. 19 und 19.1; KassKomm-Ricke ≪Stand 30. April 2000≫ § 104 SGB VII Rn. 13). Folgerichtig umfaßt die Ausnahme von der Haftungsbeschränkung (§ 104 Abs. 1 Satz 1 letzter Halbsatz zweite Alternative i.V.m. § 8Abs. 2 Nr. 1 bis 4 SGB VII) andererseits nicht die Betriebswege, die Teil der den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit und damit bereits gemäß § 8Abs. 1 Satz 1 SGB VII versicherte Tätigkeit sind (vgl. Schmitt aaO; Bereiter-Hahn/Mehrtens aaO Rn. 19.2; Geigel/Kolb, Der Haftpflichtprozeß 22. Aufl. 1997 Kap. 31 Rn. 89; Kater/Leube, Gesetzliche Unfallversicherung SGB VII 1997 § 104 Rn. 40; Brackmann/Krasney, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. 3 Gesetzliche Unfallversicherung ≪Stand Juni 2000≫ § 104 Rn. 23).
Für die Unterscheidung, ob der Versicherungsfall bei einem – in die Haftungsbeschränkung des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII einbezogenen – Betriebsweg oder einem – von der Haftungsbeschränkung ausgenommenen – nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 SGB VII versicherten Weg eingetreten ist, kann hinsichtlich der Kriterien innerbetrieblicher Vorgänge die zu § 636 Abs. 1 Satz 1 RVO ergangene Rechtsprechung herangezogen werden (vgl. Hauck/Nehls, SGB VII ≪Stand 1. April 2000≫ § 104 Rn. 8 a.E.; Bereiter-Hahn/Mehrtens aaO Rn. 19.2; in diesem Sinne auch Wannagat/Waltermann, Sozialgesetzbuch ≪Stand Juni 1999≫ § 104 SGB VII Rn. 22; einschränkend Kater/Leube aaO und Brackmann/Krasney aaO: Auslegung nach genuin unfallversicherungsrechtlichen Grundsätzen). Denn es ging auch bei der Abgrenzung des innerbetrieblichen Vorgangs gegenüber der „Teilnahme am allgemeinen Verkehr” darum, ob sich ein betriebliches Risiko oder ein „normales” Risiko verwirklichte, das nach dem Willen des Gesetzgebers aus Gründen der Gleichbehandlung nicht zu einem Haftungsausschluß gegenüber dem Schädiger führen sollte (vgl. BGHZ 116, 30, 35).
bb) Der vom Kläger erlittene Unfall ist unter Berücksichtigung der vom Bundesgerichtshof zu § 636 Abs. 1 Satz 1 RVO bestimmten Abgrenzungskriterien als Unfall auf einem Betriebsweg – und damit nicht als Unfall auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 SGB VII versicherten Weg – einzuordnen.
Die Fahrt eines Schülers zur Schule und zurück ist – wie die Fahrt zur Arbeitsstelle oder zum auswärtigen Beschäftigungsort (vgl. hierzu BGHZ 116, 30, 34) – in der Regel Privatsache. Es handelt sich um gemäß § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII, im Fall der auswärtigen Unterbringung in der Schulungsstätte gemäß § 8 Abs. 2 Nr. 4 SGB VII (vgl. Schmitt aaO § 8 Rn. 219, 233; Kater/Leube aaO § 8 Rn. 228, 235), „auch” versicherte Tätigkeit. Hier gelten indes Besonderheiten. Das Berufungsgericht hat festgestellt, daß der Transport der Schüler von der Familienwohnung zur Förderschule (und zurück) in den Schulbetrieb eingegliedert gewesen ist. Die Förderschüler haben nicht die öffentlichen Verkehrsmittel benutzt. Sie sind jeweils montags mit einem nur für sie bestimmten Bus der Beklagten an einer Sammelstelle in D. abgeholt und – von einem bei der Beklagten angestellten Fahrer – zur Schule nach H. gefahren sowie am Freitag wieder zurückgebracht worden. Die Beförderung ist, ungeachtet des Umstandes, daß die Schüler während der Fahrt nicht betreut worden sind, integrierter Bestandteil der Organisation des Schulbetriebs gewesen.
Ein solcher Schülertransport ist – vergleichbar dem sogenannten Werksverkehr, bei dem der Unternehmer Betriebsangehörige laufend mit dem werkseigenen Fahrzeug zur Betriebsstätte bringen läßt (BGHZ 8, 330, 337 f; 19, 114, 119; 116, 30, 35) – als zu der versicherten Tätigkeit (§ 8Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Nr. 8 b SGB VII) zählender Betriebsweg zu beurteilen (vgl. Wannagat/Waltermann aaO; Waltermann BG 1997, 310, 315; ders. NJW 1997, 3401, 3402; Maschmann SGb 1998, 54, 57; Stern-Krieger/Arnau VersR 1997, 408, 410; Otto NZV 1996, 473, 478; a.A. Bereiter-Hahn/Mehrtens aaO Rn. 19.3; KassKomm-Ricke aaO; Hauk/Nehls aaO Rn. 30; Rolfs NJW 1996, 3177, 3179; s. auch ders. VersR 1996, 1194, 1198 und Schmitt aaO § 104 Rn. 19). Die Haftungsbeschränkung des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII greift damit durch.
Unterschriften
Rinne, Streck, Schlick, Kapsa, Galke
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 12.10.2000 durch Fitterer Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 556246 |
BGHZ |
BGHZ, 311 |
NJW 2001, 442 |
BGHR |
NVwZ 2001, 352 |
Nachschlagewerk BGH |
ZAP 2000, 1446 |
DAR 2001, 32 |
MDR 2001, 331 |
NJ 2001, 42 |
NZV 2001, 74 |
VRS 2000, 414 |
VR 2001, 251 |
VersR 2001, 335 |
DVBl. 2001, 77 |
FSt 2001, 673 |